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Jiang Rong »Der Zorn der Wölfe«

SPECIAL zu Jiang Rong »Der Zorn der Wölfe«

Interview mit Jiang Rong zu seinem Roman „Der Zorn der Wölfe“


Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Ich bin ein unbeugsamer Verteidiger der Freiheit. Mein ganzes Leben lang habe ich für sie gekämpft. In China wird die Freiheit des Menschen, und vor allem die Gedankenfreiheit, seit jeher vom Staat eingeschränkt. Alle Aktivitäten im Dienste der Freiheit endeten in meinem Land auf tragische Weise. Das liegt vor allem daran, dass die Idee der Freiheit in der chinesischen Tradition keine Wurzeln hat. Die chinesische Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus Bauern und intellektuellen Beamten zusammen. Letztere sind vom Konfuzianismus geprägt, der sich für die Unterwerfung ausspricht, während die Bauern es sich zum wichtigsten Ziel im Leben gesetzt haben, ihre primären Bedürfnisse und ihren Wunsch nach Sicherheit zu erfüllen. Dies mag deutlich machen, warum der Kampf für die Freiheit in China immer gescheitert ist.

Damit eine solche Bewegung gelingen kann, muss das Land zunächst in eine Umbruchphase eintreten und an das Verständnis von Freiheit herangeführt werden. Als ich in die Innere Mongolei aufgebrochen bin, um dort zu leben [Anm.: von 1967 bis 1978], habe ich dies freiwillig getan – ein Jahr bevor Mao die Intellektuellen zur Umerziehung zu den Bauern schickte. Während der Jahre, die ich dort verbracht habe, kam ich mit dem mongolischen Volk in Berührung, mit den Wölfen, und speziell mit dem jungen Wolf, den ich aufgezogen habe, und ich habe festgestellt, wie ungeheuer stark ihrer aller Freiheitsdrang ist. Das hat mich tiefgreifend verändert.

Die beiden Kulturen – die Nomadenkultur der Mongolen und die sesshafte der Han [Anm.: die ethnische Gruppe der Han-Chinesen repräsentiert mehr als 90% der Gesamtbevölkerung Chinas] – sind sehr unterschiedlich, und als ich sie miteinander verglich, habe ich die Schwächen in der Kultur der Han-Chinesen begriffen. Im Verlauf ihrer Geschichte sind sie fünf Mal besiegt und unterworfen worden (zum Teil sogar mehrere Jahrhunderte lang), und dies durch Führer von maßgeblich kleineren Völkern, als ihr eigenes es war – darunter auch von den Mongolen. Warum? Weil ein Volk ohne Freiheitsbewusstsein sich nicht weiterentwickeln kann, weil es schwach ist und leicht zu unterwerfen. China muss sich heute den eigenen Schwächen stellen. Die Chinesen sind von Grund auf konservativ in ihren Werten. Sie setzen sich wenig für die Freiheit ein und haben kein Bewusstsein für Unabhängigkeit und Demokratie.

Aber es ist meine Hoffnung, dass sie diese Zusammenhänge wahrnehmen und verstehen können, dass sie ihre Sichtweise auf die Dinge verändern, wenn es mir gelingt, ihnen das Freiheitsstreben der Mongolen nahezubringen. Darum geht es in „Der Zorn der Wölfe“.

Die Zeit, die ich in der mongolischen Steppe verbracht habe, hat mich außerdem mit der Kultur der Nomaden tief verbunden. Während der darauffolgenden zwanzig Jahre habe ich nach und nach ein immer zwingenderes Bedürfnis verspürt, von all dem, was ich gesehen, verstanden und geliebt hatte, zu erzählen. Ich war wie ein Kochtopf, der drohte überzulaufen. Ich musste dieses Buch einfach schreiben, ich hatte keine andere Wahl. Schließlich habe ich es getan – und ich habe sechs Jahre dafür gebraucht.

Die mongolische Kultur ist im Begriff zu verschwinden oder ist in Teilen sogar bereits untergegangen, wie Sie es auf so atemberaubende Weise in Ihrem Roman schildern. Ist „Der Zorn der Wölfe“ ein nostalgisches Buch oder eine Kampfansage?

Wie könnte dieser Roman nicht nostalgisch sein, wenn ich darin meine eigenen Erinnerungen und diejenigen von vielen anderen, denen die Mongolei vertraut ist, verarbeitet habe! Natürlich könnten die Ereignisse, die ich schildere, heute so nicht mehr stattfinden. Aber gleichzeitig versuche ich mit meinem Roman auch, gegen das konfuzianische ‚mittelalterliche' Denken der Chinesen und ihre kleinbäuerliche Geisteshaltung anzugehen.

Ich fühle mich als Botschafter der Mongolen. Mein Roman ist das Zeugnis ihrer Nomadenkultur. Mit „Der Zorn der Wölfe“ verfolgte ich zwei Ziele: einerseits wollte ich es den Chinesen nahebringen, die Schwächen ihrer eigenen Kultur zu begreifen, andererseits war es mir ein Bedürfnis, ein möglichst originalgetreues Bild dieser größtenteils verlorenen Kultur des Steppenvolkes zu zeichnen – und der Wölfe, die eng mit ihm verbunden sind.

Sind Sie der Meinung, dass Sie Ihre Ziele verwirklicht haben? Wie wurde Ihr Roman von der Öffentlichkeit aufgenommen?

Der wirtschaftliche Erfolg ist gigantisch: mittlerweile wurden vier Millionen Exemplare der Originalausgabe verkauft, ohne die unzähligen Raubkopien mit einzurechnen, die auf dem Markt zirkulieren [Anm.: man geht von 15 bis 20 Millionen Raubkopien aus, die in China verkauft wurden].

So wie der Roman von den Intellektuellen aufgenommen wurde, denke ich auch, dass seine Botschaft bei ihnen angekommen ist. Die größten Verleumder des Buches sind die Verfechter des Konfuzianismus, die Ultranationalisten und die konservativen Intellektuellen. Auch heute noch, drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, findet man im Internet Aufrufe zum Verbot meines Romans. Aber er hat einen enormen Erfolg beim Publikum und bei allen, die sich für die Verteidigung der Freiheit, die Öffnung Chinas und die Demokratie einsetzen. „Der Zorn der Wölfe“ wird in Schulen und Universitäten diskutiert und ist Gegenstand zahlreicher Thesen und Theorien. In der Welt der Künste, des Sports, bei Journalisten und sogar in der Politik und beim Militär hat das Buch einen enormen Widerhall ausgelöst.

Ja, ich denke, dass der Roman für viele Chinesen nicht ohne Wirkung geblieben ist, und genau das habe ich mir erhofft.

Und in der Mongolei?

Also, das ist kaum zu glauben. Das Buch wurde erst letztes Jahr ins Mongolische übersetzt, aber ich habe den Eindruck, dass es bis heute alle Menschen dort gelesen haben. Ich habe viele Dankesbriefe erhalten, einen davon – der mich zutiefst berührt hat – von dem berühmtesten zeitgenössischen mongolischen Schriftsteller.

Die Mongolen, die nach Peking kommen, nehmen Kontakt zu meinem Verleger auf und bitten um ein Treffen mit mir. In der Ebene der Mongolei, in der ich mich meistens aufgehalten habe, wurde ein Pfeiler mit der Aufschrift „Das Land des Wolfstotems“ errichtet. Die Gegend ist zum Reiseziel geworden und wird von den Veranstaltern unter dem Namen „Reise zum Land des Wolfstotems“ angeboten. Dort stehen Wohnwägen von Pekingern und sogar von Einwohnern von Hunan [Anm.: Provinz im Süden Chinas], die per Auto anreisen, um diesen Ort zu besuchen.

Sie werden sicher sehr oft eingeladen, an Treffen und Diskussionsrunden teilzunehmen. Nehmen Sie gerne teil daran?

Ich habe zahlreiche Einladungen erhalten und erhalte immer noch viele. Aber ich gehe niemals hin.

Warum nicht?

Ich weiß, dass solche Einladungen unvermeidlich persönlich werden. Man würde nicht mehr nur über den Roman sprechen. Man würde mich nach meinen Absichten, meinen Einstellungen, meinen Beschäftigungen fragen. Aber welchen Zweck hätte das? Es würde nur die Angst vor einer Verschärfung der staatlichen Kontrolle verstärken. Die Tatsache, dass das Buch seit seinem Erscheinen nicht verboten wurde, zeigt die großen Schritte, die die chinesische Gesellschaft auf dem Weg zur Meinungs- und Gedankenfreiheit bereits unternommen hat. Aber man darf nichts überstürzen oder erzwingen. Man muss dem jeweiligen Zeitalter seine Zeit lassen. In Europa spricht man vom Zeitalter der Aufklärung, nicht wahr? Es braucht Zeit, bis die Einstellungen sich verändern.

Wenn ich mich selbst zum Medienereignis gemacht hätte, dann hätte das Buch darunter gelitten. Indem ich es unter einem Pseudonym veröffentlicht habe, wurde die ganze Polemik über seinen Inhalt vermieden, und auf diese Weise ermöglicht, dass „Der Zorn der Wölfe“ ein großes Publikum anspricht. Das war mir am wichtigsten, die persönlichen Opfer zählen nicht.

© Bourin Editeur