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Interview mit Martin Becker zu »Kleinstadtfarben«

„Mittlerweile bin ich recht stolz, einer der wenigen Autoren zu sein, deren Eltern aus dem knochenharten Bergarbeitermilieu kommen und der darüber schreibt.“

„Wir verhandeln nicht mit Kleinstädten“ – so wird gleich im Klappentext deines Romans „Kleinstadtfarben“ die Hauptfigur Pinscher zitiert, ein Polizist, der in seine Herkunftsstadt Mündendorf aus Köln zwangsversetzt wird. Warum eigentlich nicht?

Für Pinscher gibt es keinen schlimmeren Ort als Mündendorf: Das ist, zumindest am Anfang des Romans, die Wurzel allen Übels. Er ist von dort ja abgehauen, um der eigenen Herkunft zu entkommen. „Wir verhandeln nicht mit Terroristen“, das ist ja ein fast schon geflügeltes Wort geworden, das war das eiserne Prinzip des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt im Umgang mit der RAF. Ganz klar, Pinscher lässt sich gar nicht erst auf Verhandlungen mit seinem schlimmsten „Gegner“ ein, er will nicht eingelullt werden von der Lieblichkeit der Kleinstadt – aber dann ist das irgendwann gar nicht mehr so einfach.

Die Rückkehr in die Heimat ist ein wiederkehrendes Motiv in deinen Büchern. Den fiktiven Heimatort „Mündendorf“ kennen wir schon aus deinem Roman „Marschmusik“. Was fesselt dich daran?

Letztlich ist Mündendorf meiner Heimatstadt Plettenberg extrem ähnlich. Ich wollte damals unbedingt dort weg und erst nach dem Tod meiner Mutter vor zwei Jahren entwickelt sich paradoxerweise eine ganz innige Beziehung zur kleinen Stadt, aus der ich komme. In Wahrheit war die wahrscheinlich immer schon da, aber erst jetzt wird sie auch in gewisser Weise gelebt. Kurzum, der Ort, aus dem ich komme, dieses Mündendorf/Plettenberg, das lässt mir keine Ruhe, die Mittelgebirge wabern immer noch durch meine Träume und die Talsperren dort sind zu Sehnsuchtsorten geworden. Aber keine Sorge, im nächsten Buch geht es endlich ans Meer und die Kleinstadt kommt nur am Rande vor.

Ist Herkunft auch immer Heimat?

Nicht unbedingt. Die Herkunft ist ja fest definiert, die Heimat können wir meiner Meinung nach neu (er)finden oder für uns anders definieren. Bei mir selbst ist es sowieso schwierig: Heimat, so scheint mir, ist für mich die Sehnsucht nach dem Ort, an dem ich jeweils gerade nicht bin. Und über die Herkunft schreibe ich. Und werde so recht nicht damit fertig.

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in letzter Zeit öfters Gegenstand der Literatur, meistens jedoch in ihren Extremen: urbane Metropole versus strukturschwaches Land. Geraten die Kleinstädte dabei als literarischer Schauplatz aus dem Blickfeld?

Möglicherweise ja, wie eben auch die Fußgängerzonen dort veröden und man sich nicht selten abgehängt fühlt. Ich bin ja mittlerweile ein flammender Anhänger der Kleinstadt und denke manchmal sogar über eine Rückkehr nach – denn Luft und Licht der Kleinstadt an einem diesig kalten Frühlingsmorgen, das können Berlin oder Leipzig oder München nicht, jedenfalls nicht so.

In Mündendorf ist Pinscher zwischen Scham und Liebe für seine Arbeiterfamilie hin und hergerissen. Woher kommt dieses Hadern mit dem kleinbürgerlichen Milieu?

Dieses Hadern kennt vermutlich jede, kennt vermutlich jeder, der selbst aus einer Arbeiterfamilie kommt. Ich kann dabei nur von mir ausgehen, das war ein jahrelanger Prozess: Mir ist die Andersartigkeit gar nicht aufgefallen, die sich bis weit nach dem Studium hinzog, also: Was es heißt, aus diesem Milieu zu kommen und nicht laut zu rufen: „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ Aus der Erkenntnis wurde Wut, aus der Wut wurde ein Schreiben darüber, mittlerweile bin ich recht stolz, einer der wenigen Autoren zu sein, deren Eltern aus dem knochenharten Bergarbeitermilieu kommen, und der darüber schreibt. Dass die Frage des Milieus wohl für immer dafür sorgen wird, einen eher randständigen Platz im Kulturbetrieb zu haben (aber die Aussicht von dort ist wunderbar!), ist dabei natürlich eh klar.

Pinscher ist Kriminalkommissar und hat ständig mit Leichen zu tun, allerdings nicht im Zusammenhang mit Verbrechen, was in Romanen recht untypisch ist. Wie hast du für diese Figur recherchiert?

In meinem allernächsten Umfeld macht jemand Pinschers Arbeit im wirklichen Leben! Natürlich ein großes Geschenk aus Autorenperspektive – noch dazu fasziniert mich die Arbeit wirklich: Ich konnte beobachten, wie der Kriminaldauerdienst arbeitet (bei dem Pinscher ja in Köln noch tätig ist), ich habe viel gelernt über polizeiliche Arbeit und Adrenalin und die Erkenntnis, dass man schreckliche Dinge tausend Mal wiederholt, bis sie nicht mehr ganz so schrecklich sind. Eine der für mich spannendsten Arbeiten beim Kriminaldauerdienst kommt schwerpunktmäßig im Buch vor: die Todesursachenermittlung: Jemand ist verstorben, liegt länger schon in der Wohnung – und dann kommt der KDD und schaut nach den Umständen: Gab es ein Verbrechen? Gibt es Angehörige? Was wissen die Nachbarn? Das ist zumeist unspektakulär und trotzdem natürlich ein intensiver Teil der Kripo-Arbeit, darüber wollte ich schreiben.

Du beschreibst Pinscher als maßlosen Charakter: Er säuft, trinkt und spielt. Seine Beziehungen fangen genauso intensiv an, wie sie abrupt enden. Um seine alzheimerkranke Mutter kümmert er sich jedoch sehr liebe- und aufopferungsvoll. Ist „Kleinstadtfarben“ vor allem auch ein Buch über die Beziehung zu den eigenen Eltern?


Ja, und ich wusste es noch nicht mal von Anfang an. Ganz ehrlich? Es gab die Figur der Mutter zwar, als ich mit „Kleinstadtfarben“ begonnen habe. Ich wusste aber gar nicht genau, warum sie da ist und warum sie so präsent ist. Wenige Monate nach dem Beginn des Romans starb meine Mutter, und plötzlich war klar: Natürlich, das ist einerseits die Geschichte eines Typen bei der Polizei, der sein Leben nicht im Griff hat – andererseits aber auch eben ein Trauerbuch. Dazu muss ich sagen: Beide Elternteile sind in meinem Fall jetzt nicht mehr da. Es gibt eine Bodenlosigkeit, an die man sich manchmal auch lange nicht erinnert, an die man sich gewöhnt, von der man nur erzählen kann.

September 2021. Fragen von Elsa Antolín, Luchterhand Literaturverlag

© Luchterhand Literaturverlag. Die Nutzung des Interviews oder von Auszügen daraus ist nach Rücksprache mit der Presseabteilung möglich. Kontakt: elsa.antolin@penguinrandomhouse.de

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