Es gibt Hörbücher, bei denen der Weg zur Arbeit einfach zu kurz ist, würde man doch nach der Ankunft im Büro am liebsten nicht aus dem Auto steigen, weil man einfach wissen will, wie die Geschichte an der aktuellen Stelle weitergeht. Bücher, bei denen man so intensiv Anteil nimmt an den Charakteren, ihren Erlebnissen, Erfahrungen und Emotionen, dass man gar nicht aufhören möchte, der Stimme der Sprecherin zu lauschen. Erzählungen, bei denen man hier und da einen Kloß im Hals hat und mit den Protagonisten das eine oder andere Tränchen vergießt. Zumindest ging es mir so bei "Fünf Sommer mit dir". Die Originalausgabe des Romans erschien 2022 unter dem Titel "Every Summer After" im Berkley Verlag und hat mittlerweile z. B. auf Amazon über 38.000 Rezensionen – ein Zeichen dafür, dass dieses Buch die Aufmerksamkeit unglaublich vieler Leserinnen und Leser auf sich gezogen hat.
Doch wie kann es sein, dass ein Coming-of-Age-Roman auch mich so in seinen Bann zieht – diese Phase meines Lebens habe ich doch schon vor langer Zeit hinter mir gelassen? Fünf Sommer mit dir erzählt die Geschichte von Percephony „Percy“ Frazer und Sam Florek. Die beiden lernen sich im Alter von dreizehn Jahren kennen, als Percys Eltern ein Ferienhaus an einem See im kanadischen Barry’s Bay erwerben, neben dem die Familie Florek zu Hause ist. Die Floreks, das sind Mutter Sue und die beiden Söhne Charlie (damals 15) und Sam (13); der Vater ist vor vielen Jahren unerwartet verstorben.
Begeistert hat mich an diesem Roman, der zwischen Vergangenheitsgeschichte und Gegenwartshandlung hin- und herwechselt und zugegebenermaßen nicht viele Ereignisse schildert, aber viele Begegnungen und Gespräche zwischen Sam und Percy, vor allem eines: die Offenheit und Direktheit, mit der die beiden Charaktere miteinander agieren. Viel zu oft begegnet man in Romanen Paaren, die die eigenen Ecken und Kanten, die wahren Gefühle und Gedanken voreinander verbergen, weil sie sich vor der Reaktion und auch der Ablehnung ihres Gegenübers fürchten. Anders Percy und Sam: Die beiden reden über alles – ob es nun Percys Vorliebe für Horrorfilme und ihre selbstgeschriebenen Geschichten sind, das Mobbing durch ehemalige Freundinnen oder Sams Lebensträume oder auch das Erwachen ihrer Sexualität. Ganz offen reden die beiden über diese und ähnliche Themen – ohne etwas zu beschönigen, ohne irgendwelche Masken zu tragen und dem anderen Dinge vorzuspielen. Erst, als sie dies nicht länger tun, als sie nicht länger offen und ehrlich zueinander sind, kommt es nicht nur zu Problemen, sondern auch zum Bruch.
Nicht an einer Stelle habe ich mich als erwachsene Hörerin dabei erwischt, dass ich dachte: „Ach, ihr seid ja noch so jung und naiv.“ Stattdessen hat mich ihr Miteinander begeistert und auch zutiefst berührt, träumt doch wahrscheinlich jede(r) von uns davon, mindestens eine Freundin, einen Freund zu haben, bei dem man sich so „nackt und bloß“ zeigen kann.
Natürlich entwickelt sich diese tiefe und innige Freundschaft zu einer Liebesbeziehung, aber es ist nicht Liebe auf den ersten Blick – Gott sei Dank –, und die Freundschaft ist vom ersten Moment an da. Eine Freundschaft, die über die Jahre wächst und sich vertieft. Auf der einen Seite die etwas ziellose Percy, das Einzelkind schon ein wenig älterer, intellektueller Eltern, die ihr jeden Wunsch erfüllen. Sie erlebt gerade zum ersten Mal Mobbing (Ablehnung) und wird deshalb in ihrem Leben alles tun, um den Menschen in ihrem Umfeld zu gefallen. Auf der anderen Seite der zielorientierte Sam, Sohn einer alleinerziehenden Witwe, der schon als Teenager weiß, dass er einmal Arzt werden will, um anderen Menschen den schrecklichen Verlust zu ersparen, den er in seiner Kindheit erfahren hat.
Bei all diesen Lobeshymnen will ich nicht verschweigen, dass die locker-luftig geschriebene Geschichte keinen klassischen Spannungsbogen hat, wenn sich auch die Spannung durch die Rückblicke zunehmend aufbaut, weil Autorin Casey Fortune um die große Schuld, die Percy auf sich geladen und die zum Scheitern der Beziehung geführt hat, ein Geheimnis macht. Dass es wenig Handlung gibt, dafür aber mehr Dialoge und Zwischenmenschliches, und dass die zentralen Charaktere im Hinblick auf ihr Äußeres ein wenig zu perfekt geraten sind (das musste die Autorin übrigens auch nicht ein Dutzend Mal erwähnen – ich hatte es recht schnell verstanden 😉).
Über das Hörbuch
Gelesen wird das Hörbuch von der deutschen Schauspielerin und Synchronsprecherin Janin Stenzel (*1983). Sie besuchte die Hochschule Konrad Wolf für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg, bevor sie durch Theater, Film und Fernsehen bekannt wurde. Als Sprecherin kennt man sie etwa als die deutsche Stimme von Mia Wasikowska; ebenso hat sie in „Der Medicus“ die weibliche Hauptrolle, gespielt von Emma Rigby, gesprochen. 2009 gewann sie den Ensemblepreis beim Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielschulen in Zürich. Bei der Verfilmung von Veronica Roths Roman „Die Bestimmung“ lieh sie ihre Stimme der Figur Tris.
Stenzel hat eine sehr angenehme Sprecherstimme. Oft hadere ich mit zu hohen weiblichen Sprecherstimmen, Stimmen, die zu jugendlich klingen, aber Stenzel hat es geschafft, mich gleich „einzufangen“ und in die Geschichte hineinzuversetzen.
Mein Fazit: Ein großartiger Sommerroman – und ich lese eigentlich überhaupt keine Sommerromane! Doch Autorin Casey Fortune ist es von der ersten Seite an gelungen, mich an den See in Kanada zu entführen. In die warmen Sommerabende in wunderbarer Natur, die Gespräche mit Freunden … Und trotz einiger kleiner Kritikpunkte hat mir das Lesen des kurzweiligen Buches ungemein viel Freude bereitet und ich würde liebend gern mehr von dieser Autorin lesen.
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