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Jiang Rong »Der Zorn der Wölfe«

SPECIAL zu Jiang Rong »Der Zorn der Wölfe«

„Es ist ein Wunder, dass ich am Leben bin.“

Über den chinesischen Autor Jiang Rong und seinen Roman „Der Zorn der Wölfe“

Im Norden Pekings, hinter dem Gebirgszug mit der Großen Mauer, frisst sich, wenige Autostunden von den Vororten der Metropole entfernt, die Wüste ins Land. Wo sich heute die karge Steppe ausbreitet, erstreckten sich noch vor einem halben Jahrhundert schier unermessliche Weideflächen. „Wir waren die erste große Gruppe Han-Chinesen, die dort eintraf“, erinnert sich der Autor Jiang Rong an seine Ankunft in der Inneren Mongolei 1967. „In dieser Gegend hatten die Menschen ihr Leben als einfache Nomaden bewahrt und man konnte sämtliche Landschaftsformen vorfinden: Seen, Flüsse, Grasland und auch einige Sandflächen. Die Dichte der Bevölkerung war gering. Als wir ankamen, gab es lediglich 800 Menschen. Unsere Gruppe umfasste ungefähr 100 Leute.” In seiner Ursprünglichkeit haben dieses Weideland nur wenige Chinesen je kennengelernt – es ist die Heimat der mongolischen Nomaden.

Die Mongolen bilden innerhalb des chinesischen Volkes eine ethnische Minderheit, und im Westen würde kaum jemand vermuten, dass es gerade diese Minderheit ist, um deren Charakter in China heftige Debatten entbrannt sind. Ausgelöst hat sie Jiang Rong mit seinem autobiographischen Roman „Der Zorn der Wölfe“ („Lang Tuteng“, deutsch: Wolfstotem). Jiang Rong schildert darin aus der Perspektive seines Alter Egos Chen Zhen seine Erfahrungen in der Inneren Mongolei, wo er von 1967 bis 1978 als Schafhirte sein Leben mit den Nachfahren Dschingis Khans teilte. Ungewöhnlich scharf kritisiert er in seinem Buch die Eigenschaften der größten Volksgruppe Chinas, der Han-Chinesen, und deren Raubbau an der Natur. „Der Zorn der Wölfe“ sorgte für eine literarische Sensation: Seit Erscheinen im April 2004 wurden in China offi ziell mehr als 2,6 Millionen Exemplare verkauft, zusätzlich geht man von etwa 20 Millionen Raubkopien aus. Damit ist „Der Zorn der Wölfe“ in China zu einem der meistgelesenen Bücher aller Zeiten avanciert und in seiner Verbreitung wohl nur von der Mao-Bibel übertroffen.

Dass der Druck des Buches von der chinesischen Zensurbehörde überhaupt erlaubt wurde, verdankt der Autor der Wahl des Pseudonyms Jiang Rong: „Ich war überrascht, dass die Regierung meine wahre Identität erst so spät herausfand. Wenn bekannt gewesen wäre, dass ich das Buch geschrieben habe, wäre es verboten worden.“ Denn Lu Jiamin, so sein richtiger Name, wurde in seinem Leben viermal als Konterrevolutionär verfolgt und verbrachte mehrere Jahre als politischer Gefangener in Haft. Sein Buch war in China schon auf dem Weg, alle Bestsellerrekorde zu brechen, da wusste noch immer nur eine Handvoll Eingeweihter, wer hinter dem Pseudonym steckte. Jiang Rong gab zwar Interviews, ließ aber nie ein Foto von sich veröffentlichen. Doch als ihm am 10. November 2007 für „Der Zorn der Wölfe“ der erste Man Asian Literary Prize verliehen wurde, ließ sich seine Identität nicht länger verheimlichen – zu groß waren das Interesse der Medien am Preisträger und das Renommee des Stifters: Der Man Asian Literary Prize verfolgt das Ziel, neue asiatische Autoren ins Blickfeld des internationalen Literaturbetriebes zu rücken, und wird von der Man Group vergeben, die den bedeutenden Man Booker Prize ins Leben gerufen hat. „Jetzt verstecke ich mich nicht mehr vor den ausländischen Medien“, sagt Jiang Rong. „Und in China ist meine Identität im Internet ohnehin ein offenes Geheimnis.“

Jiang Rong wurde 1946 in der Provinz Jiangsu geboren, seine Eltern waren engagierte Mitglieder der kommunistischen Partei. Nach dem frühen Tod seiner Mutter zog er im Alter von elf Jahren mit dem Vater nach Peking. Mit 20 Jahren schloss er sich den Rotgardisten an, doch bald schon geriet er in einen unlösbaren Konflikt: Seit seiner Kindheit hegte er eine Leidenschaft für Literatur, und nun sollte er aus politischer Überzeugung Bücher verbrennen, die als konterrevolutionär galten. Er versteckte rund 200 verbotene Bücher in zwei großen Koffern – darunter Klassiker der Weltliteratur von Balzac, Puschkin, Tolstoi und Jack London. „Zu diesem Zeitpunkt waren wir von der Kulturrevolution desillusioniert. Wir verspürten das Bedürfnis aufs Land zu gehen. In ihren Forschungsberichten über Weideland schrieben einige Experten, die drei schönsten Grasflächen der Welt lägen in Russland, in den Vereinigten Staaten und in der Inneren Mongolei. Die ersten beiden hatten sich bereits in Wüsten verwandelt, allein das Grasland der Inneren Mongolei existierte noch.” Bevor Mao Zedong Millionen von Oberschülern, Studenten und Intellektuellen zur Umerziehung aufs Land schickte, verließ Jiang Rong als einer der ersten Freiwilligen Peking und reiste mit seinen Koffern voll Bücher ins Olonbulang-Grasland.

„Als wir in der Inneren Mongolei eintrafen, waren viele Schüler und Studenten wegen der Lebensbedingungen dort niedergeschlagen. Ich hingegen war begeistert, weil ich die Weideflächen und den Schnee liebte. Jeder von uns bekam ein Pferd und wir gingen auf die Jagd. Ich erfuhr eine wilde, raue Freiheit. Jeder sollte diese Art von Freiheit erleben“, schwärmt Jiang Rong. Mit großem Interesse beobachtete er die Bräuche und Rituale der Mongolen. Am meisten faszinierte ihn das komplizierte Wechselverhältnis zwischen Menschen, Schafen und Wölfen. Er erforschte das Leben der Wölfe, ihre Sozialstrukturen und Jagdgewohnheiten und versuchte sogar, selbst einen jungen Wolf großzuziehen. Anders, als er es erwartet hätte, verteufelten die Nomaden die Wölfe nicht, sondern brachten ihnen großen Respekt und Bewunderung entgegen. „Die Wölfe“, erläutert Jiang Rong, „spielen aus ökologischer Sicht eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des Weidelandes. Seit alters haben die Mongolen die Wölfe als Bewahrer des Weidelandes geachtet.“
Zurück in Peking, absolvierte Jiang Rong die Aufnahmeprüfung zum Masterstudium an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und schlug eine akademische Laufbahn ein. Aber der heute 62-jährige emeritierte Professor für Wirtschaftspolitik gibt über die letzten dreißig Jahre seines Lebens kaum etwas preis. Fest steht, dass er Ende der 70er Jahre maßgeblich an der „Xidan-Bewegung“, der sogenannten „Mauer der Demokratie“, beteiligt war und 1989 eine wichtige Rolle bei den Demonstrationen spielte, die im Zug auf den Tian'anmen-Platz gipfelten. „Es ist ein Wunder, dass ich noch am Leben bin“, kommentiert er knapp die Gerichtsurteile, die gegen ihn verhängt wurden. Während all dieser Zeit ließen ihn seine Erlebnisse in der Mongolei nicht los. Immer stärker wurde sein Drang, über die faszinierenden Landstriche und wilden Tiere, über das Leben der Nomaden im Einklang mit der Natur und seine eigenen Begegnungen mit den Wölfen zu schreiben. Er wollte seinen Landsleuten vermitteln, dass Freiheit existenziell für das Überleben eines Volkes ist, und die Wölfe repräsentierten für ihn auf ideale Weise diesen Freiheitsgeist. Er trug das Material von 25 Jahren intensiver Recherche zusammen und machte sich ans Schreiben. Sechs Jahre lang habe er derart besessen an seinem Buch gearbeitet, dass sie ernsthaft um seine Gesundheit besorgt gewesen sei, berichtet Jiang Rongs Ehefrau, die bekannte chinesische Schriftstellerin Zhang Kangkang. Bis heute müsse sich ihr Mann von den Strapazen erholen.

Der Zorn der Wölfe” ist Roman, anthropologischer Forschungsbericht, Naturstudie, Lehrstück und politischer Aufruf zugleich. „Das Buch untergräbt die Erwartungen der Leser. Es spaltet sie in zwei Parteien und bringt sie dazu, darüber nachzudenken und darüber zu reden“, sagt Jiang Rong. Hitzige Kontroversen haben vor allem seine provokanten anthropologischen Thesen über den Wolfs- und Schafscharakter der Menschen entfacht: Jiang Rong verurteilt die ethnische Mehrheit der Han-Chinesen für ihren trägen Gehorsam und ihre Ignoranz gegenüber der Umweltzerstörung. Mit ihrem Schafscharakter blieben die Han-Chinesen anderen Völkern immer unterlegen, es sei denn, sie lernten wie die Mongolen, sich die Charaktereigenschaften der Wölfe anzueignen: Freiheit, Unabhängigkeit, Konkurrenzgeist, Zähigkeit und Teamfähigkeit. In den Medien und unter Intellektuellen werden diese Thesen ausführlich diskutiert. „Diejenigen, denen mein Roman gefällt, vergöttern mich. Sie behaupten, das Buch sei eine der besten Veröffentlichungen der letzten 200 Jahre und sollte zur Bibel der Chinesen erhoben werden. Diejenigen, denen mein Buch nicht gefällt, wollen mich umbringen“, weiß der Autor. Während die einen ihn als Liberalen, Konterrevolutionär, Verräter und Faschist beschimpfen, setzen andere seine Ideen bereits in die Praxis um und wenden seine Erkenntnisse über Wolfsstrategien bei der Ausbildung von politischen Führungskräften, Soldaten und Geschäftsleuten an. Diesen Trend erklärt Jiang Rong mit der Veränderung des ökonomischen Systems: „Die Menschen jedes neuen Zeitalters brauchen einen neuen Geist, ein neues Totem und neue Modelle, die sie wachrütteln. Früher erforderte das chinesische Wirtschaftssystem keinen Konkurrenzgeist, es verlangte Gehorsam. Heutzutage braucht die Wirtschaft Wettbewerbsfähigkeit, Mut, Freiheit und Unabhängigkeit. Dieses Buch hat die Gesellschaft beeinflusst. Der Wolf ist zum neuen Totem geworden, zum neuen Symbol einer ganzen Ära.“

Aus der Inneren Mongolei ist das Totemtier des neuen Zeitalters verschwunden. Die Wölfe wurden ausgerottet, die Kultur des Nomadenvolkes ist dem Untergang geweiht. „In Zukunft werden wir unsere größten Kämpfe nicht zwischen Ländern oder Völkern austragen, sondern gegen die Umweltzerstörung führen. Naturkatastrophen werden die Länder zur Zusammenarbeit zwingen. Es versetzte mich in Schrecken zu erleben, wie ein Ökosystem, das seit Jahrtausenden bestand, in nur einem Jahrzehnt zu Staub zerfiel. Mein Buch ist eine Lektion für die Welt.“

© Elke Kreil