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Rezension zu
Schnelles Lesen, langsames Lesen

Die Zukunft des Lesens

Von: Henzler, Harald
01.12.2019

Eine der häufig diskutierten Fragen zur Zeit ist die nach der Zukunft des Lesens. Verdummen wir, weil wir uns nicht mehr die Zeit nehmen, vertiefend auch Gedrucktes in Ruhe zu lesen? Oder hält uns das Gedruckte dabei auf, das Neue zu begreifen und teil an der Welt zu nehmen? Damit gehen zahlreiche Fragen einher, die sich nicht so einfach beantworten lassen. Über die Auseinandersetzung mit Maryanne Wolfs Buch “Schnelles lesen, langsames lesen” wollen wir uns in mehreren Artikeln dem Thema nähern. Im Folgenden werden die Thesen von Wolf ausführlich vorgestellt. Auf den ersten Blick reiht sich Maryanne Wolf in die medienwirksame Kulturkritik eines Neil Postman und seiner Vorläufer ein. Diese Kulturpessimisten sehen in der langen Tradition von Spengler über die Frankfurter Schule den Untergang des Abendlandes, weil die Bilderflut nur der Unterhaltung diene. Schon im Untertitel “Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen” ist Programm. Aber es wäre zu leicht, wollte man diese kritischen Töne einfach als Weigerung gegenüber dem Wandel betrachten. Denn Wolf hat wohl auch Benjamin, McLuhan oder Luhmann gelesen: Sie will die Bedingungen neuer Medien genau betrachten in ihrer Wirkung auf die Gesellschaft und plädiert für ein abgewogenes Verhältnis zweier Systeme des Lesens. Die zentrale Fragestellung Maryanne Wolfs ist, ob sich durch die Digitalisierung unser Wissen verändert und wir dabei Gefahr laufen, wichtige Errungenschaften unserer Kultur aufs Spiel zu setzen. Das Thema ist allgegenwärtig, von der Diskussion um die Geschenkaktion von Märchenbücher über Amazon bis zur Gestaltung neuer Lehrpläne angesichts der Digitalisierung an den Schulen (wir berichteten über die Anforderungen an Lesekompetenzen von Schülern). Gerhard Lauer weist in seinen Interviews, auf den Buchtagen und in seinen Veröffentlichungen darauf hin, dass Lesen nicht gleich Lesen ist und der Kontext und die Haltung entscheidende Faktoren sind, Kathrin Passig skizziert die Veränderungen des Schreibens im digitalen Raum und Hans-Georg Häusel verweist darauf, dass digitale Geräte “den Affen in uns hervorlocken”: Bisher sind wir so konditioniert, dass wir ständig etwas Neues entdecken wollen und der “novelty bias” zuschlägt – Neues schlägt Bekanntes. Offen ist, ob wir in Zukunft digitale Geräte auch zu nutzen lernen, ohne dauernd unkonzentriert in die Neuigkeitsfalle zu tappen. Beim Fernsehen ist das so passiert. Streamingdienste und der second screen befriedigen das Bedürfnis nach Neuem, das Fernsehen, lange Zeit das prägende Suchtmedium für Bilderjunkies, wird verdrängt. Und E-Reader wurden zu Beginn von “Experten” der digitalen Szene belächelt, weil sie so weit hinter den Möglichkeiten digitaler Geräte zurückbleiben. Mittlerweile haben sie ihre Nische besetzt, in der Zusatznutzen wie schnelle Bestellmöglichkeit, Wörterbücher, Karteikarten oder Notizfunktionen auch gut einsetzbar sind. Das heißt wir haben allein in den letzten zehn Jahren eine Veränderung von Lesegewohnheiten erlebt, die es uns schwer machen, DAS Digitale zu erfassen und Rückschlüsse zu ziehen. Die Nutzung des Digitalen verändert sich ständig. (Bild: Installation von Jenny Holzer, Guggenheim Bilbao) Maryanne Wolf verfügt als Forscherin und Professorin über ein breites Wissen in Literatur- und Kognitionswissenschaften und hat sich mit Sprach- und Leseschwächen genauso befasst wie mit den neurologischen Vorgängen beim Lesen. In Ihrem Buch spricht sie in neun Briefen zu ihren Lesern und wählt damit eine literarische Form der Ansprache, in die sie ihre Argumente in populärwissenschaftlicher Art kleidet. Positiv hervorzuheben ist die forschende und fragende Haltung, mit der sich Wolf dem Thema nähert. Sie argumentiert nicht ideologisch und versucht die vielen Forschungsergebnisse kritisch zu beleuchten, ohne zu verfälschen. Lesen als Haltung zum Leben Wolf geht von einem umfassenden Verständnis von Lesen aus. Es ist für sie „ein Fundament für jene spezielle Form von unabhängigem Geistesleben (…), das sie [die künftigen Generationen] für eine Welt brauchen werden, die sich bisher niemand von uns voll und ganz ausmalen kann.“ (Seite 24). Lesen wird als Dialog mit dem Autor betrachtet, in dem sich der Lesende seiner Gedanken bewusst wird. Das Buch ist für sie eine Format, der dies ermöglicht. Und die erste Frage ist hierbei, ob es dafür nicht bessere Formate gibt als das Buch. Der von ihr zitierte Sokrates hielt in diesem Punkt die Schrift für das falsche Medium. „Oberstes Ziel beim Verfassen dieser Briefe war es, dass sie ein Ort werden mögen, an denen meine besten Gedanken mit den Ihren aufeinandertreffen, hin und wieder auch kollidieren und einander dabei zu größerer Schärfe schleifen.“ (Seite 25). Das plastische Gehirn ermöglicht sogar das Lesen Als Ausgangspunkt führt Wolf die Untersuchungen verschiedenster Neurowissenschaftler auf, die die Fähigkeit des menschlichen Gehirns untersucht haben. Wesentlich ist für sie das Potential des Gehirns („die neuronale Plastizität“, Seite 31), immer neue Schaltkreise zu erschaffen und damit dem Menschen zu Fähigkeiten zu verhelfen, die nicht angeboren sind. Das Lesen gehört im Gegensatz zum Sprechen auch dazu. Das wird sofort verständlich, wenn man bedenkt, dass das Lesen als Kulturtechnik keine sechstausend Jahre alt ist, lange nur von Spezialisten gepflegt wurde und auch heute nicht von allen beherrscht wird. Deshalb ist die Frage, ob und wie wir künftig lesen wollen und werden, eine Frage der Bildung unserer Gesellschaft. Eltern wie Pädagogen, Schulen wie Ausbildungsstätten müssen sich damit befassen. Um lesen zu können, müssen im Gehirn mehrere Schaltkreise in Höchstgeschwindigkeit zusammenarbeiten: Sehen, Hören und Sprechen. Das ist alles andere als trivial, vor allem, wenn man die Geschwindigkeit bedenkt, in der das geschieht. In einem Schaubild beschreibt Wolf anschaulich, welche Aktionen beim Lesen im Gehirn miteinander verknüpft werden (Seite 34 ff). Das Gehirn koordiniert dabei nicht nur Sehen, Hören und Sprechen, es antizipiert mögliche Lösungen wie ein Hochleistungsrechner und es verknüpft diese mit Erfahrungen und Erlebnissen. Die Fähigkeit der Verknüpfung weitreichender Assoziationen aus der Vergangenheit und das Aufnehmen von Neuem ist dabei eine zentrale Fähigkeit. Sie führt dazu, dass der Leser beim Wort „Schienen“ sein bisher dazu gespeichertes Wissen abrufen und dies im angebotenen Kontext der Lektüre neu verorten kann. Der Lesende lernt durch diese Verknüpfung von Neuem und Bekanntem. Dass dabei die Prognose meistens der Wahrnehmung vorauseilt (Seite 53) führt dazu, dass wir häufig das lesen, was wir lesen wollen: Unser Geist rechnet Wahrscheinlichkeiten hoch, um schneller lesen zu können und arbeitet mit einer Art Pareto-Prinzip, nach dem nicht Zeichen für Zeichen einzeln buchstabiert werden muss, sondern aus der Erfahrung mögliche Wörter und Kombinationen hochgerechnet werden können. Das zeigt sich z.B. daran. dass wir meistens schlechte Korrekturleser sind, weil wir die Fehler im wahrsten Sinne des Wortes „über-lesen“. Sie halten uns auf beim schnellen Verstehen. Lesen bildet und erschafft Wenn wir jedoch Zeit mitbringen für das Lesen, so sind wir nicht nur in der Lage, Fehler besser zu erkenne, wir können auch die vielfältigen Bedeutungen eines Textes erfassen. Hemingways berühmter „Sechs-Worte-Roman“ („For sale: baby shoes, never worn.“, Seite 59) dient hier als plastisches Beispiel für die Fähigkeit, nicht nur die Wörter zu verstehen, sondern empathisch auch den Absender zu verstehen, d.h. hier das Leid der Eltern zu empfinden. Lesen ist für Wolf die Fähigkeit, sich in die Gedanken und die Weltsicht anderer zu versetzen, mitzufühlen und daraus zu lernen. „Mitgefühl bedeutet Wissen und Fühlen in einem.“ (Seite 73). Spiegelneuronen ermöglichen dies und das geht soweit, dass das Mitfühlen auch im Gehirn dieselben Areale anspricht, die auch beim eigenen, realen Erleben angesprochen werden. (Sportler machen sich diese Fähigkeit beim Training zunutze, indem sie eine Rennstrecke, eine Situation, einen Bewegungsablauf im Geiste trainieren.) Das „Nachfühlen“ gelingt aber nur, wenn sich der Lesende Zeit dafür nimmt (Seite 71). Das korreliert mit psychologischen Tests, die nahelegen, dass sich der Mensch immer schnell orientiert an seiner Umgebung und sich darin die sucht, die ihm nahestehen – und sich von denen abgrenzt, die anders sind. Wenn sich der Mensch empathisch verhalten soll, braucht er in der Regel Zeit, um sich mit dem Neuen vertraut zu machen. Angeboren scheint ein dauerndes Changieren des Geistes zwischen „ich suche das Vertraute“ und „ich möchte mich weiterentwickeln und suche Neues“. Die Bestätigung der eigenen Identität erfolgt durch das Nachlesen von dem, was einem vertraut ist. Das Lernen erfolgt durch die Konfrontation mit einer anderen Sicht auf die Welt. Das vertiefende Lesen ist für Wolf in diesem Punkt zugleich ein schöpferischer Vorgang (Seite 86 ff), „ein Moment intensivster Aktivität“ (Seite 90) mit der „unsichtbare(n) Gegenwart des Geistes, der hinter, in und zwischen den Worten liest.“ (ebda.) Die Frage ist jetzt, ob das „Nachfühlen“ nur dann funktioniert, wenn man sich Zeit nimmt. Der von Wolf zitierte Kurzroman Hemingways ist selbst das beste Beispiel. Intention und Haltung entscheiden über die Wahrnehmung wahrscheinlich stärker als das Medium selbst. Anders gesprochen: Wenn ich nach einer Bestätigung für meine Fremdenfeindlichkeit suche, dann werde ich in den sozialen Netzwerken der AfD genauso wie in Hitlers „Mein Kampf“ fündig, suche ich nach Toleranz, so stehen mit entsprechende andere Bücher, Blogs oder Podcasts zur Verfügung. Das Medium macht noch nicht den Unterschied. Die Frage ist, ob ich mich bei Neuem in einen Zustand der wohlwollenden Empathie versetzen muss, um in Ruhe etwas aufzunehmen? Die Vermutung liegt nahe, dass die Haltung die Wahrnehmung prägt (dies werden wir in einem der nächsten Artikel vertiefen). Die Konditionierung auf das Neue Das Neue schlägt das Alte: Neue Reize erfordern unsere Aufmerksamkeit, während das Bekannte dann schnell verschwindet. Das ist ein wichtiger Überlebensvorteil in der Evolution unserer Wahrnehmung. Würden wir im Wald nicht dem plötzlichen Zischen einer Schlange mehr Gewicht geben als den hinter uns liegenden Beeren, hätten wir nicht überlebt. Beim Lesen ist das nicht nur von Vorteil, weil der novelty bias uns süchtig machen kann nach einem immer „schneller, höher, weiter“, einem Wettlauf mit der nächsten, neuen Nachricht. Genau dies spiegelt sich in aktuellen Diskussionen um den Wert von YouTube für das Lernen von Schülern nieder (siehe z.B. SZ vom 4.6.2019): YouTube verführt die Schüler dazu, noch schnell auch etwas anderes zu sehen, um die Werbeeinnahmen zu steigern durch die höhere Verweildauer. Digitale Medien bieten in der Regel mehr als „nur“ eine Information, sondern mit einem Click schon die nächste spannende Nachricht, die Schlange im Gebüsch. Wir nehmen durch die Fülle neuer Informationen in immer kürzeren Abständen immer mehr Informationen auf (Seite 97 ff werden Studien hierzu zitiert). Das liegt an den verschiedensten Trägermedien und dem Zugang zu Informationen. Mit Walter Benjamin macht Wolf die Unterscheidung zwischen Information als „mit dem Geist des Erzählens unvereinbar“ (Seite 99) und Wissen als der Fähigkeit, sich kritisch und empathisch mit Texten auseinanderzusetzen. Eine Reihe von Untersuchungen (Seite 103 ff) lassen vermuten, dass beim Lesen mit digitalen Geräten die Schnelligkeit Trumpf ist, was zu Lasten der Genauigkeit und des Erinnerns führt. Die Verortung von Informationen in Raum und Zeit scheint bedeutend zu sein für das Behalten und Verstehen (siehe Seite 105 ff). Auch das ist natürlich verständlich, denn zu wissen, wie weit die Schlange weg ist, hilft beim Überleben, ebenso wie das Wissen, wann die letzte Schlange an derselben Stelle gesichtet wurde. Wir ordnen Wissen immer nach Ort und Zeit ein. Das zeigt sich z.B. bei Mnemotechniken, bei denen die Vorstellungskraft oder die Abfolge zentrale Elemente der Methode sind. Was heißt das für das Lesen? Diese Orientierung erfolgt bei digitalem Lesen nach aktuellem Stand anders als beim Lesen von Gedruckten. Das hat damit zu tun, dass der virtuelle Raum nach aktuellen Erfahrungen anders bewohnt wird. Bücher sind durch die Verortung natürlich schnell und einfach zu verstehen. Unsere Auflistung der Vorteile des Gedruckten in einem Blogbeitrag von 2011 zeigt dies. „Das Buch liegt in der Hand und der Leser besitzt es. Das Buch riecht und lässt sich befühlen. Das Buch sagt sofort, wie lange man wohl zum Lesen brauchen wird. Das Buch setzt einen nicht unter Strom, will den Leser nicht ablenken und sagt nur: Lies mich! Und nichts anderes. Das Buch ist einzigartig und man hat es immer nur an einen Ort der Welt verlegt. Das Buch lässt sich nach dem Lesen zuklappen. Kurzum, das Buch gibt mir die Herrschaft über meine Zeit, gibt mir Besitz, gibt mir einen Anfang und ein Ende.“ Das „mentale Set“ ermöglicht uns, all unser Verhalten so auf das Umfeld auszurichten, dass es passgenau ist. Wolf befürchtet, dass der häufige Gebrauch digitaler Medien uns dazu führt, auch das Gedruckte (stellvertretend für das vertiefende Lesen) nur noch oberflächlich zu lesen (Seite 106 ff). Die berühmte Millersche Zahl, „die Regel nämlich, dass ein Mensch nicht mehr als sieben plus/minus zwei Informationseinheiten in seinem Arbeitsgedächtnis vorhalten kann“ (Seite 107), habe sich auf vier reduziert (Seite 108), so wie auch die Aufmerksamkeitsspanne verringert worden sei. Zahlreiche empirische Beobachtungen, eigene wie fremde, führen bei Wolf zu der These, dass die Jugend nicht mehr aufmerksam lesen könne, nicht mehr die Geduld aufbringe für eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Text – und damit die Fähigkeit verliere, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und sich anzueignen. Im Selbstexperiment erkennt sie bei sich, dass die einstmals geliebte Lektüre von Hesses „Glasperlenspiel“ nicht mehr so gelinge wie früher und erst ein Training vonnöten war, um wieder die vertiefende Lektüre zu ermöglichen. Die Verführung zur Sucht Die Befürchtung ist, dass wir zwar schneller zwischen den Medien wechseln können, sich aber unser Arbeitsspeicher verkleinert, weil wir die Informationen nicht behalten müssen, sondern überall schnell abrufen können (S.157f). Was wir an Methodenkompetenz gewinnen (S. 147), das verlieren wir an Speicherkompetenz (S. 148 f, S. 155). Wenn sich unser Arbeitsspeicher verkleinert, besteht die Gefahr, dass eine passive Haltung zum Wissenserwerb wichtige Fähigkeiten wie Empathie, Perspektivwechsel oder kritische Analyse verkümmern lässt (S. 159; wobei kaum anzunehmen ist, dass sich der Arbeitsspeicher verkleinert durch zu viel Informationen, denn solange das Gehirn in Bewegung ist, wird es trainiert – die Frage ist eher: worauf wird es trainiert). Empirisch erhält diese Beobachtung natürlich einen Beleg, weil die Prinzipien des „Persuasive Designs“ (S. 162f) darauf aus sind, die Nutzer digitaler Medien bestmöglich zu belohnen. Hier zeigt sich die Kehrseite der digitalen Medien als Datenfänger. Anbieter digitaler Medien können sehr schnell erkennen, was die Kunden interessiert und wie sie zu locken sind. Digitale Medien können süchtig machen, weil die „novelty bias“ zur Abhängigkeit von immer neuen Reizen führt, die die Anbieter digitaler Medien genauer als bisher auch produzieren können. Die Aussicht auf Belohnung wird zwar aus statistischen Verfahren abgeleitet, zeigt aber trotzdem seine Wirkung, denn sowohl das eigene wie auch das fremde Verhalten wird in Korrelation gebracht und führt deshalb viel häufiger zum Erfolg als bisherige Verfahren. Und dass dabei die im Vorteil sind, die moralisch weniger Bedenken haben, das zeigt sich laufend, allein an den Skandalen um Cambridge Analytica und Fake News oder der Beeinflussung von Daten bei Google und Co. Dadurch fehlt die Zeit für Reflexion und die Entwicklung eigener, kreativer Vorstellungen. Das Arbeitsgedächtnis wird geschwächt und damit auch die Fähigkeit, den eigenen Schaltkreis gut zu entwickeln. Die Abhängigkeit von Antworten aus dem Netz verstärkt den Effekt, dass Wissen nicht behalten werden muss. Die Gegenmaßnahmen und der Fahrplan für die Bildung Unumstritten ist, dass das frühe Vorlesen von Büchern die Sprachentwicklung des Kindes positiv beeinflusst (S. 167 ff, siehe auch unseren älteren Beitrag hierzu). Die gemeinsame Aufmerksamkeit auf Sprache und Geschichten bildet. In welchem Verhältnis hier die Sprache als Kommunikationsmittel und als Weg zur Wirklichkeit stehen ist nicht klar: Lernt das Kind eher, weil ihm ein Erwachsener so viel Aufmerksamkeit und Nähe schenkt oder weil die Sprache und die Geschichte ein Bild der Welt vermittelt? Fakt ist, dass die persönliche Nähe ein entscheidender Faktor ist: Die rein digitale Vermittlung durch Medien hat weniger Effekt (S. 171 f). Dabei ist für Wolf das Gedruckte besser als digitale Geräte, denn sie sind körperlich anders erfahrbar und bieten die Wiederholung an (S. 170 f). Die sensomotorischen Verknüpfungen erhöhen den Erfolg, denn kognitive Fähigkeiten werden verstärkt, wenn Reize des Fühlens ebenfalls angesprochen werden. Deshalb empfiehlt Wolf, dass Medien in den ersten zwei Jahren „nie und nimmer als Belohnung eingesetzt“ werden (S. 173). Und auch zwischen zwei und fünf Jahren sollte man den Kindern „helfen, solche Medien genau wie das Fernsehen als lediglich einen kleinen Teil ihrer Umwelt zu betrachten, aber nicht als etwas, auf das man sich in jedem sich bietenden freien Augenblick seiner ohnehin schon vollgestopften Zeit stürzt“ (S. 181). Denn die spielerische Entdeckung von neuen Wörtern durch Bücher (der Wortschatz von Eltern ist viel begrenzter, S. 178 f), Phonemen, einer eigenen Sprache und dem Gefühl für Rhythmik und Bewegung der Sprache brauchen Raum und Zeit. Wolf schließt aber den sinnvollen Gebrauch digitaler Medien nicht aus, sondern gibt Hinweise für einen sinnvollen Einsatz, der aber nur in Ausnahmefällen über zwei Stunden am Tag gehen soll (S. 182ff). Besonderes Augenmerk legt Wolf auf die verschiedensten Programme, die das Lesenlernen in den Schulen fördert. Dabei soll auf die verschiedenen Fähigkeiten der Kinder eingegangen werden und es haben sich in den Forschungen sechs Profile in drei Bereichen erkennen lassen (S. 197 ff): Es gibt gute Leser, Leser mit Nachholbedarf in einzelnen Bereichen und Leser mit besonderen Schwächen. Die synthetische Methode (= die Grundprinzipien des Buchstabierens und Entzifferns werden geschult) soll dabei genauso wie der ganzheitliche Ansatz verfolgt werden, bei dem die Lust an der Geschichte die Eigeninitiative fördert (S. 202 ff). Dies ist deshalb von Bedeutung, weil das vertiefende Lesen immer eine Verknüpfung von wissen + lesen + empfinden + denken ist, um dann gestalten zu können (S.207). Als Ziel sieht Wolf junge Menschen, die zwischen den Medien hin- und herwechseln können, so wie mehrsprachig aufwachsende Kinder. Der Erwerb von Wissen, die Unterhaltung und die Reflektion sollen so gefördert werden (S. 239). Das Buch ist gerade heute ein Zufluchtsort für diese Vertiefung (S. 249) und fördert moralisches Handeln (S. 252), weil es das gemeinsame Gewissen spiegelt. Dabei werden die Medien zunächst getrennt beim Kleinkind, um später zunehmend verwoben zu werden (S. 217). Das Gedruckte soll in den Grundschulen seinen Platz als Hauptmedium zum Lesenlernen behalten (S. 218), so wie das handschriftliche Schreiben auch (S. 219). Die digitalen Medien müssen ebenfalls in ihrem Umgang erlernt und geübt werden. Dabei sind die drei größten Herausforderungen das genaue Wissen über die wirklichen Wirkungsweisen der verschiedenen Medien, die richtige Ausbildung der Lehrkräfte und die flächendeckende, gleichmäßige Versorgung aller mit der nötigen Infrastruktur (S. 226ff). Einige kritische Punkte wollen wir in weiteren Artikeln beleuchten: – Führt das vertiefende Lesen von (gedruckten) Büchern zu einer besseren Gesellschaft? – Ist das Lesen von Gedrucktem wirklich besser für ein emphatisches Verständnis der Welt? – Verdummt die Jugend, weil sie komplexe Zusammenhänge nicht mehr versteht?

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