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Rezension zu
Mittagsstunde

Die Welt geht unter - ein Jahreshighlight!

Von: MINT & MALVE
20.09.2019

Dörte Hansen liefert mit ihrem zweiten Roman "Mittagsstunde" eines der Lesehighlights 2018. Das Buch ist Familienroman, Heimatroman und Gesellschaftskritik zugleich. Mich hat es vor allem sprachlich überzeugt. "De Welt geiht ünner", sagt Marret Feddersen immer wieder. Marret ist etwas wirr im Kopf, die obligate Dorfverrückte, die überall Zeichen für den Untergang der Welt zu sehen meint. Und ein Stück weit hat sie recht. Zumindest steht das fiktive Dorf Brinkebüll in Nordfriesland vor grossen Veränderungen. Da wären die grosse Flurbereinigung, die moderne Technik, die die Landwirtschaft umstrukturiert, ein neuer Lehrplan - ohne Heimatkunde und Gewalt! -, Neuzuzüger, die keine Ahnung haben vom Landleben - und von der heiligen Mittagsstunde! "Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, was den Menschen hier oben heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde." (S. 22) Drei Generationen Dorfmenschen Marret ist die Tochter von Ella und Sönke Feddersen, den Wirtsleuten von Brinkebüll. Na, zumindest auf dem Papier. Die Flurbereinigung bringt nicht nur dem Dorf eine neue grosse Strasse, eine neue, effizientere Landeinteilung, sondern dank einem der Landvermesser auch ein Kind für Marret. Ingwer wird aber hauptsächlich von seinen Grosseltern aufgezogen. Und dieser Ingwer ist einer der wenigen, der den Absprung aus dem Dorf schafft. Immerhin vorübergehend lebt er in Kiel, in einer Dreier-WG bzw. in einer Dreierbeziehung, ist Professor für Archäologie. Schliesslich zieht es jedoch auch ihn zurück aufs platte Land. Dörte Hansen erzählt die Geschichte eines Dorfes und seiner unausweichlichen Veränderung. Sie tut das in diesem Fall entlang dreier Generationen der Familie Feddersen. Das weitere Personal - der Dorfschullehrer, der Metzger, der Landwirt, die Ladenbesitzerin, der Bäcker, die Stadtmenschen - spielt nur Statistenrollen. Und sie tut es wie bei ihrem Debüt "Altes Land" mit ironischem Blick und viel Sprachgewalt, im positiven Sinne. Den ersten Teil von "Mittagsstunde" habe ich gelesen wie ein Gedicht oder ein Lied. Unglaublich, wie viel Rhythmus Dörte Hansen in einen Text bringen kann und in welch rasantem Takt sie neue Sprachbilder raus haut. Und das Ganze ist immer wieder durchsetzt von plattdeutschen Einschüben, so dass man die windschiefen, verschrobenen, wettergegerbten Menschen direkt vor sich sieht. Und ab und zu darf man auch herzhaft lachen, so skurril und doch so realistisch gebärden sich die Dorfbewohner. "Er hing an diesem rohen, abgewetzten Land, wie man an einem abgeliebten Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, das am Bauch kein Fell mehr hatte. Auch das ein Fall fürs Handschuhfach, Klappe zu und keine Kommentare, besten Dank." (S. 18) Zuhause daheim? Dörte Hansen reiht sich mit ihrem Roman in andere moderne Heimatromane wie Juli Zehs "Unterleuten" oder Kathrin Gerlofs "Nenn mich November" ein. Sie erfindet nichts Neues, erzählt von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die wir Landmenschen auch aus eigener Erfahrung kennen. Sie fokussiert auf zwischenmenschliche Beziehungen, auf Schicksale, wie es sie tatsächlich zu tausenden gibt. Im Literaturclub des Schweizer Fernsehens war man sich denn auch ziemlich uneinig darüber, ob das nun lesenswert oder blutleer und oberflächlich, ja teils sogar kitschig sei. Für Iris Radisch (Der Sog der Heimat, Die Zeit, 21.11.2018) ist "Mittagsstunde" ein Dorfroman, der verlorenes Terrain in der deutschen Provinz neu vermisst. Der Reiz von "Mittagsstunde" liegt für mich neben der Sprache in den fein gearbeiteten Verflechtungen zwischen den Generationen, zwischen den verschiedenen Dorfbewohnern und wie sich uns so mehr und mehr die wahre Geschichte hinter dem Schein des wohlgeordneten, wohlanständigen, über Jahrhunderte eingeübten Dorflebens offenbart. Fazit Mit "Mittagsstunde" liefert uns Dörte Hansen erneut ein Panorama des Dorflebens, geschickt verflochten mit der Geschichte einer Familie, ihren Sorgen und Nöten und ihrem Umgang mit den äusseren Einflüssen - seien dies nun Krieg, Landvermesser oder egozentrische Städter. Sprachlich ist der Roman eine Wucht. Man kann sich so richtig in Hansens Sprachbildern verlieren, die Ironie geniessen und tief in die Gefühlswelt ihrer Protagonisten eintauchen. Ein literarisches Highlight von 2018, das ich nicht nur Landeiern empfehlen kann, sondern auch Stadtmenschen mit Interesse an Dorfgeschichten.

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