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Porträt Titus Müller © Sandra Frick

SPECIAL zu den Romanen von Titus Müller

Aufstand in der DDR: Autor Titus Müller schreibt über den 17. Juni 1953

Titus Müllers Lesungen sind legendär. Der Schriftsteller erzählt derart spannend von der Vergangenheit, als sei er dabei gewesen. Mit seinem neuen Buch möchte der preisgekrönte Autor, der gelegentlich als „deutscher Ken Follett“ bezeichnet wird, seine Leser in das Jahr 1953 entführen. In diesen Tagen beginnt eine neue Lesereise durch ganz Deutschland. Vorab hat die Historikerin Dr. Barbara Ellermeier mit Titus Müller gesprochen.
Barbara Ellermeier: Titus, in Ihrem neuen Buch spielt ein Spion eine zentrale Rolle. Wer ist er? Und was ist seine Aufgabe?

Titus Müller: Titus Müller: Der Spion Ilja Kolschetow dringt – während Stalin am 5. März 1953 noch mit dem Tode ringt – in dessen Büro ein und stiehlt belastendes Material. Später bearbeitet einen Ministerialdirigenten Konrad Adenauers, und er liebt ein deutsches Mädchen.
In meinem Roman heißt er Ilja; in Wirklichkeit hieß er anders. Im Nachwort des Romans gebe ich den Namen preis. Ich habe meine Figur einem Agenten und Auftragsmörder des russischen Geheimdienstes nachempfunden, den es tatsächlich gab, und der einen erstaunlichen Weg genommen hat.

Barbara Ellermeier: Sie sind in der DDR geboren und aufgewachsen. Ihre Kindheit, das haben Sie einmal gesagt, sei „keine Kindheit in schwarz-weiß“ gewesen. Als Sie den neuen Roman verfasst haben, war dies auch eine Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit Ihrer eigenen Familie?

Titus Müller: Obwohl ich ein guter Schüler war, war ich als Pastorensohn unserer Klassenlehrerin suspekt. Morgens war oft eine Diskussion über Politisches angesetzt. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da.
Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, musste einmal meinen Schulranzen durchsuchen, er kam mit zwei starken Jungs, als fürchte er, ich könnte mich wehren, und entschuldige sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet; ich wusste ja, er tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie über die Sache.
Einmal habe ich erlebt, wie Pionierfunktionäre, Lehrer und Eltern zu Gericht saßen über einen Mitschüler aus meiner Klasse. Unser Klassenraum war zum Gerichtssaal umgebaut: Vorn saßen die Erwachsenen wie Richter und Schöffen, der Angeklagte hatte in der Mitte des Raumes allein an einem Tisch zu sitzen, wir anderen saßen als Publikum hinten und an den Rändern. Ich erinnere mich an den Jungen als starken Kerl, vor dem wir alle Respekt hatten. Die Erwachsenen nahmen ihn aber derart in die Mangel, dass er am Ende mit tränenüberströmtem Gesicht dasaß. Ihrem scharfen Verhör war er nicht gewachsen gewesen. – Ein Schulgericht wie zu Beginn meines Romans »Der Tag X« ist mir erspart geblieben, das war vor meiner Zeit. Aber ich kann mich in diese Situation hineinfühlen.

Barbara Ellermeier: »Der Tag X« heißt Ihr neues Buch, und es ist eine spannende Spionagegeschichte, die zum Politthriller wird. Es geht um Konrad Adenauer in Bonn, um die DDR, um die Sowjet-Führung in Moskau. Zugleich zeichnen Sie die persönlichen Schicksale von ganz normalen DDR-Bürgern nach: Linientreue Sozialisten. Mitläufer. Verliebte junge Leute, die sich ein gemeinsames Leben aufbauen wollen. Gibt es historische Vorbilder für Ihre Romanfiguren?

Titus Müller: Einige! Hier nur ein Beispiel. In Halle stürmten die Aufständischen den Roten Ochsen, ein Gefängnis. Die Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer und erschossen mehrere Aufständische. Darunter ein Unbeteiligter, Gerhard Schmidt, der bloß am Tor vorbeigegangen war. Seine 25jährige Frau ging neben ihm, als ihn die Kugel traf. Er wurde nur 27 Jahre alt.
Als ich mich im Landesarchiv durch die Polizeiakten grub, konnte ich kaum glauben, was anschließend geschah: Man beschloss, aus Gerhard Schmidt einen Helden zu machen.
Die SED karrte 4.500 Menschen zu seiner Beerdigung an, vor der Grablegung wurde der Sarg mit Fahnen und Kapelle durch die ganze Stadt getragen.
Die Witwe musste gute Miene zum bösen Spiel machen und mitmarschieren, während sie in die verbitterten Gesichter der Passanten blickte. Man hatte ihr schwere Strafen angedroht, sollte sie reden. Dabei wusste sie, dass ihr Mann keineswegs gegen den Aufstand gewesen war, er war ein kritischer Kopf gewesen, ein Querdenker. Eine Passantin hielt diese Verlogenheit nicht aus und rief laut: „Die VP, die Schweine, erst haben sie ihn erschossen, jetzt marschieren sie mit.“ VP meinte die Volkspolizei. Die Frau wurde sofort festgenommen.
Das Telegramm, das Erich Honecker an die Witwe schrieb, ist im Originalwortlaut im Roman abgedruckt. Nur die Namen habe ich geändert.

Barbara Ellermeier: Ihre Romane sind genauestens recherchiert. Wo haben Sie dieses Mal Material für Ihr Buch gefunden?

Titus Müller: Ich habe Zeitzeugen interviewt, die beim Aufstand dabei waren, habe einen Spionageexperten aufgesucht, war im Gefängnis, im Archiv. Und ich habe mich stundenlang mit einer Uhrmacherin unterhalten. Eine Hauptfigur im Roman ist nämlich Uhrmacher. Seit dem Gespräch mit der Uhrmacherin will ich mir eine richtig tolle, teure Uhr kaufen. Ich spare noch ...

Die Fragen stellte die Historikerin Dr. Barbara Ellermeier

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Titus Müller im Interview zu »Nachtauge«

Das Interview führte die Historikerin Dr. Barbara Ellermeier

Barbara Ellermeier: Titus, Sie haben einmal gesagt: Eine Zeit muss Ihnen »fremd genug« sein, damit Sie darüber schreiben können. Wie die dreckigen Hinterhöfe in Berlin um 1912. Die Bettwanzen. Die Gaslaternen, von denen Sie in Ihrem Roman »Tanz unter Sternen« erzählt haben. Im neuen Roman »Nachtauge« schreiben Sie nun über das Jahr 1943. War Ihnen das »fremd genug«?

Titus Müller: O ja. Eine Zeit, in der man im Restaurant Fettmarken und Fleischmarken abgeben musste, bevor man ein Gericht erhalten hat, ist mir fremd. Eine Zeit, in der die Schulen »Heldengedenkfeiern« abgehalten haben für die an der Front gefallenen Schüler. In der Frauen als »Flittchen« galten, wenn sie Hosen trugen. Eine Zeit von Gestapogefängnissen, aber auch von mutigen Männern und Frauen, die Widerstand geleistet haben.
Natürlich gab es damals vieles, das wir heute kennen: Coca Cola (sogar in Nazideutschland), Straßenbahnen, Heinz-Rühmann-Filme. Diese Mischung aus fremd und vertraut hat’s für mich spannend gemacht, über das Jahr 1943 zu schreiben.

Barbara Ellermeier: In manchen Familien ist das Dritte Reich noch immer sehr präsent durch die Erzählungen der Großeltern. War das bei Müllers ein Thema – die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg?

Titus Müller: Wir wollten als Kinder immer wieder hören, wie die Großmutter es durch das brennende Dresden geschafft hat. Und wie der Großvater, dem man befohlen hatte, beim »Säubern« einer russischen Stadt mitzumachen, auf einen Russen traf, und sie sahen sich an, und keiner von beiden hat geschossen. Mein Großvater ist einfach weitergegangen. Dafür hätte er hingerichtet werden können, hat er uns immer erzählt, oder der Russe hätte ihn erschießen können. Bei der Oma väterlicherseits gab es Zwangsarbeiter auf dem Bauernhof. Ein Thema, das mich auch im Roman »Nachtauge« beschäftigt.

Barbara Ellermeier: Haben Sie bei Ihren bisherigen Projekten freier fabuliert als dieses Mal? Immerhin könnten ja jetzt Zeitzeugen kritisieren: »Das war gar nicht so, wie Sie es beschrieben haben«?
Historische Karte von Neheim. Klicken Sie auf das Bild, um die Ansicht zu vergrößern.
Titus Müller: »Nachtauge« ist und bleibt ein Roman, bei aller Recherche und Genauigkeit. Ich habe bewusst die Hauptfiguren umbenannt (die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit – einer Liebe zwischen einem NS-Mitarbeiter und einer ukrainischen Zwangsarbeiterin), um mehr Freiheiten zu haben, ihr Denken und Fühlen zu beschreiben.

Barbara Ellermeier: Sind Sie an die Orte gefahren, wo der Roman spielt? Wie präsent ist das Geschehen dort heute noch?

Titus Müller: Das Zwangsarbeiterinnenlager, in dem sich der Wächter in die Ukrainerin verliebte, gibt es nicht mehr. Aber ich bin durch Neheims Straßen spaziert, und ich war natürlich auf der Möhnetalsperre, die damals von den Briten bombardiert wurde. Die schiere Größe dieses Bauwerks beeindruckt mich, auch heute noch. Einige Fotos meiner Recherchereise wurden für die Verlagsvorschau und für den Trailer verwendet.

Barbara Ellermeier: Manchmal liest man: Die Bombardierung der Talsperren sei »kriegsentscheidend« gewesen. Letztlich habe diese Aktion eine Wende im Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen ... Titus, wie bedeutsam war die »Operation Chastise« wirklich?

Titus Müller: Sie war tatsächlich kriegsentscheidend. Das war auch uns Deutschen sofort klar. Durch die enorme Flutwelle aus den Stauseen wurden nicht nur Fabriken und Kraftwerke im Ruhrgebiet, der deutschen »Waffenschmiede«, fortgerissen. Vor allem war die Moral der Bevölkerung hart getroffen. Wenn man sich Fotos ansieht von der verwüsteten Landschaft, von verknoteten Eisenbahnschienen und schwimmenden Häusern, versteht man das. Aus diesem Grund zog Rüstungsminister Speer zwanzigtausend Arbeiter der Organisation Todt vom Atlantikwall ab, um die Möhnetalsperre so schnell wie möglich wieder aufzubauen.
Viel entscheidender war aber, dass Winston Churchill durch die Bombardierung der Talsperren plötzlich wieder Rückhalt bei den Amerikanern fand. Dort war man skeptisch geworden, was die Ziele der Briten anging. Churchill benutzte den großen Erfolg als Türöffner bei seiner Rede vor dem Joint Meeting des amerikanischen Kongresses am 19. Mai 1943, zwei Tage nach der Bombardierung, und konnte wieder das Vertrauen der Amerikaner gewinnen. Kurze Zeit später einigte man sich auf die »Operation Overlord«, die Invasion in der Normandie.

Barbara Ellermeier: Die NS-Zeit ist ja eine Zeit voller Zwänge, Leid, Grauen. Hat Sie irgendetwas besonders angerührt?

Titus Müller: Eben diese Liebe des Nazi-Lagerwächters. Er wusste, dass die Liebesbeziehung mit einer ausländischen Zwangsarbeiterin als »Blutschande« galt und streng bestraft werden würden, darauf standen der Tod oder KZ-Haft.
Dass er trotzdem an »seiner« Elena festgehalten hat (im Roman heißt sie Nadjeschka), auch bei aller Propaganda über »dumme, wertlose Steppenmenschen«, und sie beschützte und für sie den Kopf hinhielt, hat mich fasziniert.

Barbara Ellermeier: Wenn jemand mehr über diese Zeit erfahren möchte: Welche Bücher zu 1943 würden Sie ihm ans Herz legen? Und welche originalen Quellen?

Titus Müller: Walter Kempowskis »Echolot« hat mich sehr beeindruckt. Auch die Tagebücher von Victor Klemperer. Und Friedrich Kellners »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«.

Barbara Ellermeier: Sie haben sich mit Ihren Büchern vom 9. über das 14. und 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1943 »vorgearbeitet«. Kommt von Ihnen als Nächstes der große Gegenwartsroman?

Titus Müller: Für den nächsten Roman geht‘s erstmal einen kleinen Schritt zurück: in das 19. Jahrhundert.

Barbara Ellermeier: Sie haben zugestimmt, dass Ihre Leser Ihnen bei der Arbeit am neuen Buchprojekt ein wenig »über die Schulter schauen« dürfen: Es wird eine Video-Interviewreihe mit Ihnen geben. Einmal monatlich, evtl. auch öfter, werden Sie erzählen, wie Sie mit Ihrem neuen Buchprojekt vorankommen. Wo kann man sich anmelden?

Titus Müller: Gleich hier. Ich berichte von meinem Schreibtisch: Wie es vorangeht. Wie ich mich organisiere. Was ich mache, wenn es mal nicht so gut läuft. Ein Jahr lang berichte ich – bis der Roman fertig ist. Fragen stellen können die Leser auch. Und wir verraten die besten Quellen, wo man Material für Historische Romane findet. Ehrlich gesagt bin ich selber gespannt.

Interview mit freundlicher Genehmigung von Barbara Ellermeier
barbaraellermeier.de/blog/

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