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Rezension zu
Erst die Fakten, dann die Moral

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Erst das Fressen dann die Moral? Brecht für Wohlstandsgesellschaften

Von: Thursdaynext
03.10.2019

Boris Palmer hat wieder einmal einen provokativen Titel auf dem Cover seines neuen Buches. Das generiert Aufmerksamkeit und löst Empörung aus. Mit Empörung und Shitstorms ist der Tübinger Oberbürgermeister – oft bewusst, manchmal überrascht – bestens vertraut. Mich erinnert er ein wenig an Sheldon Cooper aus der Serie Big Bang Theorie. Hochintelligent, aber wenig Cleverness im Umgang mit den Gefühlen seiner Mitmenschen. Dabei hat er durchaus interessante und wichtige Themen und seine Gedanken dazu sind solide und gesellschaftlich relevant, wenn auch nicht neu. So, wie sein letztes Buch „Wir können nicht alle retten“. Nur stößt leider die Art der Darbietung, seiner Ideen und Gedanken bei etlichen Menschen auf Unwillen, löst Ärger und Wut aus. Aufmerksamkeit alleine generiert noch kein Verstehen bei den Mitmenschen, ein wenig Diplomatie und Nachdenken über das, was man beim Empfänger durch das Gesagte auslöst, ist angebracht. Hier tritt Palmers Dilemma zutage, wie er es selbst beschreibt: „Ich muss zugeben, dass es mir immer wieder schwerfällt, diese Strategie zu nutzen. Es widerstrebt mir, weil es mir so vorkommt, als müsste ich mich zuerst anbiedern, bevor ich ein Sachargument vortragen darf.“ Wie Sheldon überschätzt er, ausgehend von seiner Denkweise, die Fähigkeiten seiner Zuhörerschaft bezüglich rein rationalen Denkens. Das ist edel, ehrlich, unklug und nicht zielführend. Laut seiner Aussage schafft er es, sich „an besseren Tagen“ die Aussage seines ehemaligen Münchner OB-Kollegen Christian Ude zu eigen zu machen: „Der Politiker muss auch atmosphärisch verstanden werden“. Ich kann Palmer gut verstehen, mir ist es ebenfalls zuwider, Fakten schöner verpackt zu präsentieren, besonders, weil ich es in meinem Beruf oft erlebe, dass die Leute sie dann entweder nicht aufnehmen können, weil ihr Verdrängungsmechanismus bereits auf Hochtouren läuft oder schlicht nicht intelligent genug sind, den Subtext zu entnehmen und zu verstehen. Hier hilft nur wiederholtes Gespräch, Fakten auf den Tisch, freundlich aber insistierend. Manchmal bleibt nur, die Leute gegen die Wand rennen zu lassen. Dazu gehören Frustrationstoleranz und Geduld! Palmer behandelt informativ und anschaulich die Themen, die ihm am Herzen liegen. Bezahlbares Wohnen, Luftreinhaltung, Dieselfahrverbote, CO2, das Gemeinwohl. Er schaut sich die Ausgangslage an, wägt ab, schließlich ist er Mathematiker, fähig zu rechnen, wissenschaftlich solide abzuwägen und kann aus seinen Erfahrungen im Betrieb einer mittelgroßen deutschen Stadt schöpfen, die eine glänzende Umweltbilanz vorweisen kann, seit er 2007 dort den Chefsessel innehat. Das liest sich zwar trocken, dennoch spannend, wenn er die Grabenkämpfe schildert, die er zum Beispiel mit der Bürgerinitiative Au-Brunnen zwecks Ausweisung eines neuen Gewerbegebietes in Tübingen ausfocht. Hier war die Faktenlage klar, doch die Stadt musste zurückrudern und gutes Ackerland bebauen, da die Bürgerschaft derart emotional reagierte, dass eine Bebauung auf der infrastrukturell, ökologisch und ökonomisch am sinnigsten, günstigsten Fläche nicht durchzusetzen war. Die Energiewende wird ebenfalls aufgehalten durch sogenannte „Nimbys“ (Not in my backyard), so der Autor. Menschen, die die schöne Aussicht auf die Schwäbische Alb nicht zugunsten des Gemeinwohls aufgeben wollen, Windkraft die abgelehnt wird, weil sie angeblich und vorgeschoben unzählige Tiere tötet, wobei völlig außer Acht gelassen wird, dass dem Straßenverkehr eine Unzahl mehr Milane und andere Lebewesen zum Opfer fallen, als dieser Art der sauberen Energiegewinnung. Es ist aufschlussreich und anschaulich, wie Palmer hier ins Detail geht und rechnet. Immer wieder geht es um Emotionen, Begehrlichkeiten, Eigennutz und Unwissen, das die Tatsachen blind und aggressiv ignoriert und die Weiterentwicklung in zukunftsträchtige Maßnahmen stört und ausbremst. Wer wissen möchte, wie Bürokraten und Brandschutzvorgaben jenseits des gesunden Menschenverstandes die Sicherheit ungeachtet etwaiger Wahrscheinlichkeiten zu Lasten der Bevölkerung überhöhen, liest hier auch richtig. Immer wieder verweist der Autor auf die von ihm geschätzten Fakten, die oft außen vor bleiben, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, da hier Subjektivität und Emotionalität die Entscheidungen letztendlich treffen. Auch das Beispiel Stuttgart 21 untermauert diese Thesen Palmers bestens. Das Kapitel 6: „Sicherheit ist subjektiv: Gefühle und Fakten im Widerstreit“, wird ihn bei den Linken und Grünen erneut unbeliebt machen, dabei wäre es immens wichtig, sie würden gerade dieses besonders aufmerksam und vor allem open minded lesen. Schockiert hat mich das 7. Kapitel „Affentheater: Wenn Menschen zu Bestien werden“. Die Auseinandersetzung um die Tierversuche am Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik habe ich angewidert aus naher Entfernung (ich wohne ca. 30 min entfernt von Tübingen) mitbekommen. Eine journalistische Fehlleistung von Stern-TV, die ich eigentlich nur der Zeitung mit der besonders großen Schrift zugetraut hätte. Hier Palmers Sichtweise, die ich teile, und den Bericht über den körperlichen Angriff auf ihn zu lesen, macht einen betroffen und nachdenklich. Es gibt viele lesenswerte Schilderungen, Ideen zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen, einzig im Kapitel 9, Empört euch! Aber werdet nicht intolerant in dem sich der Autor mit Empörungswellen, Shitstorms und der jeweiligen Sau die grad durchs Dorf getrieben wird, sowie dem Umgang von Menschen im Netz befasst. Was er über die Intoleranz auch der Linken schreibt, halte ich für durchaus erwähnens- und bedenkenswert. „Die Ironie der Geschichte, das ausgerechnet wir heute dazu beitragen, ein repressives Meinungsklima zu schaffen, erklärt sich wohl daraus, dass die Vertreter der Identitätspolitik glauben, im Kampf für die Rechte von Minderheiten gälten die normalen Spielregeln des Diskurses nicht mehr.“ Hier sollten Grüne, Linke, Liberale Minderheiten und Majoritäten mal tieeeef durchatmen und in sich gehen!!! Ommmmmm Irritiert hat mich der Shistsorm um eine Anzeige der Deutschen Bahn. Die DB hat zu Werbezwecken ein Photo von Bahnnutzern veröffentlicht. Palmer missfiel, dass diese alle, für ihn augenscheinlich, Migrationshintergrund hatten. Er kritisierte öffentlich die Auswahl der DB und erkundigte sich via Facebook: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“. Ich hab mir die Bilder angeschaut. Mir wäre es ohne diesen Einwurf nicht präsent gewesen, dass die gezeigten Menschen nicht unsere Gesellschaft abbilden. Um es klar zu sagen: Ich halte Boris Palmer nicht für einen Rassisten, aber ich kann auch nicht nachvollziehen, was ihn veranlasst hat, einen Post abzusetzen, der genau diese Einschätzung stärkt, indem er sich gestört zeigt, von Werbung, die keine Biodeutschen (tatsächlich zeigt sie diese) zeigt. Die Erklärung seinerseits, u. a. „umgekehrter Rassismus“ war für mich nicht nachvollziehbar. Es gibt keine Rassen, es gibt nur Menschen, mit verschiedenen Hauttönungen. Statt sich hier in diffusen Erklärungsversuchen abzuarbeiten die auch „alte weiße Männer“ beinhalten, wären mir die Themen soziale Gerechtigkeit, Verknüpfungen der Wirtschaft, des Marktes und der Konzerne die unsere Gesellschaft beeinträchtigen und unsere Demokratie und Zukunft durch Lobbyarbeit gefährden – wie Palmer es am Ende des Buches in den kurz zusammengefassten „10 Thesen über Politik und Wirklichkeit“ sehr gut und knackig auf den Punkt bringt – sympathischer und sinniger erschienen. Speziell These 9: „Für wirtschaftliche Interessen können Fakten ein Störfaktor sein“ hängt meiner Ansicht nach ursächlich zusammen mit These 8: „Empörungskultur und Identitätspolitik lenken von den wichtigen Problemen ab.“ Hier könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen, beide bedingen sich gegenseitig, ebenso wie etliche der anderen Thesen. Es ist die Wechselwirkung aus all diesen richtigen und wichtigen Themen, die unserer Gesellschaft schaden. Das ist auch mein größter Kritikpunkt, abgesehen von den fehlenden Quellenangaben. Politische Lösungsansätze werden nicht dargelegt. Die darf sich die geneigte Leserin selbst erarbeiten. Individuell in etlichen Bereichen sicher machbar, wenn der Wille vorhanden ist, wovon ausgegangen werden kann, wenn Mensch sich mit Sachbüchern, deren Untertitel lautet: „Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“, befasst. Doch wie Politiker auf Bundesebene nun faktenbasiert arbeiten sollen, wenn teuer in Auftrag gegebene Studien die Konzernen und Wirtschaft unliebsam sein könnten – aktuelles Beispiel Frau Klöckner und die Lebensmittelampel – ignoriert und nicht veröffentlicht werden, oder die Klage der EU wegen der Nitratbelastung des Grundwassers nur halbherzig und nicht ausreichend umgesetzt wird. Wie können die Regierenden dazu gebracht werden, faktenbasierte Arbeit abzuliefern und ordentlich zu verkaufen, obwohl sie doch gerne wiedergewählt und mit Spenden bedacht werden wollen; hierfür hat Boris Palmer leider keine Strategien. Dennoch halte ich „Erst die Fakten, dann die Moral“ für ein in großen Teilen lesens – und bedenkenswertes Buch. Wenn auch mit zu hinterfragendem Titel, der Untertitel „Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“ ist wesentlich treffender, wenn auch nicht derart aufmerksamkeitsgenerierend. Moral kann, nein, muss und sollte faktenbasiert sein, besonders in einem Land wie unserem, in welchem wir uns ohne Not zu leiden eine ethische und moralische Grundhaltung leisten können. Die Frage ist nur, wie lange noch, wenn wir zulassen, dass die Gesellschaft gespalten wird durch erstarkende Populisten, Konzerninteressen, Faschisten, Flacherdler und Rassisten, die unsere Demokratie gefährden. Eine Antwort darauf hat Boris Palmer leider nicht.

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