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„Tschechischer Humor? Man lacht und zittert zugleich. Das ist auch mir beim Schreiben wichtig“

Jaroslav Rudiš über seinen neuen Roman „Nationalstraße“

Vandam, die Hauptfigur in „Nationalstraße“, ist Dachlackierer, Ex-Polizist, Ex-Häftling und verbringt seine Zeit vorwiegend saufend und raufend in seiner Stammkneipe „Severka“ in einer Prager Plattenbausiedlung. Also nicht gerade der sympathische Typ, dem man über den Weg laufen möchte. Wie kam es, dass du über ihn schreiben wolltest?

Vielleicht gerade deswegen? Vandam ist natürlich eine literarische Figur, eine Fiktion. Doch mit einem sehr realem Vorbild, wie das übrigens auch bei den anderen meiner Romanfiguren der Fall ist, wie z.B. beim Eisenbahner Alois Nebel oder bei Fleischman aus dem Roman „Grandhotel“. Meine literarischen Vorbilder sind Jaroslav Hašek und Bohumil Hrabal, natürlich auch Kafka und viele andere, aber es waren Hašek und Hrabal, die mir beigebracht haben, dass man sich gut umsehen und zuhören muss, weil die besten und verrücktesten Geschichten um uns herum passieren.

Gibt es eine reale Vorlage für Vandam?

Das Vorbild für Vandam ist mir in einer Prager Kneipe begegnet. Er ist der Halbbruder eines guten Freundes. Bei ein paar Bierchen hat er mir seine Lebensgeschichte erzählt, seine persönlichen Schlachten, Kämpfe, Siege und seine vielen Niederlagen – all das gemischt mit viel Weltgeschichte. Er ist ein sehr guter Erzähler, zynisch, schräg, brutal, aber auch humorvoll. Er ist schon eine ziemlich krasse Figur, hat viele Narben, viele Schlägereien hinter sich – einige hat er gewonnen, einige verloren. Am Morgen nach der Begegnung in der Kneipe habe ich eine Kurzgeschichte über ihn geschrieben.

Im Mittelpunkt von Vandams Leben steht seine verrauchte Stammkneipe, wo er sich täglich mit seinen Kumpanen trifft. Er sitzt an dem Platz, an dem früher sein Vater saß. Was für eine Bedeutung haben Kneipen für die Tschechen und für dich persönlich?

Was wären wir Tschechen ohne Kneipe? Man kann sich gar nicht vorstellen, wie traurig das wäre. Schon immer wurden hier Geschichten erzählt, Politik gemacht, die wichtigsten Lebensentscheidungen getroffen. Weil man in Kneipen in der Regel betrunken ist, liegt man mit seinen Entscheidungen oft falsch. Meistens wird einfach nur lange geplaudert und nichts gemacht. Man kann so ein Kneipengespräch in Böhmen auch mit einem Besuch bei einem Psychotherapeuten vergleichen. In einem Lokal, in der Freundesrunde, werden Sachen erzählt , die sonst nirgendwo erzählt werden. Man schimpft über alles, man rastet beim Erzählen aus, man lacht. Man reinigt sich so gleich zweimal von innen – durch das viele Bier und durch das Erzählen.

Das Geschehen wird überwiegend aus der Perspektive von Vandam erzählt. Wir schlüpfen als Leser in ihn hinein, haben Teil an seiner Weltsicht, hören seine Stammtischparolen, spüren, wie er sich an der Gewalt berauscht. Gleichzeitig erfahren wir aber, was für ein bedauernswerter Mensch er ist. War es schwierig, sich in diese Figur hinein zu versetzen?

Eigentlich nicht. Ich wollte Vandam am Anfang der Geschichte als einen unerträglichen frustrierten Typen schildern, mit all seinen Hassparolen und Liegestützen und seinem blödem Heldentum. Ich wollte im Lauf der Geschichte aber auch zeigen, dass dies auch eine Fassade ist und in ihm auch etwas Gutes steckt. Er ist ein Gauner aber zugleich ein geschlagener Mensch, ein sehr trauriger Held, ein einsamer Sheriff. Und ausgerechnet in dem Moment, in dem er ein Guter sein will und sich für die Kneipenwirtin Sylva einsetzt, verliert er seinen letzten Kampf.

Vandam ist einsam und desillusioniert. Mit seinem Zynismus wendet er sich von der Gesellschaft ab, die ihm umgekehrt auch den Rücken kehrt. Einzig in der Kneipe hofft er auf Zusammenhalt.

Ja, in der Kneipe halten alle zusammen. Vandam aber ist einer, der nur an sich glaubt, nicht an die Gemeinschaft. Er glaubt zu wissen, wie das Leben läuft. Vandam fühlt sich von der Gemeinschaft verraten. Er ist ein Mann, der von keinem etwas will und daher ziemlich einsam ist. Ohne Frau. Ohne funktionierende Familie. „Nationalstraße“ ist auch ein Buch über diese große Einsamkeit, über die kaputten Beziehungen und die Unmöglichkeit der Liebe.

Heute werden Vandams fremdenfeindliche Ansichten in Ländern wie Tschechien, Ungarn oder Polen auch auf höchster politischer Ebene verbreitet. Hat sich der abweisende Umgang mit Flüchtlingen schon abgezeichnet, als du das Buch geschrieben hast?

Sie waren schon lange bei uns zu Hause, diese latente Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus – gegen die Roma zum Beispiel. Diese ganze Angst und Panik, diese Dummheit. Noch vor 100 Jahren waren wir ein Teil eines Vielvölkerstaates. Man darf das Zusammenleben in der alten österreichischen Monarchie nicht idealisieren, aber mit ihrem Zerfall 1918 ging einiges verloren. Das letzte Jahrhundert war von Anfang an ein Weg der nationalen Isolation. In der Zeit der sogenannten Ersten Tschechoslowakischen Republik, also in den Jahren 1919 bis 1938, lebten wir Tschechen noch mit Slowaken, Deutschen und Juden zusammen. Die Juden wurden im Zweiten Weltkrieg von den Nazis umgebracht und die Deutschen wurden nach Kriegsende vertrieben, auch die, die mit den Nazis nicht mitgemacht hatten. Und kurz danach wurde Mitteleuropa mit einem Stacheldraht geteilt und blieb es bis 1989. Danach haben wir uns von den Slowaken getrennt, friedlich. Und so stehen wir heute da, mitten in Europa, vielleicht sogar im Herzen Europas, aber zugleich doch irgendwie einsam und am Rande. Ganz komisch allein sind wir, nur unter uns. Ich dachte, alles muss sich nach der Wende ändern, doch geändert hat es sich nur ein bisschen. Wir bleiben ein verschlossenes Land der lustigen, aber einsamen Menschen, die zum Trost ein gutes Bier in jeder Kneipe für achtzig Cent kriegen.

Was meinst du, würde Vandam in Deutschland bei Pegida mitlaufen oder ist er ein durch und durch tschechischer Charakter?


Er würde nicht mitlaufen. Er hat im Leben viel Mist gebaut, aber jetzt weiß er, wie das Leben läuft. Er geht seinen eigenen traurigen Weg. Trotz seines Gerede und der Schlägereien ist er ein ziemlich kluger Typ.

Vandam prahlt damit, der Auslöser der Unruhen zu sein, die 1989 zur Samtenen Revolution führten – auf welcher Seite er damals in der Prager Nationalstraße stand, ist für ihn vollkommen irrelevant. Welche Rolle spielt das Ereignis heute noch an Tschechiens Stammtischen?

Es ist immer noch ein Thema. In meiner Stammkneipe in der böhmischen Stadt Jičín, wo übrigens der großartige Autor und Satiriker Karl Kraus geboren wurde, fühlen sich einige etwas frustriert und auch verraten. Sie lästern über die korrupten Gangster, die heutzutage Politik machen, und schimpfen über die Politiker von heute genauso, wie sie damals über die Kommunisten geschimpft haben. Und das Bier sei früher besser gewesen, so wie vieles andere auch. Das ist natürlich Quatsch und das wissen diese Leute ganz genau. Trotzdem fällt es mir schwer, einige meiner Freunde zu überzeugen, dass wir trotz aller Probleme in einem sehr glücklichen Moment der Geschichte leben. Noch nie ging es unserem Land so gut wie jetzt. Auch wenn auf der Prager Burg Miloš Zeman thront, unser Staatspräsident, der wie ein selbstverliebter, arroganter König mit Vorliebe für Schnaps über unser Land zu herrschen glaubt. Aber ist es nicht toll, dass man da jemanden hat, über den man ständig Witze reißen kann? Mir wird er mal richtig fehlen. Jaroslav Hašek hätte wahrscheinlich ein Buch über ihn geschrieben. Und Karl Kraus ebenfalls.

Wie wurde "Nationalstraße" in deinem Heimatland von der Kritik aufgenommen?

Sehr gut. Auch die Theaterfassung von Divadlo Feste, einem kleinen, sehr politischen Theater in Brno, stößt auf großes Interesse. Seit 2012 wird das Stück einmal im Monat aufgeführt. Übrigens freue ich mich sehr, dass das Theater Bremen gerade überlegt, im Herbst „Nationalstraße“ auf die Bühne zu bringen.

Und zuletzt noch die Frage: Vandams „tschechischer Humor“ zieht sich fast leitmotivisch durchs Buch. Kannst du kurz beschreiben, was ihn ausmacht?

Wir Tschechen sind für das gute Bier, die Knödel und den Humor bekannt, der im Sud der Ironie und Selbstironie gekocht wird. Wenn man „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“ liest, diese tschechische Bibel, versteckt sich hinter dem wunderbaren Witz von Jaroslav Hašek viel Düsteres, Zynisches und viel Trauer. Man lacht und zittert zugleich. Das ist auch mir beim Schreiben wichtig.


Fragen von Elsa Antolín / Luchterhand Literaturverlag

Nationalstraße

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