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SPECIAL zu Helmut Schmidt

Schlichte Wahrheiten

Rezension von Dr. Stefan Schulze

„Gegen Ende des Lebens wollte ich einmal aufschreiben, was ich glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben. Denn vielleicht könnte doch einer von den Jüngeren daraus einen Nutzen ziehen.“ Mit diesen Worten begrüßt der Altbundeskanzler und jetzige ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt die Leser seines neuen Buchs „Außer Dienst“. Bei einem wie Schmidt darf man darauf vertrauen, dass die Worte von Beginn an mit Bedacht gewählt sind.

Tatsächlich kann man sein neues Buch als eine Art Leitfaden für angehende und aktive Politiker lesen, dessen Maximen und Prinzipien nicht systematisch hergeleitet, sondern kursorisch aus der persönlichen Erfahrung des Autors gewonnen wurden. Natürlich handelt es sich bei „Außer Dienst“ aber nicht um politikwissenschaftliche Fachliteratur, und die Lektüre lohnt auch dann, wenn man nicht selbst Politiker ist oder werden will. Denn für die weitaus größere Leserschaft der politisch Interessierten und Engagierten entwickelt Schmidt zunächst Maßstäbe und Kriterien dafür, was einen guten Politiker ausmacht. Und schon in der Einleitung formuliert er eine erste, vorläufige und allgemeine Definition. Ein guter Politiker muss „in jeder Lage, vor jedwedem Problem, in jedem Streit, immer wieder ... eine Antwort auf die Frage finden: Was ist hier und jetzt meine Aufgabe und meine Pflicht?“

Provozierend unzeitgemäß
Schon das bloße Ansinnen, erst recht aber die eben zitierte erste Konkretisierung, wirken provozierend unzeitgemäß. Bei vielen, deren Politikerbild in den vergangenen Jahrzehnten durch Volksvertreter vom Schlage eines Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Roland Koch oder Oskar Lafontaine geprägt wurde, wird sich Zynismus als ein natürlicher Reflex auf Begriffe wie Pflicht oder Gemeinwohl herausgebildet haben. Und wer wie Schmidt bekennt, den lateinischen Satz „Salus publica suprema lex“ – das Gemeinwohl ist das oberste Gesetz - zur Richtschnur seines Handelns gewählt zu haben, scheint irgendwie nicht im 21. Jahrhundert angekommen zu sein.

Auch der Duktus von Schmidts einleitenden Worten ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, wirkt seine Sprache doch eigentümlich altmodisch und nostalgisch. Spricht all das gegen Schmidt? Keineswegs! Charakteristisch an Schmidts Ausführungen ist vor allem der Ernst und die Konsequenz in der Auseinandersetzung mit politischen Themen. Diese Attribute wirken tatsächlich unzeitgemäß, wenn Politiker im Wahlkampf mit dem Guidomobil durchs Land fahren oder Parteivorsitzende ihren Mantel derart unverfroren in den unsteten Wind der öffentlichen Meinung halten, dass er sich ihnen um das vollbärtige Gesicht wickelt. Aber das spricht eben nicht gegen Schmidt, sondern gegen die bestehende politische Kultur in Deutschland.

Mustergültiges Stilprinzip
Und noch etwas: In Zeiten, in denen die Kunst der politischen Rhetorik im Schatten stoiberscher Sprachstolpereien und pofallerscher Banalitätenprosa steht, darf man sich über das Licht des klaren und im positiven Sinne schlichten schmidtschen Stils freuen. „Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge“, dieses Schopenhauersche Stilprinzip hat sich Schmidt mustergültig zu Eigen gemacht. Beides, die Ernsthaftigkeit in der Sache und die Reduktion auf das Wesentliche im Stil, sollten sich Leser immer wieder vor Augen führen, wenn sich ihnen bei der Lektüre einer Passage wie der folgenden, die es verdient, in voller Länge zitiert zu werden, der Eindruck nostalgiegesättigter Naivität einstellt.

„Wer in die Politik gehen will, soll einen Beruf gelernt und ausgeübt haben, in den er jederzeit zurückkehren kann, denn nur so kann er sich seine Unabhängigkeit bewahren. Er soll die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes verinnerlicht haben und das übrige in seinen Grundzügen kennen. Er soll die deutsche Geschichte mindestens seit der Französischen Revolution kennen, darüber hinaus auch die Geschichte unserer wichtigsten Nachbarn und außerdem die Geschichte der europäischen Integration. Schließlich aber muß er spätestens nach seiner Wahl ins Parlament sich auf mindestens einem Fachgebiet so weit einarbeiten, daß er sich in diesem Fach auf sein eigenes Urteil verlassen kann.“

Man erinnere sich bei solchen Ausführungen unbedingt an aktuelle Debatten über die Auswüchse des Lobbyismus in Deutschland und die politisch höchst fragwürdige Infiltration der parlamentarischen Arbeit durch demokratisch nicht legitimierten „wirtschaftlichen Sachverstand“, dessen Auswüchse zum Beispiel Sascha Adamek und Kim Otto jüngst in ihrem Buch „Der gekaufte Staat“ aufgezeigt haben. Spätestens dann wird hinter dem vermeintlich rührend naiven Rückblick des elder statesman die deprimierende Bilanz über das Selbstverständnis deutscher Politiker erkennbar.

Ausflug in vergangene Zeiten
Aus dieser Haltung heraus, die Helmut Schmidt vor allem in den ersten drei Kapiteln von „Außer Dienst“ entwickelt, widmet er sich anschließend grundsätzlichen Problemstellungen der Politik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Es sind dies die Frage nach einer neuen Weltordnung im Anschluss an die Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung und die Frage nach der Bedeutung der großen Religionen für die Gefährdung und die Bewahrung des Weltfriedens.

Schmidt tut dies wie einleitend angekündigt nicht systematisch, sondern im Rückblick auf das eigene politische Leben und die dabei gewonnenen Erfahrungen. Auch deshalb kommt die Lektüre von „Außer Dienst“ über weite Passagen tatsächlich einem Ausflug in eine vergangene Zeit gleich. Aber man darf es ohne nostalgische Verklärung sagen: In Sachen politischer Kultur in Deutschland waren es bessere Zeiten.

Stefan Schulze
München, August 2008