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SPECIAL zu Joseph Stiglitz

ES HÄTTE SCHLIMMER KOMMEN KÖNNEN

"Im freien Fall" von Joseph Stiglitz

Auch ein Grand Seigneur der Wirtschaftswissenschaften, 2001 mit dem Nobelpreis geadelt und als führender Wirtschaftsberater der Clinton-Administration und Chefökonom der Weltbank mit allen Wassern ökonomischer Praxis gewaschen, erlaubt sich mitunter zynische Kommentare.
Einen Gastbeitrag in der letzten Neujahrsausgabe der „Süddeutsche Zeitung“ begann Joseph Stiglitz mit den Worten: „Das Beste, was über 2009 gesagt werden kann, ist: Es hätte schlimmer kommen können.“
Der hin und wieder laxe Tonfall gilt gemeinhin als Markenzeichen des angelsächsischen Wissenschaftsdiskurses. Dass sich Stiglitz dazu verleiten lässt, wenn es um den Rückblick auf die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit rund 75 Jahren geht, ist dennoch bemerkenswert. Schließlich gehörte der Professor der Columbia Business School nicht nur zu den wenigen Mahnern, die schon frühzeitig den Katastrophenkurs beklagt haben, auf dem die amerikanische Wirtschaft in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts vor allem mit ihren auf Schulden gebauten Eigenheimen steuerte. Ebenso vehement beklagt er heute, dass die Verantwortlichen nicht die richtigen Lehren aus der anhaltenden globalen Krise ziehen. Das vermeintlich gelassene „Es hätte schlimmer kommen können“ ist deshalb keineswegs als Resümee zu verstehen. Denn Stiglitz geht es mit seinen Publikationen, insbesondere mit seinem neuen Buch „Im freien Fall“, vor allem darum zu zeigen, wie es nachhaltig besser werden könnte.

Konjunktur der Wirtschaftstheorien
Stiglitz gilt als einer der prominentesten Vertreter einer Wirtschaftstheorie, die den regulierenden Eingriff des Staates gegen das Credo sich selbst regulierender, freier Märkte verteidigt. So lassen sich die beiden Pole auf den Begriff bringen, zwischen denen die ökonomische Theoriebildung seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis heute pendelt. Die jeweiligen Schulen - die eine, der pro-regulatorische Keynesianismus, benannt nach ihrem Gründervater John Maynard Keynes, die andere, die Chicagoer Schule, benannt nach der Stadt, an deren Universität die meisten ihrer Vertreter lehrten und lehren - unterliegen in ihrem wirtschaftspolitischen Einfluss einem eigenen konjunkturellen Auf und Ab.
So galten etwa in keynesianischer Tradition bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Konjunkturprogramme als gerechtfertigte staatliche Maßnahmen zur Vermeidung oder Linderung von Wirtschaftskrisen. Erst zu Beginn der 80er Jahre gewann unter dem Einfluss von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien die marktliberale Schule die Oberhand in der Wirtschaftspolitik der westlichen Industriestaaten.

Renaissance des Keynesianismus
Mit der gerade noch abgewendeten Insolvenz der Investmentbank Bear Stearns und der Pleite des nicht geretteten Konkurrenten Lehman Brothers hat die Theorie der freien Märkte nach Ansicht von Stiglitz ihr Waterloo erlebt. Der Logik einer Konjunktur wirtschaftswissenschaftlicher Modelle folgend, scheint für ihn eine Renaissance des Keynesianismus bevorzustehen.
„Der Staat muss eine Rolle spielen, nicht nur, um die Wirtschaft zu retten, wenn Märkte versagen, und bei der Regulierung der Märkte, um jene Arten des Versagens, wie wir sie gerade erleben, zu verhindern. Volkswirtschaften brauchen ein Gleichgewicht zwischen der Rolle von Märkten und der Rolle des Staates.“
In den weltweit aufgelegten Bankenrettungsfonds und den aufgebrachten Steuermitteln zur Stützung von Schlüsselindustrien konkretisierte sich jüngst die neuerliche Blühte der keynesianischen Wirtschaftstheorie. „In den Jahren 2008 und 2009“, so Stiglitz, waren „plötzlich alle (vorübergehend) zu eifrigen Keynesianern geworden.“

Multiplikatoreneffekte
Staatliche Maßnahmen sind aber nicht per se Ausdruck eines segensreichen Eingriffs der Politik in die Märkte. Sie sind es nur dann, wenn sie Kriterien erfüllen, die eine nachhaltige Stärkung der Volkswirtschaften sichern. Sie müssen, so Stiglitz, vor allem Multiplikatoreneffekte hervorrufen, das heißt, „dass jeder ausgegebene Dollar die Beschäftigung und die volkswirtschaftliche Produktion stark erhöhen sollte.“
Ausgehen von solchen Kriterien kritisiert Stiglitz die Programme, mit denen Regierungen weltweit auf die Finanzkrise reagiert haben. „Geld auszugeben, um Banken zu retten, ohne eine Gegenleistung zu erhalten, bedeutet, den reichsten Amerikanern Geldgeschenke zu machen, die so gut wie keine Multiplikatoreneffekte haben.“

Schneller Überblick
Stiglitz' Werk beschränkt sich aber nicht auf die Analyse von Fehlentwicklungen in der Finanzindustrie und der Maßnahmen, mit denen die Folgeschäden eingedämmt werden sollten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 begreift er als Symptom einer umfassenderen Fehlentwicklung, die zur Folge hat, dass die Staaten auf drängende globale Probleme wie die Alterung der Gesellschaft oder den Klimawandel nicht angemessen reagieren können. Was Stiglitz vorschwebt, ist nichts weniger als der „Aufbruch in eine neue Gesellschaft“.
Damit begibt sich der Volkswirt ins Minenfeld gesellschaftspolitischer Ideologie, auf dem sich Auseinandersetzungen über die Rolle des Staates in der Wirtschaft ohnehin schnell wiederfinden, und auf dem der Umgangston ebenso schnell polemisch wird. So empfahl ein amerikanischer Publizist nach der Lektüre von „Freefall“ Stiglitz hämisch für einen zweiten Nobelpreis - diesmal den für Literatur. Wer den politischen Gegner offenbar so sehr provoziert hat, muss gute Arbeit geleistet haben. Das bestätigen auch diejenigen, die seinen Thesen wohlgesonnener sind. Der Rezensent des britischen Guardian bringt es knapp auf den Punkt. Jeder, der einen schnellen Überblick sucht, was falsch gelaufen ist und warum, sollte zu diesem Buch greifen.

Dr. Stefan Schulze
München, April 2010