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Interview mit Andrés Barba zu seinem Roman "Die leuchtende Republik"

Die Zerstörung des Mythos der kindlichen Unschuld

Andrés Barba
© Eduardo Carrera
Ihr Roman "Die leuchtende Republik" ist die Chronik der Ereignisse, die sich Mitte der 90er Jahre in San Cristóbal, einer fiktiven lateinamerikanischen Provinzstadt, zugetragen haben. Sie selbst stammen aus Spanien. Warum haben Sie sich entschieden, die Handlung Ihres Romans in Lateinamerika anzusiedeln?

Ich lernte meine Frau in Buenos Aires kennen, wo wir einige Jahre lebten. Später, nach einem Aufenthalt in New York, zogen wir nach Posadas, eine Stadt an der Grenze zu Paraguay und Brasilien, wo wir immer noch leben. Die Landschaft dort, der Dschungel von Misiones und der Paraná-Fluss, ist die der „Leuchtenden Republik“ sehr ähnlich.


Welche kulturellen oder literarischen Bindungen haben Sie zu dieser Region, zu dieser Landschaft?

Meine Liebe zu Argentinien und Lateinamerika im Allgemeinen ist vor allem auch eine literarische. Ich habe den Eindruck, dass hier die interessanteste Literatur meiner Generation geschrieben wird. Europa ist im Großen und Ganzen eine alte, blutleere Kuh, die glaubt, alles sei schon vollbracht, und die auf immer dekadentere Weise kulturelle Formeln reproduziert (selbst unsere besten Schöpfer sind im Grunde dekadent: Houellebecq, Haneke...etc.), während Lateinamerika jung, wagemutig und kreativ ist. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt das Beste der spanischsprachigen Literatur zweifellos aus Lateinamerika.


In den Straßen von San Cristóbal tauchen eines Tages eine Gruppe von Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren auf. Ihre Herkunft ist unbekannt. Die anfangs gleichgültige Haltung der Einwohner der Stadt wird nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung in einem Supermarkt zunehmend angespannter. Hat die Handlung einen realen, konkreten Hintergrund?


Ich wurde durch mehrere reale Dinge inspiriert: Zum einen durch die relativ häufige Präsenz von Straßenkindern in vielen lateinamerikanischen Großstädten wie Mexiko City oder Sao Paulo. Gruppen von geflüchteten Kindern aus Osteuropa oder Nordafrika finden wir auch in vielen europäischen Städten. Zum anderen sah ich einen Dokumentarfilm, der mir den Schlüssel zum Roman lieferte: "The Children of Leningradsky", ein eindringlicher Film aus den 80er Jahren unter der Regie von Andrej Celinski und Hanna Polak. In Ihm richten die Regisseure ihr Augenmerk auf die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen einer „Lumpenkindergemeinschaft“, die in den U-Bahnschächten lebten. Mich interessierte die respektvolle Herangehensweise der Filmemacher. Ihre Perspektive war nicht voyeuristisch und ließ vor allem die "Erwachsenenlogik" aus dem Spiel. In gewisser Weise schien diese Gemeinschaft einer anarchistischen Utopie am nächsten zu kommen.


Die Ereignisse sind besonders verstörend, weil sie von fröhlichen, verspielten Kindern begangen werden, die den Söhnen und Töchtern der Einwohner von San Cristóbal so ähnlich sind. In der Stadt entsteht eine feindliche Stimmung, die irgendwann in Gewalt umschlägt. Das Buch handelt von unserer Vorstellung von Kindheit und der Verwirrung, die durch die Zerstörung des Mythos der kindlichen Unschuld entsteht. Warum interessiert Sie dieses Thema?

Die Kindheit ist die große Fiktion unserer westlichen Kultur. Nach der Französischen Revolution und dem "offiziellen" Tod Gottes ist jenes Paradies, in das wir uns später begeben würden, aus der geistigen Landschaft verschwunden. Die europäische intellektuelle Tradition (insbesondere die französische Aufklärung) hat dieses verlorene himmlische Paradies auf ein Paradies übertragen, in dem wir bereits gewesen sind, ohne es zu wissen: die Kindheit. Das Kind wurde so zum "göttlichen Tier": frei in seinen Instinkten, ohne bürgerliche Pflichten, umsorgt und behütet, lebt es auf einem kulturellen und geistigen Spielplatz. Wir haben Glück erfahren, weil wir einst Kinder waren. Von dem Moment an, in dem die Kindheit der großen Fiktion des verlorenen Glücks dient, müssen die Kinder diese Idee des Glücks für uns darstellen. Doch diese Darstellung kollidiert mit einer offensichtlichen Tatsache: Die Kindheit ist ein Alter, das wie jedes andere von Leid und Schmerz geprägt ist. Das Interessante daran ist: Wovor wollen wir uns schützen, indem wir diese kulturelle Fiktion der Kindheit aufrechterhalten, und warum rebellieren wir so sehr gegen alles, was sie gefährdet? In diesem Roman wollte ich auch zeigen, dass es sich um eine partielle Fiktion handelt, weil wir sie nur auf bestimmte Kinder an bestimmten Orten anwenden. Die erste Welt, insbesondere Europa und die USA, hat gezeigt, wie unnachgiebig sie gegenüber "anderen“ Kindheiten sein kann, die nicht in ihre Glücksfabel passen.


Die Kinder haben eine fast organische Organisationsform, ohne Hierarchien. Sie kommunizieren in einer neuen Sprache, die sie spielend entwickelt haben. Sie bilden eine "Republik", die vom geordneten Leben der Erwachsenen völlig losgelöst ist. Steckt darin die Idee der anarchistischen Utopie, von der Sie gesprochen haben?


Ja, natürlich, da kann man sie wiederfinden. In diesem Sinne ist dieser Roman ein Erbe der Debatten zwischen Zivilisation und Barbarei, die Joseph Conrad in seinen Romanen aufgeworfen hat. Diese Debatten müssen, um wahrhaft zu sein, notwendigerweise mehrdeutig sein. Wer sind in diesem Zusammenhang die Vertreter der Vernunft und der Menschenwürde: die Stadt, die den Kindern hinterherjagt, oder die wilden Kinder, die auf eine ganz eigene Weise ihre Vorstellungen von Gemeinschaft ausleben? Die Kinder im Roman zeigen ein anderes, eigenes Gemeinschaftsideal auf, sie gehen sogar so weit, dass sie eine neue Sprache erfinden. Die alte Sprache ist nicht mehr brauchbar, weil auch ihre Vorstellung von Gemeinschaft eine andere ist. Diese Erfahrung haben wir alle auch ein wenig während der Pandemie gemacht. Das Gefühl, dass Worte unsere Erfahrungen nicht mehr richtig greifen können. Es ist schade, dass wir dieses Gefühl nicht weiter fortgesetzt haben bis zu dem Punkt, wo das System "aufgebrochen" und etwas Besseres, oder zumindest Anderes hätte entstehen können.


Sie haben bereits Joseph Conrad erwähnt. In Ihrer Lektüre schwingen weitere Klassiker wie William Goldings "Herr der Fliegen" mit. Welche Bücher haben Sie inspiriert?

Sehr viele. Für mich ist der große Klassiker der anarchistischen Kinderliteratur der wunderbare Peter Pan. Das gemeinschaftliche und ausschweifende Ideal Peter Pans bildet das Herz dieses Buches. Auch viele wunderbare Kindergeschichten, wie der Rattenfänger von Hameln, Marcel Schowbs „Kinderkreuzzug“, Jean Cocteaus „Kinder der Nacht“, die bösen Mädchen in Marina Zwetajewas Autobiografie oder Agota Kristofs „Das große Heft“. Besonders wichtig war für mich „Das Leben der Bienen“ von Maurice Maeterlinck. Es lieferte mir eine sehr klare Vorstellung davon, wie ich eine utopische Gesellschaft aufbauen könnte.


Der Erzähler, der ehemalige Leiter der städtischen Sozialabteilung, versucht Jahre später, die Ereignisse zu rekonstruieren. Auf der Suche nach Antworten zieht er zahlreiche Versionen heran, die im Laufe der Zeit entstanden sind. Er untersucht Augenzeugenberichte, Fernsehsendungen, Zeitungen und sogar das Tagebuch eines jungen Mädchens. Vor den Leserinnen und Lesern baut sich ein komplexes Bild auf, doch die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet: Ist es also unmöglich, die Wahrheit zu finden?

Aus meiner Zeit als Philosophiestudent habe ich großen Respekt vor Habermas, insbesondere vor seiner Konsenstheorie der Wahrheit. Die aristotelische Wahrheit mit ihrer Idee einer einzigen Wahrheit ist unerreichbar. Noch gefährlicher ist die Verquickung von Subjektivität und Faktizität, die wir in diesen postfaktischen Zeiten erleben. Ich denke gerne mit Habermas, dass die Wahrheit ein Konsenszustand ist, der erreicht werden kann, wenn wir so viele Stimmen wie möglich hörbar machen, auch wenn sie widersprüchlich sind. Je mehr wir uns bewusst sind, dass es die Wahrheit nicht gibt, desto vorsichtiger werden wir als Gesellschaft, wenn wir festlegen wollten, was passiert ist, insbesondere, wenn wir mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden. In diesem Buch wollte ich den Leserinnen und Lesern zeigen, wie eine Wahrheit „konstruiert“ wird, als Summe vieler verschiedener Stimmen und Register. Die Wahrheit ist wie Frankensteins Monster.


Wenn wir versuchen, eine Brücke zum heutigen Spanien und Europa zu schlagen, kommt uns das Thema der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Sinn. Würden Sie sagen, dass Ihr Buch eine soziale und politische Botschaft hat?

In Spanien findet gerade eine sehr besorgniserregenden Dynamik statt (wie in der restlichen Welt auch), bei der, getrieben von Rechtspopulismus und einer Form von Antipolitik, jede Debatte de facto unmöglich gemacht wird. Es ist ein Conradsches Dilemma: Kann man mit einer gewalttätigen Person ein ausgewogenes Gespräch führen? Wie kann man sich wehren, wenn man zur sinnlosen Zielscheibe und zum Fluchtventil von jemandem wird, der nicht auf Argumente hören möchte? Wir haben, so fürchte ich, noch keinen geeigneten Umgang dafür gefunden. Die alte Politik erweist sich als unfähig. In Spanien wird außerdem die alte Bürgerkriegsdebatte wieder aufgebrochen, „wir“ gegen „sie“ , „Rote“ gegen „Faschisten“. Das ist nicht nur unproduktiv und langweilig, sondern auch falsch, denn jeder verkörpert darin nur eine Rolle. Wir alle haben heutzutage ein ernstes Problem mit Authentizität.
Was die Kinder betrifft, so hat die populistische Rechte die Situation ausgenutzt, um weiter rassistische Ressentiments zu schüren. Eine „suspekte“ Kindheit wird einer „normalen“ Kindheit gegenüber gestellt. Einwandererkinder sind gefährlich, spanische Kinder gut und willkürliche Opfer von Gewalt. Die politische Lüge funktioniert gerade deshalb so gut weil sie so plump ist. Dies verleiht ihr den Charakter einer mythologischen Fabel. Auf der einen Seite stehen unsere Kinder und auf der anderen Seite ihre Kinder, unsere müssen geschützt werden, ihre müssen abgeschoben und eingesperrt werden.


Fragen und Übersetzung: Elsa Antolín / Luchterhand Literaturverlag
© Luchterhand Literaturverlag. Die Nutzung des Interviews oder von Auszügen daraus ist nach Rücksprache mit der Presseabteilung möglich

Die leuchtende Republik

Andrés Barba

Andrés Barbas international gefeierter Roman ist eine mitreißende Geschichte über die drängenden moralischen Fragen unserer Zeit: die Angst vor dem Fremden, die Verletzlichkeit der Zivilisation und den schmalen Grat zwischen Vernunft und Paranoia.

Dichter grüner Regenwald, tropische Trägheit: San Cristóbal ist eine verschlafene lateinamerikanische Provinzstadt, bis eines Tages wildfremde Kinder von der anderen Seite des schlammig-breiten Eré-Flusses dort einfallen und die Ruhe stören. Niemand kennt sie. Niemand weiß, woher sie kommen. Niemand versteht ihre Sprache. Sie haben Hunger, sie stehlen, sie jagen den Menschen Angst ein.

Die Bewohner von San Cristóbal stehen zunehmend unter Druck: Wie lange wollen sie dem Ganzen tatenlos zusehen? Wie unschuldig sind Kinder? Darf man Böses mit Bösem vergelten?

Erscheint am 14. September 2022

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