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Rezension zu
Walkaway

Eine bessere Welt

Von: Constanze Matthes
19.11.2018

Utopien werden oft auf ihre spätere Gültigkeit abgeklopft. Was ist von den formulierten Zukunftsideen und -bildern wirklich eingetreten, was wurde vom Menschen technisch realisiert oder ist ohne sein Zutun entstanden. Das macht sie so spannend. Meist warnen sie, meist erzählen sie uns, wie wir auf Katastrophen reagieren. Für das Schreiben und Lesen von Utopien braucht es viel Fantasie, aber vor allem auch ein Verständnis für aktuelle Entwicklungen. Der kanadische Schriftsteller, Blogger und Journalist Cory Doctorow beschreibt in seinem Roman „Walkaway“ eine düstere Vision, allerdings nicht ohne uns Hoffnung auf eine bessere Welt zu geben. Die kommt daher mit einer Gegenbewegung, die der Welt, wie sie ist, eine gründliche Absage erteilt. Die sogenannten Walkaways gehen ihren eigenen Weg – fernab einer Gesellschaft, die vom tiefen Spalt zwischen Arm und Reich, Macht und Ausbeutung, Digitalisierung und Überwachung, Klimawandel und Umweltzerstörung gezeichnet ist und von den Superreichen regiert wird. Auch Seth, Hubert Etcetera, der im Übrigen noch 18 weitere Namen trägt, und Natalie lernen sich auf einer Party in einer der vielen leerstehenden Fabriken kennen. Natalie ist die Tochter eines Superreichen. Als während der Party einer ihrer Freunde stirbt, muss das Trio Hals über Kopf fliehen. Gemeinsam hegen sie den Plan, ein anderes Leben zu führen. Aus einer fixen Idee, sich den Walkaways anzuschließen, entstanden aus Frust und Unzufriedenheit, wird purer Ernst. Sie kehren dem Default, ihrer bekannten Welt, den Rücken und treffen in dem abgelegenen Gasthof „Belt & Braces“ auf Limpopo, einer Frau, die für die Jugendlichen zu einer Mentorin in Sachen Walkaway wird. Denn sie müssen von Gewohnheiten Abschied nehmen und sich mit den Grundsätzen der Bewegung vertraut machen. Es gibt keinen Privatbesitz. Alles was man braucht, wird mittels 3D-Drucker hergestellt. Es gibt kein Belohnungssystem, mit dem man gesellschaftlich wie wirtschaftlich aufsteigt, befördert wird oder einen Rang erhält. Jeder ist gleich in dieser Gemeinschaft, in dieser großen Familie, jeder hat seine Aufgabe. Alle Informationen sind frei zugänglich. Je umfassender die Bewegung wird, sich auf dem Globus weiter ausbreitet und mehr und mehr Anhänger zählt, desto zerstörender sind die Angriffe des Defaults mit Hilfe von Drohnen und Söldnern, die nicht vor fürchtlicher Gewalt und Mord zurückschrecken und die neu geschaffenen Siedlungen in verlassenen Landstrichen und Städten nahezu dem Erdboden gleichmachen. Zugegeben: Es braucht seine Zeit, bis der Leser mit den Protagonisten „warm“ geworden ist und sich in dieser sehr technisierten Welt zurecht gefunden hat. Doctorow, der mit seinem Roman „Little Brother“ bekannt wurde, verwendet eine Reihe Fachbegriffe, die in einem Register am Ende des Bandes erklärt werden. Hat man diesen Punkt erreicht, fasziniert die Story, in einer lebendigen und frischen Sprache erzählt, dank ihrer vielen klugen Ideen und ihrer Spannung ungemein. Gerade als Natalie, die wie so viele Walkaways ihren alten Namen abgelegt hat und sich nunmehr Iceweasel nennt, von ihrem Vater aus der Walkaway-Siedlung bei einem verheerenden Angriff gekidnappt wird und Doctorow damit die Handlung auf mehrere Orte verlagert, entfaltet der bekannte Pageturner-Effekt seine Wirkung, obwohl es innerhalb des Geschehens mehrere, allerdings recht holpriger Zeitsprünge gibt und mir oftmals die bildhaften Beschreibungen von Figuren und Schauplätzen gefehlt haben. Dabei zeichnet sich der Roman – eine ganz eigene Mischung aus Utopie und dystopischen Elementen – durch eine interessante Tiefgründigkeit aus. Wirft das Buch doch neben dem Gedanken zur Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft und die Nützlichkeit jedes Individuums die Frage auf, was nötig wäre, die Welt vom Unheil der Umweltzerstörung und damit auch von der Menschheit per se zu retten. Die Lösung, zu der Doctorow immer wieder zurückkehrt, ist ein Leben ohne Körper, eine Art Unsterblichkeit, um die sich die bahnbrechenden wissenschaftlichen Forschungen der Walkaways drehen. Wie das geschieht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur vielleicht soviel: Es geht um die Trennung von Körper und Bewusstsein. Die Figuren werden schließlich plastischer und für den Leser zugänglicher, wenn ihre Beziehungen und Emotionen dargestellt werden: die enge Freundschaft zwischen Etcetera, Seth und Iceweasel über einen langen Zeitraum, die intensive Liebe zwischen Iceweasel und der älteren Wissenschaftlerin Gretyl. Auch das Tochter-Vater-Verhältnis zwischen Natalie/Iceweasel und Jacob wird mehrmals reflektiert. Dass sich Doctorow, Jahrgang 1971 und weder verwandt und verschwägert mit dem bekannten amerikanischen Autor E.L. Doctorow, eine Welt als Gegenentwurf zum Kapitalismus erschafft, wundert nicht, wenn man einen Blick in dessen Biografie wirft: Seine Eltern waren Anhänger der Lehre Leo Trotzkis. Zudem besuchte er die als anarchistisch geltende SEED School, eine „freie Schule“ in Toronto. Der Kanadier, der mittlerweile mit seiner Familie in Los Angeles lebt, setzt sich ein für eine Liberalisierung des Urheberrechts und Datenschutz. Die Hoffnung von „Walkaway“ gründet sich in der Idee, dass eine bessere Welt durchaus entstehen kann und dass es Menschen gibt, die sich für sie einsetzen. Allerdings benötigt es dafür eine große Gemeinschaft, die dieses gemeinsame Ziel verfolgt. Aber womöglich muss dafür die Zeit reif und aber die Entwicklung der Bewegung wiederum nicht zu spät sein, heißt es doch in einer Passage: „Nichts ist so schwer zu eliminieren wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

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