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SPECIAL zu Keith Richards »Life«

„This is the Life. Believe it or not - I haven't forgotten any of it“

Buchempfehlung von Susanne Niemuth

Ausgerechnet als Keith Richards ein einziges Mal mit Marianne Faithfull im Bett liegt, kommt Mick Jagger überraschend nach Hause, und Keith muss fluchtartig das Schlafzimmer verlassen, wobei er seine Socken vergisst. Aber Mick ist zum Glück „nicht der Typ, der unterm Bett nach Socken sucht“. Solche und andere zum Brüllen komische Kommentare von Keith Richards machen es leicht, seine Autobiografie „Life“ als witzige, grelle, vor Rock‘n‘Roll-Attitüde nur so strotzende Vita zu lesen, sich köstlich zu amüsieren und Antworten auf weltbewegende Fragen zu suchen wie „Die Uschi, der Keith und der Mick – wie war das eigentlich wirklich?“.

Sex and Drugs and British Jokes
Richards, der keinen Hehl daraus macht, dass er in Sachen Sex und vor allem Drugs nichts ausgelassen hat, spielt mit großer Virtuosität auf der Klaviatur der bekannten Rockstar-Klischees und bedient die Erwartungen seines Publikums mit jeder Menge Geschichten über das wilde Leben. Der große Musiker ist auch ein begabter Erzähler, und sein Hang zum Anekdotischen kennzeichnet ihn als Superstar, der die eigene Biografie schon zu Lebzeiten zur Legende macht.

Dichtung und Wahrheit sind dabei nicht immer auseinanderzuhalten, auch für ihn selbst wohl kaum. Trockener Witz und Selbstironie sind stets mit von der Partie, schon im Klappentext, wo er versichert: „This is the Life. Believe it or not - I haven't forgotten any of it“. Ein wenig Sinn für britischen Humor mitbringen sollte man also, wenn man eintaucht in Keefs Welt. Und etwas genauer hinsehen als beim Blättern in der „Bunten“. „Life“ hat nämlich viel mehr zu bieten als laute Sensationsgeschichten und ein bisschen Gestänker über Mick Jagger. Voyeure werden enttäuscht. Dass Keefs Glimmer Twin mit dem übergroßen Ego einen „winzigen Pimmel“ habe, erfahren wir, und dass er laut Richards an unheilbarem „LVS“, Lead Vocalist Syndrome, leide. Hatten wir längst vermutet.

Der Arbeitersohn aus Dartford
Viel aufschlussreicher sind da zum Beispiel die Schilderungen des Moorlands von Dartford im Londoner Osten. Hier wurde Keith Richards am 18. Dezember 1943 geboren, und hier wuchs auch Mick Jagger auf. Tristesse herrschte in der Schuttlandschaft der Nachkriegszeit, und die zahlreichen Irrenhäuser der Stadt, die barbarischen Schuluntersuchungen oder das restlos von Chemikalien verseuchte Flüsschen „mit grün und gelb blubbernder Scheiße“ zeichnen ein trostloses Bild dieser Kindheitswelt. Doch es gab auch die hart arbeitenden Eltern, die ihrem einzigen Sohn ein einfaches, darum aber keineswegs liebloses Zuhause boten. Keiths Großvater Gus hatte eine Squaredance-Band und nahm den Enkel mit auf seine Streifzüge durch die örtlichen Musikaliengeschäfte. Von ihm bekam er seine erste Gitarre. Seine Mutter Doris hörte den ganzen Tag Radio und wäre gern Sängerin geworden. Stattdessen musste sie Waschmaschinen vorführen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, auch wenn sie selbst gar keine besaß. „Sie war meine Mum. (…) Ich erkannte erst viel später, dass sie auch mein Freund war. Sie brachte mich zum Lachen. Immer lief Musik, und ich vermisse sie unendlich.“

Sir Galahad und die Frauen
Frauen, die ihn zum Lachen brachten und Freunde waren, bevorzugte Keef auch später. „Es gibt Nächte, da ist mögen mehr wert als lieben“, heißt es an einer Stelle, und an einer anderen: „Flo hieß sie. Mit der machte ich damals rum, sie kümmerte sich um mich. Liebe? Nein. Aber Respekt.“ In solch beiläufigen Sätzen gibt Richards viel mehr von sich preis als in jeder noch so ausführlichen Schilderung seiner zerstörerischen Junkie-Beziehung mit Anita Pallenberg oder der Liebe zu seiner heutigen Ehefrau Patti Hansen. Über Frauen spricht er fair und mit Achtung.

Ausgerechnet nach Sir Galahad, dem keuschesten der Artus-Ritter, benennt er sein Alter Ego, mit dem er angeblich manchmal gerungen habe. Man möchte es ihm fast glauben. Hier spricht kein Macho, der über seine Abenteuer schwadroniert, keiner, der es – wie gewisse Bandkollegen – nötig gehabt hätte, Strichlisten zu führen. Keith Richards ist ein Mann, der gerne Spaß hat, wenn es sich denn ergibt. Bei einem wie ihm ergibt es sich öfter. Applaus erwartet er dafür nicht.

Biografie eines Blues-Besessenen
Schließlich wäre Richards nicht der, der er ist, und „Life“ wäre nicht wirklich lesenswert, ginge es hier nur um Privates, Affären, Drogenexzesse und die ständige Flucht vor der Justiz. Sein Urteil über Punk ist kein Zufall: „Alles, was die können, ist einen auf Punk machen. (…) Denen ging es gar nicht um Musik, sondern bloß darum, Leute anzurotzen.“ Diese Kritik an der neuen Bewegung, die Mitte der Siebziger rasch am musikalischen Horizont aufstieg, sagt weniger über Punkrock selbst aus als über Richards‘ Einstellung zum Skandal-Image des Rockstars: Was hätte die Attitüde für einen Sinn ohne die Basis, die Essenz, den Dreh- und Angelpunkt, um den alles kreist – verdammt gute Musik? Und so bietet die Autobiografie des großen Rock-Gitarristen ganz nebenbei einen Abriss zur Geschichte des Blues in England. Wie gelangte er überhaupt von den Sümpfen Louisianas ins Vereinigte Königreich? Kein Zweifel: Die Stones hatten maßgeblichen Anteil daran, die Synthese von Blues und Rock'n'Roll geht auf ihr Konto.

Keith Richards beschreibt präzise und mit großem Respekt vor Kollegen und Vorbildern seinen musikalischen Weg. Vom „Urknall“, als er das erste Mal „Heartbreak Hotel“ im Radio hört, von Idolen wie Chuck Berry, Little Richard und Muddy Waters über diverse R&B-Clubs in London wie den von Alexis Korner, wo er Ian Stewart und Charlie Watts begegnet, bis hin zum gemeinsamen Songwriting mit Mick Jagger und dem kometenhaften Aufstieg der Stones: Richards lässt nichts aus, was die Bandgeschichte und seine Entwicklung als Gitarrist betrifft. Auch über die „Wingless Angels“ und die „X-Pensive Winos“ spricht er ausführlich, Bands, mit denen er neue Wege beschreitet, ohne sich dabei untreu zu werden. Hier findet seine Liebe zum Reggae ein Ventil, der natürlich mit dem Blues aufs Engste verbunden ist. Genau wie Keith Richards haben nämlich auch die Jamaikaner ihren musikalischen Stil zunächst durch eines entwickelt: durch ausgiebiges Hören US-amerikanischer Radiosender in den Sechzigern.

Das Wichtigste überhaupt
Und so ist es nicht erstaunlich, dass Keef sich unter Rastafari wie unter Brüdern fühlt, mit denen ihn weit mehr verbindet als intensives Rauchen. Ihre Akzeptanz bedeutet ihm viel. Überhaupt ist neben der Musik die Freundschaft das zentrale Thema seines Lebens, auch und gerade in der großen Enttäuschung, die er über Mick Jagger bekundet. Er sieht das Scheitern ihrer Verbindung sogar als eigenes Versagen. Wie er über Gründungsmitglied Ian Stewart („Für mich sind die Rolling Stones seine Band“) und über Ausnahme-Drummer Charlie Watts („Ohne Charlie hätte ich es nie geschafft, mich zu verbessern und weiterzuentwickeln“) spricht, ist groß. Hochachtung nicht nur vor diesen beiden, sondern vor unzähligen Weggefährten zieht sich durch das gesamte Buch. Kameradschaft nennt der ehemalige Pfadfinder „das Wichtigste überhaupt“. Wen er einmal ins Vertrauen gezogen hat, der muss sich schon sehr übel anstellen, um seine Zuneigung wieder zu verlieren. Kein Wunder, dass Marianne Faithfull ihm bis heute scherzende Postkarten schickt: „Deine Socken hab ich noch immer nicht gefunden.“
Dr. Susanne Niemuth-Engelmann
Berlin, November 2010

Life

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