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SPECIAL zu Jonathan Coe

»Ich war erstaunt, wie wohl ich mich beim
Schreiben als Rosamond gefühlt habe.«

Ein Gespräch mit Jonathan Coe

Jonathan Coe
© Sophie Bassouls
Herr Coe, das Staunen über Der Regen, bevor er fällt war in der britischen Presse groß. Sie gelten als einer der scharfzüngigsten Chronisten Großbritanniens. Diesmal haben Sie jedoch eine emotionsreiche Geschichte über drei Generationen von Frauen geschrieben, in der es im Wesentlichen darum geht, wie Erfahrungen, auch Gefühle, von Generation zu Generation weitergegeben werden – ein Roman also, der sich thematisch deutlich von Ihren früheren Werken unterscheidet. Wie kam es zu diesem Kurswechsel?

Ich glaube nicht, dass man während des Schreibens wirklich versteht, was und warum man etwas schreibt. Oder wenn man glaubt, sein Schreiben erklären zu können, dann hat diese Erklärung bestimmt nichts mit der wahren Motivation zu tun. Und das ist gut so, man braucht – man darf sein Werk nicht begreifen. Bei den Romanen, die ich vor Der Regen, bevor er fällt geschrieben habe, hatte ich das Gefühl, die Geschichten schon beim Schreiben zu gut zu kennen. Alles war schon im Voraus durchstrukturiert und das Thema festgelegt: Es ging mir hauptsächlich darum, mich politisch und gesellschaftlich zu engagieren. Ich lebte beim Schreiben dieser Bücher meine sozialkritische Ader aus. Und das hat geklappt: Die bissigen Satiren über das Thatcher- und Blair-Großbritannien regten zu Diskussionen an. Ein weiteres Thema, das mich in den vergangenen Jahren beschäftigt hat, ist das Männliche. Ich habe versucht, in meinen Büchern eine Art Archetypus des Mannes herauszuarbeiten, des heutigen Mannes, der passiv ist, der die Gelegenheiten, die sich ihm bieten, insbesondere in der Liebe, nicht ergreift und auch nicht ergreifen will.

Als ich Der Regen, bevor er fällt schrieb, habe ich versucht, das Vorausplanen zu vermeiden, und mich in die dunkle Ungewissheit gewagt. Und so ist Der Regen, bevor er fällt ein Roman geworden, in dem all die Themen ans Tageslicht gekommen sind, die in meinen früheren Romanen zwar präsent, aber unter dem Komödiantischen, dem Gesellschaftskritischen und all den anderen prominenteren Themen verschüttet waren.

Was, welches Thema, welcher Ton, denken Sie, war bisher in Ihren Werken »verschüttet«?

Zum Beispiel die Melancholie, sie findet sich in all meinen Romanen: In Allein mit Shirley (1994, dt. Ausgabe 1995) zeigt sie sich in der Beziehung zwischen Michael und seiner Mutter. In Das Haus des Schlafes (1997, dt. Ausgabe 1998) ist die zentrale Liebesgeschichte melancholisch gezeichnet. Erste Riten (2001, dt. Ausgabe 2002) wurde zwar mit einem Preis für humorvolle Belletristik geehrt, und dafür musste ich sogar mit einem Schwein im Arm fotografiert werden, doch zugleich erzählt dieser Roman von einem Mädchen, dessen Freund von einer IRA-Bombe in die Luft gesprengt wird. Es gab also immer schon dunkle Unterströmungen in meinem Schreiben. In Der Regen, bevor er fällt habe ich sie nun an die Oberfläche gelassen – ein Roman, den das Wort »melancholisch« treffend
beschreibt.

Stimmen Sie den Rezensenten zu, die Ihren jüngsten Roman als »unpolitisch« bezeichnen?

Nun, das Private, das häusliche Leben ist etwas sehr Politisches. Im Mikrokosmos der Kernfamilie spiegeln sich die großen Machtstrukturen wider. Das Thema Macht hat mich auch in meinen früheren Büchern schon beschäftigt: Was stärkt uns, was schwächt uns? Kinder, so scheint es mir, sind schwach, sie können sich der Macht, die auf sie ausgeübt wird, nicht entziehen. In Der Regen, bevor er fällt geht es mir genau darum, ihre Situation im Familiengefüge aufzuzeigen – ein sehr privates Thema, das zugleich auch ein großes soziales Thema ist, das alle angeht und emotionalisiert.

Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben erreichen?

Für mich ist das Wichtigste beim Schreiben, dass meine Bücher die Menschen berühren und bewegen, sodass sie lachen, sich ärgern und während des Lesens eine Art emotionale Entwicklung durchmachen, parallel zu der Entwicklung der Figuren. Dafür müssen natürlich die Dinge im Zentrum der Geschichte stehen, die den Menschen wichtig sind, wie ihre Beziehungen, ihre Freundschaften. Und deren Bedeutung kann man nur begreifen, wenn man sie im Kontext dessen sieht, was uns in sozialer, sogar in globaler Hinsicht zustößt. Wenn Sie an einem bestimmten Tag in der Zeitung lesen, dass England in den Krieg gegen den Irak zieht und am selben Tag stirbt Ihre Lieblingskatze, dann werden beide Ereignisse Sie erheblich beeinflussen. Welches aber ist das wichtigere? Für den Einzelnen steht beides in einer prekären Beziehung zueinander, und ich möchte versuchen, beide Seiten und die Strukturen, die sie verbinden, in meinen Büchern aufzuzeigen. In Der Regen, bevor er fällt habe ich mich zum ersten Mal seit Langem wieder der persönlicheren der beiden Seiten zugewandt.

Was bewog Sie dazu?

Bei meinen früheren Romanen gab es keine Initialzündung, oder zumindest erinnere ich mich an keine, anders bei Der Regen, bevor er fällt: Da gab es tatsächlich einen Augenblick der Inspiration. Und der war im Jahre 1987, ich war sechsundzwanzig und zur Hochzeitsfeier eines Familienfreundes eingeladen. Unter den Gästen befand sich ein ungefähr sieben Jahre altes Mädchen. Sie war hübsch, und sie war blind. Und alle waren sofort in sie vernarrt – sie zog die Aufmerksamkeit aller auf sich (genau so beschreibe ich auch Imogens Erscheinen auf der Geburtstagsfeier von Rosamond, der Ich-Erzählerin, gleich im ersten Kapitel). Nach diesem Treffen mit dem kleinen, blinden Mädchen begann sich in meinem Geiste die Geschichte einer weitverzweigten Familie aus den Midlands, die ihre Wurzeln in Shropshire hat, zu entspinnen. Dieses Ereignis liegt nun schon mehr als zwanzig Jahre zurück.

Warum haben Sie so lange gezögert, diese Geschichte tatsächlich niederzuschreiben?

Damals versuchte ich, mich diesem Mädchenschicksal in einer Novelle zu nähern, Ivy and Her Nonsense, aber ich habe schnell gemerkt, dass ich noch nicht bereit war, eine so persönliche Geschichte zu erzählen. Ich schrieb dann die Romane, in denen Gesellschaftspolitisches im Vordergrund stand, und das nahm ich als Entschuldigung dafür, den Figuren keine größere emotionale Tiefe zu verleihen. Intuitiv war mir wohl damals bewusst, dass ich erst einmal erwachsen werden musste, bevor ich Imogens Geschichte niederschreiben konnte, die Geschichte dieses Mädchens, dem so viel Schaden zugefügt worden ist.

Es gab noch eine zweite Sache, die mich zu diesem Buch inspiriert hat: die Geburten meiner beiden Töchter. Von da an hatte ich direktes »Anschauungsmaterial«, das mir diese ganz eigene Beziehung, die Mütter zu Töchtern haben, näher brachte, ein Thema, das mich schon immer gefesselt hat.

Vieles von dem, was ich in Der Regen, bevor er fällt aufgreife, hat sich aus meiner Beziehung zu meinen Töchtern ergeben und daraus, wie sie sich ihrer Mutter gegenüber verhalten und diese sich ihnen gegenüber. Außerdem achte ich, seit ich selbst Kinder habe, mehr darauf, wie Eltern mit Kindern umgehen. Um mich herum sehe ich Eltern, die ihre Kinder zwar nicht misshandeln, sich aber auch nicht auf eine enge, stärkende Bindung mit ihnen einlassen. Das nimmt mich sehr mit, denn so wachsen diese Kinder zu seelisch verkrüppelten Menschen heran. Auch diese Beobachtungen haben mich zu meinem jüngsten Buch inspiriert, das davon erzählt, was geschieht, wenn ein Kind nicht gewollt ist, nicht geliebt wird. Davon, was mit den nachfolgenden Generationen geschieht, von den Töchtern, die unter der Lieblosigkeit leiden und irgendwann selbst Mütter von Töchtern werden. Ein schmerzliches Unglück von unendlicher Dauer. Und doch – auf versteckte Weise ist dies ein Buch über gute Elternschaft.

Um die Erinnerungen Rosamonds, der Ich-Erzählerin, von Generation zu Generation voranschreiten zu lassen, haben Sie eine visuelle und damit sehr außergewöhnliche Form des Erzählens gewählt: Sie arbeiten mit Bildbeschreibungen. Warum?

Etwas, das mich bei meinen Töchtern sehr erstaunt, ist ihr Interesse an unserer Familiengeschichte. Immer wenn wir zu Besuch bei den Großeltern sind, erfreuen sie sich daran, in alten Fotoalben zu blättern, und fragen nach den seltsamen, schon lange vergessenen Verwandten, die auf den Fotos zu sehen sind, oder sie amüsieren sich über die nur halb vertrauten Gesichter ihrer noch jungen Eltern. Indem ich ihnen erkläre, was und wer auf den Fotos zu sehen ist, gebe ich unsere Familiengeschichte weiter, die es ihnen wiederum ermöglicht, sich selbst und ihre Herkunft zu verstehen.

So kam mir die Idee, Rosamond die Geschichte Imogens und die ihrer Familie mithilfe von zwanzig Fotografien erzählen zu lassen, zwanzig Schnappschüsse, die weit zurück in die Vergangenheit führen und die wesentlichen Ereignisse dieser Familie bezeugen – und so für Imogen eine Erklärung für ihr Schicksal liefern. Eine Technik, die es mir ermöglichte, in einem recht kurzen Roman einen vergleichsweise langen Zeitraum zu umspannen, von 1941 bis 2006, also fünfundsechzig Jahre insgesamt – ich mag dieses Gefühl der verrinnenden Zeit. Man blättert eine Seite weiter, und schwupp sind zehn Jahre vergangen. Man sieht seine Figur im Alter von achtzehn, dann im Alter von vierzig und erkennt sie kaum wieder. Damit habe ich schon in Erste Riten und Klassentreffen gearbeitet, und nun, in Der Regen, bevor er fällt, stellt dies eines der wesentlichen Stilmittel dar. Ich wollte schon lange einen episodischen Roman schreiben.

Und noch etwas ermöglichte mir das Mittel der Bildbeschreibung, etwas, das ich mich in meinen früheren Büchern nicht traute, nun aber musste: Die Figur, die indirekt diesen Bildbeschreibungen zuhört, ist blind. Das hat mich dazu gezwungen, die Welt so genau wie möglich zu beschreiben, und das aus der Sicht einer dreiundsiebzig Jahre alten Frau. Eine große Herausforderung war das, denn zum ersten Mal wagte ich es in einem Roman, aus einer so persönlichen Perspektive heraus zu erzählen, und ich war erstaunt, wie wohl ich mich beim Schreiben als Rosamond gefühlt habe.