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Rezension zu
Eine Odyssee

Eine Odyssee bedeutet sich im Kreis drehen

Von: Stephanie Jaeckel
12.07.2019

Wer gerne zügig von A nach B kommt, sollte dieses Buch nicht lesen. Es empfiehlt sich zudem, das Original von Homer greifbar zu haben – oder zumindest in Erinnerung. Denn die Lektüre von Daniel Mendelsohns Homer-Interpretation samt Familiengeschichte „Eine Odyssee – mein Vater, ein Epos und ich“ verlangt vor allem eins: Geduld. Das Foto zum Beispiel habe ich im Mai gemacht – da dachte ich noch, in spätestens einer Woche einen Beitrag posten zu können… am Ende habe ich gut zwei Monate gebraucht. Zum Glück, um das schon vorweg zu nehmen, denn das Buch entfaltet sehr allmählich seinen Zauber. Wer zu schnell durch ist, mag einen entscheidenden Teil verpassen. Denn alles, was uns in dem Buch von Mendelsohn lesetechnisch begegnet – endlose Abschweifungen, merkwürdiges Mäandern durch die Zeit, kleine Anekdoten, die Begegnung mit viel mehr Menschen, als man sich merken kann oder will, viel verstecktes Gefühl, Unausgesprochenes, das sich erst im Laufe der Zeit als ein wesentliches, scheinbar immer fehlendes Puzzle-Teil entpuppt, Beziehungen, die sich über die Generationen ziehen – alles weist direkt auf das Verständnis von Homers Epos. Und wer das als „aufgebläht“ empfindet (und es gab für mich tatsächlich solche Momente, in denen ich ein paar Seiten lieber hätte überspringen wollen), mag auch mit der Original-Odyssee seine Schwierigkeiten haben. Denn auch hier (oder gerade hier) geht es ums pure Erzählen, nicht aber um die Story, den eigentlichen Plot. Selbst wenn man das von einer Helden-Saga erwarten möchte. Bei beiden ist die Handlung schnell erzählt. Aristoteles schreibt schon vor mehr als 2.000 Jahren eine Zusammenfassung der Odyssee, die jede/n potentielle/n Teilnehmer/in von Monty Pythons „Summarize Proust Challenge“ vor Neid erblassen lässt: „Ein Mann weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, dass Freier seinen Besitz verzehren und sich gegen seinen Sohn verschwören. Nach überstandener stürmischer Reise kehrt er zurück und gibt sich zu erkennen, vernichtet seine Feinde und ist gerettet.“ Bei Mendelsohn geht es noch schneller: Ein Sohn gibt ein Uni-Seminar über Homers Odyssee, sein pensionierter Vater nimmt an dem Seminar teil, gemeinsam machen beide darauf eine 10-tägige Kreuzfahrt in der Ägäis, auf den Spuren Odysseus‘. Was ist die Geschichte eines Menschen im endlos scheinenden Fluss der Zeit? Wie ist er oder sie in die Generationen eingebunden? Wer kann er oder sie ohne die Familien sein? Was geht in einem Menschenleben, was nicht? Ist alles Wiederholung? Wer kann ausbrechen und wohin? Muss ich mich an meinem Vater, an meiner Mutter messen? Bleibt der Sohn eines Helden auf immer ein Looser? Und überhaupt: Was bitteschön ist überhaupt ein Held? – Die Fragen sind zeitlos und drehen sich vermeintlich im Kreis. Auch die Fragen: was bedeutet erzählen? Was ist sagbar (und wie), was lässt sich nur zwischen den Zeilen verteilen? Wie weit kann ich die Erwartungen meines Publikums enttäuschen? Wie schreibe ich nicht elitär, ohne mich darum zu kümmern, ob alle wirklich alles verstehen? – Indem wir Daniel Mendelssohn, einem klugen, zeitgenössischen Alt-Philologen folgen, verstehen wir, dass antike Literatur nichts, aber auch gar nichts Verstaubtes an sich haben muss. Die Fragen sind nämlich längst noch nicht beantwortet, oder besser: Sie beantworten sich für Epochen und Generationen immer wieder aufs Neue. Auch so eine Frage, warum es nach wie vor für Kinder Sinn macht, Latein zu lernen, wird hier anders als verstaubt beantwortet – eine Frage übrigens, die schon John Locke stellte, und die mit der Begründung der Altphilologie als Wissenschaft gekontert wurde. Am Schluss hatte ich öfters Tränen in den Augen. Obwohl ich nichts davon bemerkt hatte, war mir die Familie Mendelsohn ans Herz gewachsen. Wahrscheinlich auch, weil ich bei ihnen – oder in der Erzählung über sie – viel aus meiner eigenen Familie wiederfand, Vergessenes, Unsagbares, aber auch viel Komisches. Ob übrigens Helden weinen sollen oder dürfen, gehört zu den Fragen, die ebenfalls kontrovers – v.a. kontrovers zwischen den Generationen – erörtert werden. Ein Fazit: Es gibt mehr Helden, als wir gemeinhin denken. Ein anderes: Letztlich weiß man nie, wohin Erzählungen führen. Deshalb sollte man vor allem nie aufhören, damit weiter zu machen. Daniel Mendelsohn, Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich, München, Siedler Verlag 2019. Ich danke Random-House für das Rezensionsexemplar.

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