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GROSSMUTTER UND DAS MÄDCHEN

Großmutter hat ein Mädchen auf der Straße gesehen. Sie ruft ihm zu vom Balkon, es solle keine Angst haben, sie werde es holen. Rühr dich nicht! Großmutter steigt auf Strümpfen drei Stockwerke hinunter, und das dauert, das dauert, die Knie, die Lunge, die Hüfte, und als sie dort ankommt, wo das Mädchen gestanden hat, ist das Mädchen fort. Sie ruft es, ruft nach dem Mädchen. Autos bremsen, umkurven meine Großmutter in den dünnen schwarzen Strümpfen auf der Straße, die einmal den Namen Josip Broz Titos getragen hat und heute den Namen des verschwundenen Mädchens trägt als Hall, Kristina!, ruft meine Großmutter, ruft ihren eigenen Namen: Kristina! Es ist der 7. März 2018 in Višegrad, Bosnien und Herzegowina. Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt.

AN DIE AUSLÄNDERBEHÖRDE


Am 7. März 1978 wurde ich in Višegrad an der Drina geboren. In den Tagen vor meiner Geburt hatte es ununterbrochen geregnet. Der März in Višegrad ist der verhassteste Monat, weinerlich und gefährlich. Im Gebirge schmilzt der Schnee, die Flüsse wachsen den Ufern über den Kopf. Auch meine Drina ist nervös. Die halbe Stadt steht unter Wasser.
Im März 1978 war es nicht anders. Als bei Mutter die Wehen anfingen, brüllte ein heftiger Sturm über der Stadt. Der Wind bog die Fenster vom Kreißsaal und brachte Gefühle durcheinander, und mitten in einer Wehe schlug auch noch der Blitz ein, dass alle dachten, aha, soso, jetzt also kommt der Teufel in die Welt. So unrecht war mir das nicht, ist doch ganz gut, wenn Leute ein bisschen Angst haben vor dir, bevor es überhaupt losgeht.
Nur gab all das meiner Mutter nicht unbedingt ein positives Gefühl, den Geburtsverlauf betreffend, und da die Hebamme mit der gegenwärtigen Situation ebenfalls nicht zufrieden sein konnte, Stichwort Komplikationen, schickte sie nach der diensthabenden Ärztin. Die wollte, so wie ich jetzt, die Geschichte nicht unnötig verlängern. Es reicht vielleicht zu sagen, dass die Komplikationen mithilfe einer Saugglocke vereinfacht wurden.
Dreißig Jahre später, im März 2008, musste ich zum Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf bei der Ausländerbehörde einreichen. Riesenstress! Beim ersten Versuch brachte ich nichts zu Papier, außer dass ich am 7. März 1978 geboren worden war. Es kam mir vor, als sei danach nichts mehr gekommen, als sei meine Biografie von der Drina weggespült worden.
Die Deutschen mögen Tabellen. Ich legte eine Tabelle an. Trug auch ein paar Daten und Infos ein – Besuch der Grundschule in Višegrad, Studium der Slavistik in Heidelberg –, es kam mir jedoch vor, als hätte das nichts mit mir zu tun. Ich wusste, die Angaben waren korrekt, konnte sie aber unmöglich stehen lassen. Ich vertraute so einem Leben nicht.
Ich setzte neu an. Schrieb wieder das Datum meiner Geburt und schilderte den Regen und dass mir Großmutter Kristina meinen Namen gegeben hat, die Mutter meines Vaters. Sie kümmerte sich auch in den ersten Jahren meines Lebens viel um mich, da meine Eltern studiert haben (Mutter) beziehungsweise berufstätig waren (Vater). Sie war bei der Mafia, schrieb ich der Ausländerbehörde, und bei der Mafia hat man viel Zeit für Kinder. Ich lebte bei ihr und Großvater, am Wochenende bei den Eltern.
Ich schrieb der Ausländerbehörde: Mein Großvater Pero war mit Herz und Parteibuch Kommunist und nahm mich mit auf Spaziergänge mit den Genossen. Wenn sie über die Politik sprachen, und das taten sie eigentlich immer, schlief ich super ein. Mit vier konnte ich mitreden.
Ich radierte das mit der Mafia wieder aus, man weiß ja nie. Ich schrieb stattdessen: Meine Großmutter besaß ein Nudelholz, mit dem sie mir stets Prügel androhte. Es kam nicht dazu, ich habe aber bis heute ein reserviertes Verhältnis zu Nudelhölzern und indirekt auch zu Teigwaren. Ich schrieb: Großmutter hatte einen goldenen Zahn. Ich schrieb: Ich wollte auch einen goldenen Zahn, also malte ich einen meiner Schneidezähne mit gelbem Filzstift an. Ich schrieb der Ausländerbehörde: Religion: keine. Und dass ich quasi unter Heiden aufgewachsen sei.
Dass Großvater Pero die Kirche den größten Sündenfall des Menschen nannte, seit die Kirche die Sünde erfunden hat.
Er stammte aus einem Dorf, in dem der Heilige Georg, Georg, der Drachentöter, verehrt wird. Beziehungsweise, wie mir damals schien, mehr so die Drachenseite. Drachen besuchten mich früh. Vom Hals der Verwandten baumelten sie als Anhänger, Stickereien mit Drachenmotiv waren ein beliebtes Mitbringsel, und Großvater hatte einen Onkel, der schnitzte kleine Drachen aus Wachs und verkaufte die als Kerzen auf dem Markt. Das war schon gut, wenn man den Docht anzündete und das Viech aussah, als würde es ein Feuerchen speien.
Als ich fast alt genug war, zeigte mir Großvater einen Bildband. Die fernöstlichen Drachen fand ich am besten. Die sahen grausam, aber auch bunt und lustig aus. Die slawischen Drachen sahen nur grausam aus. Auch die, die angeblich nett waren und kein Interesse an Verheerung oder Jungfrauenentführung hatten. Drei Köpfe, krasse Zähne, so was.
Ich schrieb der Ausländerbehörde: Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Gott, wie viel Penicillin ich dort in den Arsch gepumpt bekommen habe, schrieb ich, ließ es aber nicht stehen. Man will ja eine womöglich etepetete Sachbearbeiterin mit solchem Vokabular nicht verstören. Ich änderte also Arsch zu Gesäß. Das kam mir aber falsch vor, und ich entfernte die ganze Info.
Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte mir der Rzav die Zerstörung der Brücke in unserem Viertel, der Mahala. Ich sah zu vom Ufer, wie der Nebenarm der Drina die Brücke so lange mit Frühling in den Bergen bearbeitete, bis die Brücke sagte, alles klar, dann nimm mich halt mit.
Ich schrieb: Keine biografische Erzählung ohne Kindheitsfreizeitgestaltung. Ich schrieb mit Großbuchstaben mitten auf das Blatt:

SCHLITTENFAHREN

Die Meisterstrecke begann unter dem Gipfel des Grad, wo im Mittelalter ein Turm über das Tal gewacht hatte, und endete nach einer engen Kurve vor dem Abgrund. Ich erinnere mich an Huso. Huso schlich mit einem alten Schlitten den Grad hinauf, außer Puste, lachend, und auch wir, die Kinder, lachten, lachten ihn aus, weil er dürr war und Löcher in den Stiefeln hatte und viele Zahnlücken. Ein Irrer, dachte ich damals, heute denke ich, er hat einfach am Konsens vorbeigelebt. Wo man schlief, wie man sich kleidete, wie deutlich man Wörter aussprechen und in welchem Zustand sich die Zähne befinden sollten. Er ging es anders an als die meisten. Genaugenommen war Huso bloß ein arbeitsloser Säufer, der vor dem Abgrund nicht gebremst hat. Vielleicht weil wir ihn nicht gewarnt hatten vor der finalen Kurve. Vielleicht weil er sich die Reflexe weggesoffen hatte. Huso schrie, wir hin, und dann war es ein Freudenschrei gewesen: Huso saß auf seinem Schlitten, und der Schlitten hing auf halbem Hang im Unterholz.
»Weiter, Huso!«, riefen wir. »Gib nicht auf!« Angefeuert durch unsere Rufe und vor allem die Tatsache, dass es in seiner Lage leichter war, nach unten als nach oben zu gelangen, schlug sich Huso aus dem Gestrüpp und rauschte den restlichen Hang hinab. Es war unglaublich, wir waren ekstatisch, und Huso wurde 1992 angeschossen in seinem Verschlag an der Drina, seinem Haus aus Karton und Brettern, unweit des Wachturms, wo – die alten Epen besingen es – je nachdem, wen du fragst, entweder der serbische Held, Königssohn Marko, einst Zuflucht vor den Osmanen fand, oder der bosniakische – Alija Ðerzelez auf seiner geflügelten Araber Stute über die Drina sprang. Huso überlebte, verschwand und kam nicht wieder. Die Meisterstrecke hat nie wieder einer so gemeistert wie er.
Ich schrieb eine Geschichte auf, die so begann: Fragt man mich, was für mich Heimat bedeutet, erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater meiner ersten Amalgam-Füllung. Ich schrieb der Ausländerbehörde: Ich bin Jugo und habe in Deutschland trotzdem nie was geklaut, außer ein paar Bücher auf der Frankfurter Buchmesse. Und in Heidelberg bin ich mal mit einem Kanu in einem Freibad gefahren. Radierte beides aus, weil vielleicht Straftaten und nicht verjährt. Ich schrieb: Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte

Saša Stanišić liest aus "Herkunft"

Saša Stanišić
© Katja Sämann

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« wurde in 31 Sprachen übersetzt. Mit »Vor dem Fest« gelang Stanišić erneut ein großer Wurf; der Roman war ein SPIEGEL-Bestseller und ist mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Für den Erzählungsband »Fallensteller« erhielt er den Rheingau Literatur Preis sowie den Schubart-Literaturpreis. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.

Interview mit Saša Stanišić