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Karl Ove Knausgård »Sterben«

»Hast du Knausgård gelesen?«

Auszug aus einer Rezension von Janus Kramhøft in der dänischen Zeitung Politiken

In Norwegen ist der Name Knausgård allgegenwärtig; in allen Zeitungen und in aller Munde. Trifft man Freunde oder Bekannte, sind sie mit ihren Gedanken woanders. Sie hören nicht, was man sagt, sie denken nur noch an Karl Ove Knausgårds mehrbändiges Romanprojekt, und es dauert nicht lange, bis sie die Frage stellen: »Hast du Knausgård gelesen?« – oder Karl Ove, wie die Frauen mit verliebter Stimme sagen.

Das ist nicht übertrieben. Die Frauen sind wirklich verliebt, und die Männer benehmen sich, als hätten sie endlich einen Freund gefunden, der sie versteht. Sowohl Literaturkritiker als auch Leute, die sich normalerweise von Literatur fernhalten, sind außer sich vor Begeisterung über das Romanwerk des 42-jährigen Autors, in dem er in bisher drei Bänden und auf fast fünfzehnhundert Seiten sein gegenwärtiges Leben als Familienvater in Malmö und seine Kindheit und Jugend in Kristiansand mit einem alkoholsüchtigen und tyrannischen Vater beschreibt. Und das ist erst der Anfang ... Alle reden über Knausgårds noch unvollendetes Projekt, als wäre es eine Offenbarung, was für den norwegischen Schriftsteller Jan
Kjærstad schließlich zu viel des Guten wurde. In einem Artikel in der norwegischen Zeitung Aftenposten vom 13. Januar schrieb er, dass die Kritiker die Schwächen des Werks nicht sähen, weil sie so demütig davor buckelten, und am nächsten Tag schrieben alle Zeitungen, er sei nur neidisch. Seither ist in den norwegischen Zeitungen kein Tag ohne einen Artikel über Knausgård vergangen. Ein Genderforscher meint, dass er den Nobelpreis verdient hat, ein Literaturprofessor, dass es Kritikern und Forschern an den richtigen Worten für Knausgårds Form des Romans mangelt, ein Moralphilosoph nennt den Kampf der Hauptfigur eine gnadenlose Berufung und vergleicht Karl Ove mit Christus persönlich.

Und während dieses ganzen Theaters sitzt der Schriftsteller in Malmö und schreibt, als ginge es um Leben und Tod. Zehn Buchseiten pro Tag! In einer E-Mail an die Zeitung Morgenbladet erzählt Knausgård am 15. Januar, dass er gerade den vierten Band im Verlag abgeliefert hat und sich nunmehr zurückgezogen habe, um den fünften zu schreiben. Mit kleidsamer Bescheidenheit erklärt er, er habe geglaubt, »etwas Antispektakuläres, ein beinahe einschläfernd realistisches Projekt« geschaffen zu haben. Stattdessen ist kaum einem anderen Werk in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit zuteil geworden, und in einem letzten Band wird zudem sein eigenes Entstehen und seine Rezeption behandelt werden, und die Kritiker wissen nicht, ob sie in den Büchern auftreten werden, und die Leser wissen nicht, ob er das Projekt ins Ziel bringt, so dass alle gespannt auf die drei nächsten Bände warten, als wäre Knausgård ein Nansen unserer Zeit, der die Eismassen Grönlands bezwingt ...

Knausgård hat eine literarische Version der für unsere Zeit so typischen Neigung geschaffen, sich selbst zu entblößen und das intime Leben anderer zu verfolgen. Der entscheidende Unterschied zwischen ihm und Amateurbloggern besteht darin, dass er ein Wortkünstler ist, und der Unterschied zwischen ihm und anderen Schriftstellern, die ebenfalls autobiografisch schreiben, besteht darin, dass der extreme Umfang des Projektes ihm die Legitimation gibt, alles über sein Leben zu schreiben, auch all das, was man normalerweise allzu trivial finden würde, um darüber in einem Roman oder einer Autobiografie schreiben zu können ... Knausgård hat sich für seinen Roman eine Form ausgesucht, die es ihm erlaubt, seiner eigenen Wirklichkeit einen Spiegel vorzuhalten, einen Spiegel, in dem sich unsere Zeit mehr denn je spiegelt, denn die Leser sind mit Knausgård ganz einer Meinung: So sieht das Leben aus. Banal und brillant. Schutt und Diamanten.

Unglaublich, aber wahr, es gelingt Knausgård, sich seine künstlerische Integrität zu bewahren und den Leuten gleichzeitig zu geben, was sie haben wollen, weil er so gut schreibt und weil das Konzept seines Romans so genial durchdacht ist, weshalb er so detailliert zu Werke gehen kann, dass alles, was er schreibt, allgemeingültig genug wird, damit sich alle selber darin wiedererkennen können. Und damit kann er sich als Künstler selbst verwirklichen, während die Sehnsucht seiner Leser gestillt wird, sich lebendig und gesehen zu fühlen.

Das ist an sich schon eine Seltenheit, aber Knausgård leistet noch mehr: Er erfüllt den Leuten auch den Wunsch, sich als etwas Besonderes zu fühlen, denn als bereits preisgekrönter Schriftsteller war er schon vor »Sterben« etwas Besonders, aber er verschafft ihnen nun Zugang zu seinem Leben, und es ähnelt ihrem eigenen, und es ist ihnen erlaubt, ganz in seine Gedanken einzutauchen, und denken sie nicht fast genauso wie er? Dann müssen sie doch auch etwas Besonderes sein. Und je mehr sie Knausgård zu etwas Besonderem machen, desto mehr werden sie selbst zu etwas Besonderem ...

Knausgård trifft jedenfalls einen zentralen Nerv unserer Zeit, und seine megalomane Autobiografie, in der er die Wirklichkeit fast im Verhältnis eins zu eins beschreibt, lässt das meiste andere, was über einen langen Zeitraum geschrieben wurde, als reine Konstruktion dastehen ... Nur durch die Literatur können wir die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel eines anderen Menschen erleben; Knausgård hat diese Kraft in einem extremen Grad genutzt, und zwar erfolgreich, und deshalb ist »Sterben« große Literatur, obwohl er eine Strategie anwendet, die an schieren Populismus grenzt ... Unsere Gegenwart hungert danach, die Wirklichkeit so beschrieben zu bekommen, dass sie als real erlebt wird. Knausgård hat diesen Hunger für die nächste Zeit gestillt ...

Übersetzt von Paul Berf

Sterben

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