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SPECIAL zu Helmuth Kiesel »Ernst Jünger«

Das "deutsche Jahrhundert" - in einer Person

Rezension von Dr. Stefan Rusche

Wer war dieser Mann mit dem cäsarenhaften Kopf, der mit wachem Blick, vollem Schopf und aufrechter Haltung ein biblisches Alter von 103 Jahren erreichte? Der als 18-Jähriger der Fremdenlegion beitrat, um dann in der Reichswehr zwei Weltkriege nicht nur zu überleben, sondern in ihnen die Fähigkeit zu entwickeln, seine Erlebnisse in literarische Grenzerfahrungen zu übersetzen und so zu einem der international bekanntesten deutschen Schriftsteller und Intellektuellen zu werden? Ein Mann, der Insekten erforschte. Ein Mann, den die Nazis umwarben, für die er selbst nie offen eintrat und von denen er sich bald distanzierte, weshalb er sich später auch der Entnazifizierungsprozedur der Alliierten widersetzte. Ein Mann, der zu Zeiten der Bundesrepublik so unterschiedliche Gäste wie Heiner Müller oder Helmut Kohl empfing. Kurz: Ein Mann, der ein Leben lebte, wie es für die wenigsten Gegenwärtigen auch nur in Ansätzen nachvollziehbar ist - und das wie kaum ein anderes die Katastrophen und Höhepunkte des "deutschen Jahrhunderts" widerspiegelt.

Ein Kind verschiedener Zeiten
Helmuth Kiesel, Professor für Neuere Deutsche Literatur in Heidelberg, bettet die Biografie dieser einmaligen Erscheinung in die Wendungen des Jahrhunderts ein, das Jünger durchschritt. In seiner großartig recherchierten und glänzend geschriebenen Arbeit schildert er detailgenau Leben und Werk Ernst Jüngers und verzichtet weitgehend auf Wertungen. Er stellt Jünger mit Carl Zuckmayer oder Thomas Mann Zeitgenossen an die Seite und lässt diese urteilen - durch ihr Schweigen oder, im Fall Zuckmayers, ihre Eloquenz: "Ernst Jünger halte ich für den weitaus begabtesten und bedeutendsten der in Deutschland verbliebenen Autoren. Ich glaube, dass sowohl seine wie seines jüngeren Bruders Opposition gegen das Naziregime echt ist und mit jener nur sehr bedingten Opposition aus anderen konservativen oder Offizierskreisen nicht identisch ist. Bei den Jüngers kommt sie aus tieferen Quellen...". Joseph Goebbels, Walter Jens, Jan Philipp Reemtsma: Sie alle hatten ein eigenes Bild von Ernst Jünger, das etwas über diesen, vor allem aber auch etwas über sie selbst und ihre Zeit aussagt. So ist die Beschreibung der Entwicklung Jüngers immer auch eine Reflexion der jeweiligen historischen Situation. Jünger prägte das "deutsche Jahrhundert" - er war aber auch eines seiner charakteristischsten intellektuellen "Produkte".

Von "Frontschweinen" und "Wanderratten"
In kurzen, klaren Werkanalysen nähert sich Kiesel dem Faszinosum des Jüngerschen Stils, seiner ganz besonderen Sprache. Er setzt sie dabei in Bezug zur Tradition der Rede, ohne ihnen ihre literarische Originalität zu nehmen. So liest er "In Stahlgewittern" als eine Rede über den Krieg. Dieser Erlebnisbericht aus dem Ersten Weltkrieg, das bekannteste und umstrittenste Buch Jüngers, mache das Fragen nach den Ursachen des Krieges müßig, so Kiesel, und das sei von Jünger auch so gewollt. Fragen blieben an der Oberfläche von Konstellationen und Entwicklungen, die dem metaphorischen und kosmischen Gesetz folgen, wonach der Krieg, wie Jünger mit dem oft zitierten Heraklit immer wieder sagt, der "Vater aller Dinge" sei. Auch hier lässt Kiesel den Leser selbst urteilen, indem er Fragmente zitiert und historische Quellen elegant in den Text einflicht.
Es ist Sache des Lesers, wie er sich zu Jüngers Prosa verhält, etwa wenn dieser vom Krieg spricht als einem industriellen Produktionsprozess, in dem ganze Truppenverbände in riesigen Kesseln und Öfen "zu Schlacke zerglüht" werden, damit andernorts Bewegungsraum entsteht. In diesen Prozessen geschieht "Verwandlung" oder "Enthüllung" - werden die Soldaten zu Material oder Beute, zu "Meistern des Sprengstoffs", oder zu großen Jägern, zu "Frontschweinen" oder "Wanderratten", zu Bestien oder Barbaren, zugleich aber auch zu Vorboten oder Begründern einer "neuen Rasse", wie sie für das Leben in einer härteren Welt vonnöten sein werde.

Die Freiheit des Lesers
Auch wenn immer klar ist, dass Kiesel den Gegenstand seines Buches wertschätzt und im Zweifel gegen die Zumutungen durch die Nachgeborenen verteidigt, so beantwortet er doch kaum eine der vielen Fragen, die Jünger durch seine Person und sein Werk aufwirft, ganz eindeutig. Er enthält sich der wohlfeilen Besserwisserei der Spätgeborenen, lässt das reiche Material sprechen, schreibt aus der Distanz und lässt Jünger und seiner Zeit bei all ihrer - mitunter radikalen - Fremdheit immer ihre Würde. Kiesel mutet seinen Lesern Widersprüche zu und auch die Last des eigenen Reflektieren und Urteilens - so wie es Jünger selbst immer getan hat.

Dr. Stefan Rusche
(Literaturtest)
Berlin, Oktober 2007

Ernst Jünger

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