Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Geraldine Brooks´ Historienroman »Die Hochzeitsgabe«

Eine zweifache Rettung in Sarajevo während des Zweiten Weltkriegs

DAS BUCH - EXODUS

Ein Essay von Geraldine Brooks für die Ausgabe des New Yorker, 3. Dezember 2007 (gekürzte Fassung)

Als im Frühjahr 1941 die Achsenmächte Jugoslawien eroberten und aufsplitteten, wurde Sarajevo übel mitgespielt. Die zwischen Bergen eingebettete Stadt, von Rebecca West einst beschrieben als »knospende Blüte«, fand sich auf einmal von einem kroatischen Nazi-
Marionettenstaat vereinnahmt wieder, ihre weltoffene Kultur durch die einmarschierenden deutschen Truppen und der kroatischen faschistischen Ustascha zerstört. Hitlers Alliierter Ante Pavelic, der die Ustascha in den 1930ern angeführt hatte, verkündete, dass sein neuer Staat von Juden und Serben »gesäubert« werden müsse: »Von dem, was einst ihnen gehörte, wird kein Stein auf dem anderen bleiben.« Der Terror begann am 16. April, als die deutsche Armee Sarajevo besetzte und die acht Synagogen der Stadt plünderte. Deportationen folgten. Juden, Zigeuner und serbische Widerständler wandten sich verzweifelt an hilfsbereite muslimische oder kroatische Nachbarn, um sich in ihren Häusern verstecken zu können. Die Angst vor Denunziation breitete sich in der Stadt aus, drang bis in die Arbeitsstätten und selbst bis in die imposanten, im Stil der Neorenaissance erbauten Hallen des Bosnischen Nationalmuseums vor.
Bis heute ein Rätsel: Die schwarze Frau am Seder-Tisch
Der Leiter der Museumsbibliothek, ein islamischer Gelehrter namens Dervis Korkut, leistete ungewöhnlichen Widerstand. Zu Beginn des Jahres 1942, als Korkut erfuhr, dass der Nazi-Kommandant, General Hans Joachim Fortner, das Museum aufgesucht hatte, um mit dem Direktor zu sprechen, fürchtete er sofort um den wertvollsten Schatz, der in der Museumsbibliothek lagerte: ein Meisterwerk der mittelalterlichen Judaica, bekannt als die Sarajevo-Haggadah. Eine Haggadah, von der hebräischen Wortwurzel hgd (erzählen), beinhaltet die Geschichte des Auszugs aus Ägypten, die in jüdischen Familien jeweils an die Kinder weitergeben wird. Sie wird bei Tisch während der Feierlichkeiten des Pessach Seders gelesen. (Weinflecke auf dem Pergament der Sarajevo-Haggadah zeugen davon, dass dieses Buch, wenngleich aufwändig verziert, bei solchen Familienfesten verwendet wurde.) Der Mann, der so entschlossen war, eine jüdische Schrift zu schützen, war Spross einer wohlhabenden, hoch angesehenen Familie muslimischer Intellektueller. Sein leidenschaftliches Interesse für die Vielfalt der bosnischen Kultur manifestierte sich in seinen Studien über die Kunst und Literatur dieser Region. Ihn faszinierte die Vielzahl der Einflüsse, die in die Literatur Sarajevos Eingang gefunden hatten. Und von allen Schätzen, die sich in seiner Obhut befanden, verkörperte keiner besser die Vorzüge der Vielfalt – sowie die zarte Zerbrechlichkeit der interkulturellen Harmonie – wie die Sarajevo-Haggadah.
"Der Ewige hörte unsere Stimme, er sah unsere Not ..."

Der schmale, möglicherweise bereits in der Mitte des Vierzehnten Jahrhunderts in Spanien angefertigte Kodex aus Pergament, reich mit Blattgold und Blattsilber versehen, verschwenderisch bebildert mit kostbaren Pigmenten aus Lapis Lazuli, Azurit und Malachit, war in einer Epoche entstanden, bekannt unter der Bezeichnung Convivencia, als jüdische, christliche und muslimische Gemeinschaften miteinander in sol y sombra (in Sonne und Schatten) lebten. Abgesehen von der Üppigkeit und Kunstfertigkeit der Illustrationen ist ihre Existenz an sich schon äußerst bemerkenswert. Bis der Kodex 1894 auftauchte, glaubten die Kunsthistoriker gemeinhin, dass figurative Malerei bei den Juden im Mittelalter gänzlich untersagt war aufgrund des Verbots in den Zehn Geboten, »Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen« – ein Verbot, das auch in vielen islamischen und einigen christlichen Verbänden galt.

Der Inhalt der Illustrationen ist oftmals faszinierend. Eine Darstellung, die die Wissenschaftler vor Rätsel gestellt hat, ist die Abbildung eines spanischen Seder-Festmahls. Zu sehen ist darauf auch eine Frau, deren Haut schwarz ist und deren afrikanische Gesichtszüge in starkem Kontrast zu den übrigen am Tisch sitzenden Familienmitgliedern stehen, und die ein Stück Mazza (ungesäuertes Brot) in der Hand hält sowie das Gewand einer wohlhabenden spanischen Jüdin aus jener Zeit trägt.

Die Überlebensgeschichte des Buches ist erstaunlich. 1492 erließen Ferdinand und Isabella das Alhambra Dekret und wiesen alle Juden aus Spanien aus. Wenn das Buch zu jener Zeit, was wahrscheinlich ist, Spanien mit einer jüdischen Familie verlassen hat, war es einer der äußerst wenigen religiösen Texte dieser Art, der die Konfiszierung und Zerstörung entgangen ist. In Portugal, wo viele spanische Juden eine vorübergehende Zuflucht fanden, bevor sie ein zweites Mal vertrieben wurden, galt der Besitz hebräischer Bücher als Kapitalverbrechen.

Irgendwann im Laufe des folgenden Jahrhunderts hat die Haggadah ihren Weg nach Venedig gefunden, wo eine mehrsprachige jüdische Gemeinde auf einer kleinen Insel lebte, auf der sich bis dato die Gießerei oder geto der Stadt angesiedelt war. Die ersten Juden, darunter deutsche Geldverleiher, hatten sich 1516 hier niedergelassen. Anschließend kamen levantinische Juden, deren Verbindungen zu Ägypten und Syrien für die vielzähligen Handelsgeschäfte der Stadt nützlich waren. Die Exilanten von der iberischen Halbinsel ließen die Bevölkerung erneut ansteigen, und die dicht an dicht stehenden, mehrstöckigen Behausungen des Ghettos wurden zu den höchsten der Stadt. Venedig bot den Juden Eigentumsrechte sowie Rechtsschutz, was zu jener Zeit in Europa einmalig war. Dennoch mussten sie als Erkennungszeichen eine farbige Kopfbedeckung tragen, wenn sie das Ghetto verließen. Die Juden durften so gut wie kein Handwerk ausüben, mit Ausnahme des Buchdrucks, doch jedes hebräische Buch, das nicht von einem kirchlichen Zensor der päpstlichen Inquisition genehmigt worden war, wurde öffentlich verbrannt. Bücher konnten aufgrund zahlreicher vermeintlich ketzerischer Inhalte zerstört oder verunstaltet werden: wie der Behauptung, die Wiederkunft des Messias stünde kurz bevor, oder Argumenten, die gegen die Verwendung von Heiligen oder anderen Fürsprechern als Vermittler zwischen den Menschen und einem unteilbaren Gott angeführt wurden, sowie jeglicher Verweis auf Juden im Zusammenhang mit den Adjektiven »heilig« oder »fromm«. Die Haggadah ging 1609 offensichtlich durch die Hände eines katholischen Geistlichen, des Zensors Giovanni Domenico Vistorini. Von ihm ist nichts weiter bekannt, außer den Büchern, die seine Handschrift tragen. Vistorini fand offenbar nichts Verwerfliches an der Haggadah. Seine Inschrift, Revisto per mi (in etwa: Von mir begutachtet) ist beiläufig und schwungvoll unter die letzten, akribisch kalligraphierten Zeilen des hebräischen Textes gesetzt worden.
Unterschrift des venezianischen Zensors

Wie oder wann das Buch Venedig verlassen hat und nach Sarajevo gekommen ist, bleibt ein Rätsel. Das Museum erwarb die Haggadah 1894, nachdem eine mittellose jüdische Familie namens Kohen sie zum Verkauf angeboten hatte. Da Bosnien zu der Zeit von Österreich-Ungarn besetzt war, wurde die Haggadah zur Begutachtung in die Hauptstadt des Kaiserreichs Wien geschickt, wo sie sofort als Meisterwerk bejubelt und anschließend durch einen unqualifizierten Restaurator beschädigt wurde, der das Pergament verschnitt und die neue Bindung verpfuschte. Niemand weiß, wie der Originaleinband der Haggadah einst ausgesehen hat, aber die meisten Bücher mit solch großzügiger Verzierung aus Blattgold und kostbaren Pigmenten besaßen auch aufwändige Einbände – aus handgearbeitetem Ziegenleder und geprägtem Silber oder Einlegearbeiten aus Perlmutt. Der Wiener Restaurator entfernte 1894 den Einband des Buches und ersetzte ihn durch einen minderwertigeren Buchdeckel, der mit einem unpassenden, türkisch floralen Dekor versehen war. (…)

Dieses Buch hielt Dervis Korkut unter seinem Anzug versteckt, als er 1942 General Fortner gegenübertrat. Fortner war in Sarajevo äußerst gefürchtet: Neben der Führung seiner eigenen Armeedivision, überwachte er auch ein kroatisches Faschistenregiment, bekannt als die Schwarze Legion. Die Schwarze Legion galt als brutalste der Nazi-Verbündeten und war an Massakern an Serben und Juden beteiligt. In wissenschaftlichen Aufsätzen über die Sarajevo-Haggadah finden sich verschiedene Beschreibungen wie sich die Rettung des Buches abgespielt hat. In einigen heißt es, Korkut versteckte den schmalen Band in der Bibliothek, indem er ihn einfach zwischen die übrigen Bücher stellte. In der dramatischsten Version kletterte er aus einem Fenster und rutschte ein Dachrinnenrohr hinunter, um das Buch in Sicherheit zu bringen.
Die Erschaffung der Welt
Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, habe ich Halima Korkut aufgesucht, die Ehefrau von Dervis' Neffen. Halima arbeitet in Arlington, Virginia, wo sie Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes Bosnischunterricht gibt. Sie ist ausgesprochen stolz auf den Onkel ihres Mannes. Wir setzten uns an einen großen Tisch in einem leer stehenden Klassenraum des Instituts und sie breitete sämtliche Fotografien und Dokumente aus, die sie über ihn gesammelt hatte. Während sie ein kurzes Porträt über ihren Onkel für mich übersetzte, hielt Halima plötzlich inne und sah auf. Sie sagte: »Wissen Sie, wenn Sie wirklich erfahren wollen, was während des Krieges passiert ist, sollten Sie seine Frau fragen.« Es überraschte mich zu hören, dass die Witwe eines Mannes, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in seinen Fünfzigern gewesen war, noch lebte. Zudem sie in keiner der Aufsätze über die Haggadah Erwähnung fand. Ich reiste nach Sarajevo, um Servet Korkut zu treffen.

Servet lebte allein in einem am Hang gelegenen Wohnblock mit niedrigen Decken, in einer der Gegenden, die bis vor kurzem noch unter Beschuss gestanden hatten. Ich traf auf eine elegante und lebhafte Dame von einundachtzig Jahren mit wachen, tief liegenden braunen Augen und silbrigem Haar, das sie sich aus der noch immer faltenfreien Stirn zurückgekämmt hatte.

Sie erinnerte sich sehr genau an den Tag, an dem ihr Mann mittags nach Hause kam, die Haggadah noch immer in seinem Hosenbund vesteckt. »Er sagte, ›Nimm es und erzähl niemandem davon. Niemand darf etwas erfahren, sonst bringen sie uns um und vernichten das Buch.‹« An jenem Nachmittag fuhr er aus der Stadt, nach Visoko, wo eine seiner Schwestern wohnte, unter dem Vorwand, sie zu besuchen. Von dort brachte er das Buch in ein einsam gelegenes Bergdorf in der Gegend von Trescavitza, wo ein Freund von ihm als Hodscha in der kleinen Moschee der Gemeinde tätig war. Dort, berichtete Servet, wurde die Haggadah zwischen Koranbüchern und anderen islamischen Texten versteckt. Als die Lage wieder sicher war, »brachte der Hodscha sie zurück zu uns und Dervis übergab sie wieder dem Museum«, erinnerte sie sich. (…) Während Servet und ich unser Gespräch in dem langsam schwindenden Licht jenes Frühlingsnachmittags in Sarajevo fortsetzten, erzählte sie mir von einer zweiten, besonderen Rettung. Eine Geschichte, die ihr Leben und das ihrer Kinder noch lange nach dem Tod ihres Ehemannes beschäftigen sollte:

Im April des Jahres 1942, bald nachdem die Haggadah in Sicherheit gebracht worden war, kehrte Dervis ein weiteres Mal unerwartet aus der Bibliothek zurück. Dieses Mal brachte er statt eines Buches ein Mädchen mit. »›Das ist ein jüdisches Mädchen‹, sagte er zu mir. ›Wir müssen sie hier in Sicherheit bringen.‹« Servet entsann sich einer jungen, gebildet aussehenden Frau mit Brille, die im letzten Jahr die Oberschule besucht hatte, bevor die neuen Gesetze sie als Jüdin daran gehindert hatte, eine staatliche Bildungseinrichtungen zu besuchen. Servet gab ihr einen ihrer traditionellen, muslimischen Gesichtsschleier, der den Körper und den Großteil des Gesichts wie ein Tschador bedeckt. Das Mädchen hieß Mira Papo, aber die Korkuts nannten sie Amira, damit sie als muslimische Dienstmagd durchging.
Wichtige Passagen der Tora im Bildteil der Haggadah

Mira Papo stammte aus einer Familie ladinisch sprechender, sephardischer Juden, Nachfahren spanischer Exilanten, die im Laufe der Jahrhunderte die gleiche Reise zurückgelegt hatten, wie die Sarajevo-Haggadah. Bereits im Jahre 1565 hatten sich die ersten Juden in Sarajevo angesiedelt, das damals als osmanisches Handelszentrum bezeichnet wurde. Als die Stadt ihre elegante, weltoffene Mündigkeit erlangte, lebten sie weitestgehend unbehelligt und kaum beachtet. Nur sehr wenigen von ihnen gelang es, Wohlstand und einflussreiche Positionen zu erlangen. Zu Ende des Neunzehnten Jahrhunderts, als Österreich-Ungarn Bosnien besetzte und auch noch ein geringer Zustrom jiddisch sprechender Aschkenasen nach Sarajevo kam, war die Stadt für ihre Toleranz bekannt. Die Moscheen der Muslime, die Kirchen der Serbisch-Orthodoxen und der kroatischen Katholiken waren in den gleichen Bezirken der Stadt zu finden wie die Synagogen, und die Wohngegenden waren größtenteils multikulturell. Ohne die Wirren des Krieges wäre die Wahrscheinlichkeit jedoch sehr gering gewesen, dass Mira die Korkuts jemals kennen gelernt hätte. Miras Vater Salomon Papo arbeitete als Pförtner im Finanzministerium; ihr Großvater war ein Arbeiter, der Saatgut auf dem Markt in Sarajevo verkaufte.

Schon bald, nachdem die Truppen der kroatischen Ustascha mit der ethnischen »Säuberung« der Serben und Juden in Sarajevo begonnen hatten, wurde Miras Vater mit anderen jüdischen Männern abtransportiert und ermordet. Die Frauen sollten später im selben Jahr abgeholt werden. Mira gelang es, alleine aus Sarajevo zu entkommen, sie schloss sich der kommunistischen Widerstandsbewegung an und versteckte sich zusammen mit anderen Partisanen in den Bergen. (…)

Zu diesem frühen Zeitpunkt des Widerstands gab es zwei antifaschistische Truppen, Titos kommunistische Partisanen und die überwiegend serbische Gruppe, bekannt als die Tschetniks, Antikommunisten, die die Wiedereinsetzung des im Exil lebenden jugoslawischen Königs Peter II. anstrebten. Eine Zeitlang legten die beiden Gruppen ihre ideologischen Differenzen bei, doch schließlich wandten sich die Tschetniks gegen die Partisanen und im März 1942 befanden sich die Partisanen in Auflösung begriffen und hatten große Verluste sowie steigende Zahlen an Deserteuren zu verzeichnen. Tito ordnete eine schonungslose Reorganisation seiner Streitkräfte an. Miras dezimierte Einheit musste sich auf einem offenen Feld versammeln, wo sie zwei oder drei Tage lang von »Ballast« befreit wurde. Dreißig jungen Menschen – darunter Studenten, Arbeiter und Bauern und sogar einige wenige Mitglieder der Kommunistischen Partei, allesamt Juden aus Sarajevo – wurde gesagt, sie seien nicht robust genug, um die bevorstehenden Härten zu überstehen, oder ausreichend geübt, um einen äußerst schnellen Bewegungskrieg zu führen. Sie wurden ihrer Waffen entledigt und aufgefordert nach Sarajevo zurückzukehren. Jeder, der sich dem Befehl widersetzte, wurde erschossen. Tage und Nächte arbeiteten sie sich danach durch den Wald vor, unbewaffnet und in ständiger Angst vor den Deutschen und ihren Hunden. Diejenigen, die aufgespürt wurden, starben einen grausamen Tod. Von diesen dreißig Partisanen kam nur eine Handvoll lebend in Sarajevo an, darunter auch Mira.
Schriftteil der Haggadah
»Ich bin in der Morgendämmerung an einem Frühlingstag nach Sarajevo zurückgekommen.«, schrieb sie später. Erschöpft und in Gedanken verloren ließ Mira sich Richtung Zentrum treiben, bis sie vor dem Finanzministerium stand, wo ihr Vater früher Pförtner gewesen war. Sie traf auf den Portier, einen früheren Freund ihres Vaters. »Ich rief seinen Namen.« Er erkannte Mira nach den entbehrungsreichen Jahren nicht wieder. »Dann fragte er: ›Bist du Salomonova?‹ (Salomons Tochter) Ich nickte und begann zu weinen. »Retten Sie mich, wenn Sie können.«, sagte sie. »Wenn nicht, übergeben Sie mich der Ustascha.« Er wies sie an zu warten, dann ging er und kehrte kurze Zeit später mit einem distinguiert aussehenden Mann zurück, der einen Fez trug: Dervis Korkut. Er führte sie durch eine Hintertür aus dem Museum hinaus und fuhr sie zu seinem Haus. Vier Monate lang hielt Mira sich bei den Korkuts versteckt, dann brachten sie sie in einem Haus von Verwandten an der dalmatinischen Küste unter, wo sie bis zum Kriegsende blieb. (…)
Nach dem Krieg erhielt jeder, der bei den Partisanen gedient hatte, einen guten Posten in dem neuen Tito-Regime. Mira kehrte nach Sarajevo zurück und wurde als Offizierin in der Sanitätstruppe der Armee in Dienst gestellt. Eines Tages im Juni 1946, wie Mira später schrieb, war sie in der Stadt unterwegs, als »mir eine fremde Frau in den Weg trat«. Sie bat um Hilfe für ihren Mann, der als Kollaborateur der Nazis vor Gericht gestellt worden war. Mira hatte keine Ahnung, wer diese Frau war. »Ich fragte, woher sie mich kannte. Sie hob ihren schwarzen Schleier und ich erkannte sofort die Frau von Dervis Korkut. Sie hatte einen Jungen im Alter von vier Jahren an der Hand, von dem ich mich 1942 verabschiedet hatte, als er noch ein Kleinkind gewesen war.«

Als Tito seine Macht im Jugoslawien der Nachkriegszeit weiter ausbaute, ließ er Strafprozesse für Kriegsverbrechen durchführen, um die Stimmen der Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Dervis Korkut hatte sich als genau so wenig bereit gezeigt, sich den Kommunisten unterzuordnen, wie damals den Faschisten. Er hatte unter anderem eine Liste mit Namen von Personen zusammengestellt, die in Ostbosnien von den Tschetniks ermordet worden waren. Titos Regime, das den besiegten Tschetniks (wenngleich nicht der faschistischen Ustascha) Begnadigung zugesichert hatte und die Zerschlagung der glaubensübergreifenden Zerwürfnisse als entscheidend für die Konsolidierung des vereinten kommunistischen Staates ansah, war das Erstellen solcher Listen ein Dorn im Auge. Und nach kurzer Zeit wurde der Name Dervis Korkut mit jenen zusammen genannt, die den Faschisten geholfen hatten. In Zenica, einem für seine Brutalität berüchtigtes Gefängnis, kam er in Einzelhaft.

Als Servet sich mit mir an jenem Nachmittag über Mira unterhielt, erinnerte sie sich an diesen Tag, als sie ihr im Zentrum Sarajevos begegnete. Servet war erleichtert, eine Zeugin aus erster Hand gefunden zu haben, die von den antifaschistischen Aktivitäten ihres Mannes wusste und überglücklich, als Mira ihr versicherte, dass sie für ihn vor Gericht aussagen wollte. Doch Mira erschien nicht zu der Verhandlung. Ihr Verlobter fürchtete, dass die Partei mit Unmut, vielleicht sogar tödlichem Unmut, reagieren könnte, wenn Mira als Mitglied der Armee als Zeugin in einem Prozess aussagen würde, der eindeutig politisch motiviert war. Er verbot ihr, die Wohnung zu verlassen und für den Mann auszusagen, der ihr Leben gerettet hatte.

In den folgenden Jahren fühlte Mira sich von dem Gedanken an Korkut verfolgt, obwohl auch sie weiteren Entbehrungen und Schwierigkeiten die Stirn bieten musste. Sie ging davon aus, er sei exekutiert worden und stellte sich vor, wie ihre Freundin Servet ihren Sohn alleine aufziehen musste. Miras Mann starb nur zwei Jahre später an einer Gehirnhautentzündung, die er sich zuzog, als er Massengräber für die Kriegsopfer von Sutjeska aushob. Nachdem Mira ihre gesamte Familie im Krieg verloren hatte, blieben ihr nur ihre beiden kleinen Söhne Daniel und Davor.

Davor, nun ein sehniger Mann von sechzig Jahren, erzählte mir, dass seine Mutter sich schließlich mit ihm an der Nordküste in Rijeka niederließ. In der Stadt gab es ein jüdisches Gemeindezentrum und Davor erinnert sich noch an seine Verwunderung, als seine Mutter, eine antireligiöse, überzeugte Kommunistin, ihn zum ersten Mal dorthin mitnahm, um Hanukkah zu feiern. Damals kam er zum ersten Mal mit seinen jüdischen Wurzeln in Berührung. Nachdem Davor 1969 seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, lernte er den Kapitän eines israelischen Frachters kennen und entschloss sich spontan, an Bord zu gehen. Er siedelte sich in Israel an, lebte zuerst in einem Kibbuz und zog später in eine landwirtschaftliche Genossenschaft, oder Moschav, in den Bergen von Judäa, wo er mittlerweile als Metallarbeiter und Bildhauer arbeitet. Mira folgte ihm zwei Jahre später, 1972, nach Israel. In Afula lernte sie Hebräisch und arbeitete in einer Fabrik, wo sie Armeeuniformen nähte. Während des Zerfalls Jugoslawiens und der Belagerung Sarajevos zwischen 1992 und 1995 gewährte Israel bosnischen Flüchtlingen vorübergehendes Asyl. Wahrscheinlich war es einer dieser Flüchtlinge, der ein altes Mitteilungsblatt zurückgelassen hatte, das Mira 1994 in die Hände fiel. Das Schreiben war auf Serbokroatisch verfasst und enthielt neben Anzeigen für Gebrauchsgegenstände, einen Artikel, der Dervis Korkut gedachte. Fasziniert las Mira von den guten Taten jenes Mannes, dem sie nicht hatte helfen können. Sie erfuhr, dass Dervis nicht, wie sie stets angenommen hatte, exekutiert worden war. 1969 war er in bereits fortgeschrittenem Alter eines natürlichen Todes gestorben.
Rabbi Gamliel: "Pessach, Opfer, Mazza und bitteres Kraut
Der Teenager, den Korkut 1941 gerettet hatte, war nun zweiundsiebzig Jahre alt. Mira beschloss, jetzt die Zeugenaussage nachzuholen, die sie bei Korkuts Gerichtsprozess nicht leisten konnte. So schrieb sie eines Tages im Winter 1994 einen dreiseitigen Brief an die Kommission für die Benennung der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem, Israels Holocaust-Gedenkstätte. Auf Serbokroatisch getippt, die Akzente handschriftlich eingefügt,
enthält dieses Schreiben in recht förmlichen Ton »die wahre Geschichte, wie Dervis Effendi Korkut mich vor dem Tod gerettet hat«. In etwas gestelzt formulierten Sätzen hat Mira darin aufrichtig und detailliert ihre Geschichte niedergeschrieben. Ihre Gefühle, als sie erfuhr, dass er dennoch überlebt hatte, beschrieb sie so: »Es war, als wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen.«

Indem Mira Papo nun darlegte, was sich tatsächlich zugetragen hatte, hoffte sie, ihr Versäumnis für Dervis Korkut auszusagen, auf diese Weise wieder gut zu machen. »Vielleicht helfen diese unbedeutenden Informationen, ihn als großen Freund der bosnischen Juden lange vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung zu behalten. Ich bin die einzig verbliebene Zeugin dafür, dass Dervis tatsächlich so war, selbst in einer Zeit, in der wir nur wenige wahre Freunde hatten.« Mira starb 1998, ein Jahr zu früh, um noch zu erleben, was ihre verspätete Zeugenaussage tatsächlich im Nachhinein für Dervis Korkuts Familie bedeuten würde.
Aus den Plagen: Blut und Frösche
Zu der Zeit, als Mira ihren Bericht verfasste, befand sich Servet Korkut nicht in Sarajevo; nachdem sie einen schwachen Herzinfarkt erlitten hatte, lebte sie bei ihrem Sohn Munib in Paris. Eines Tages rief zu ihrer großen Überraschung ein israelischer Diplomat an, um ihr mitzuteilen, dass sie und Dervis kürzlich zu »Gerechten unter den Völkern« ernannt worden waren. Ihre Namen würden in den Gärten von Yad Vashem verewigt werden, nur unweit jener Bäume, die im Gedenken an berühmte Retter von Juden, wie Raoul Wallenberg und Oskar Schindler gepflanzt worden waren. Weil es ihr nicht mehr möglich war, nach Israel zu reisen, um dabei zu sein, wenn ihre Namen dort verewigt würden, wurde für sie eine Feier in der Israelischen Botschaft in Paris abgehalten. Servet wurde mit einer Urkunde und einem Orden geehrt, außerdem wurde ihr die israelische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Ferner erhielt sie ein monatliches Stipendium der Jüdischen Stiftung der Gerechten, einer Organisation mit Sitz in New York, die etwa 1300 der Helfer von damals materielle Unterstützung zukommen lässt.

»Mira rief mich in Paris an«, berichtete mir Servet. Sie erklärte, warum sie nicht zu der Gerichtsverhandlung erschienen war und wie sehr ihr dieses Versäumnis über die Jahre zu schaffen gemacht hatte. Doch Servet beschwichtigte ihre alte Freundin, indem sie ihr versicherte, dass selbst wenn sie ausgesagt hätte, es nichts geändert hätte, denn das Gericht sei lediglich ein Werkzeug des Regimes gewesen, und das Regime hätte seine Entscheidung ohnehin bereits gefällt gehabt. »Mira erklärte mir, dass sie, seit sie Jugoslawien verlassen hatte, vorgehabt hatte, sich mit mir in Verbindung zu setzen, um sich zu entschuldigen, was ihr jedoch nicht möglich gewesen war«, berichtete Servet. »›Das ist in Ordnung‹, sagte ich zu ihr. ›Ich habe Verständnis dafür.‹« Es gab andere, die vorgetreten und in dem Prozess für Dervis ausgesagt hatten. »Doch keiner wollte ihnen zuhören«, erzählte Servet. So wurde Dervis Korkut schließlich verurteilt und verbüßte eine sechsjährige Strafe, größtenteils in Einzelhaft. Nach seiner Entlassung konnte Dervis an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren, doch das Leben war nicht einfach. Seinen Pass bekam er nicht wieder zurück und das Recht auf Staatsangehörigkeit wurde ihm aberkannt. 1955 kam seine Tochter Lamija auf die Welt. Lamija, dreizehn Jahre jünger als ihr Bruder, wurde von der schwierigen Vergangenheit der Familie verschont und ihr Vater war in sie vernarrt. Munib erzählte mir: »Obwohl er ein alter Mann war, als sie geboren wurde, kommt meine Schwester genau nach ihm. Ihn hat so vieles mit ihr verbunden. Dervis und Lamija standen sich sehr nahe, bis er starb, da war Lamija vierzehn Jahre alt.« Sie erfuhr erst während der späteren Belagerung Sarajevos, dass ihre Eltern einst einer Jüdin in ihrem Haus Zuflucht gewährt hatten – nämlich als ihre Mutter in einem von Juden aus Sarajevo organisierten Konvoi einen Platz bekam, um die Stadt zu verlassen. Ausnahmsweise blieben die Juden diesmal von den ethnisch bedingten Diskriminierungen des Krieges verschont.

Lamija wurde Volkswirtin, sie heiratete wie ihre Mutter einen Albaner aus dem Kosovo, einen Elektrotechniker. Das Ehepaar ließ sich in der Provinzhauptstadt Pristina nieder und bekam zwei Kinder. 1999, als das Dayton Abkommen dazu beitrug, einen Anschein von Normalität nach Sarajevo zurückzubringen, steuerte der Kosovo auf einen Krieg zu. Die albanische Mehrheit im Kosovo war von der serbischen Regierung Repressalien ausgesetzt gewesen und 1998 nahm eine schonungslose ethnische Säuberung ihren Anfang. Alarmierende Berichte von brutalen Angriffen auf albanische Dörfer und öffentliche Vergewaltigungen junger
Frauen sickerten bis nach Pristina durch.

Im März 1999 begann die NATO, durch Berichte über die Kriegsgräuel endlich zu Taten angespornt, serbische Stellungen zu bombardieren. Lamija und ihr Mann bemühten sich tagelang, Visa für sich und ihre beiden Kinder zu organisieren. Lamija nahm Kontakt zu ihrem Bruder Munib auf, der zusammen mit Bekannten aus dem Außenministerium in Paris alles in Bewegung setzte, jedoch vergebens. Unter größen Anstrengungen konnte Lamija wenigstens ihre Tochter und ihren Sohn im Alter von neunzehn und sechzehn Jahren evakuieren. Die beiden gelangten nach Budapest. Kurz danach wurde in Lamijas Wohnung plötzlich der Strom abgestellt und die Telefonleitung gekappt. Durch die Wand konnte sie das Telefon in der Nachbarwohnung läuten hören, was sie umso mehr irritierte. Die Nachbarn waren Serben und sie begriff, warum nur ihre Leitung abgestellt worden war. Am zweiten April schlossen sich sie und ihr Mann den anderen tausenden Flüchtlingen an, die Richtung Bahnhof liefen. Sie quetschten sich in einen überfüllten Zug – »siebenundzwanzig Personen in einem Abteil für sechs«, erinnerte sich Lamija – und sie wussten nicht, wohin sie fuhren. Im Morgengrauen erreichten sie die makedonische Grenze. Lamija hatte nur ihr Notizbuch noch bei sich – darin: die gefalteten Fotokopie der Urkunde ihrer Eltern aus Yad Vashem.
Der Auszug aus Ägypten
Sie wurden auf einem offenen Feld zusammen getrieben, wo sich bereits Tausende andere Flüchtlinge drängten. Lamija musterte die merkwürdig stillen, zusammen gekauerten Gestalten, deren Stiefel den weichen Erdboden der Wiese in Morast verwandelt hatten. Die Menschen mussten sich Wasser erkämpfen. Es gab nichts zu essen, keine Decken, kein Dach über dem Kopf. Die Menschen waren krank. Einige lagen bereits im Sterben. Nachts wurde, wurde es eiskalt. Bei der Vergabe einiger weniger Essensrationen entstand Tumult. In einer Nacht beschlossen Lamija und ihr Mann, dass es zu gefährlich war, dort zu bleiben. Um drei Uhr morgens schlichen sich von dem matschigen Feld und liefen im Dunkeln bis an die makedonische Grenze. Als sie auf einen Grenzbeamten trafen, gaben sie vor, aus einer anderen Richtung zu kommen und bestritten, auch nur in der Nähe des Flüchtlingslagers gewesen zu sein. Entweder glaubte er die abwegige Geschichte, oder hatte Mitleid mit ihnen – der Grenzbeamte ließ sie passieren.

In der Stadt Kumanovo, wo sie im Haus von Verwandten unterkamen, versuchte Lamija zunächst ihre Kinder telefonisch zu erreichen und erfuhr, dass ihnen die Aufnahme in allen Botschaften verwehrt worden war. »Denn in Budapest hielten sich zu der Zeit fast eine Million Flüchtlinge aus dem Kosovo auf«, sagte Lamija, »und die meisten Türen waren ihnen verschlossen.« Ihr Bruder Munib konnte von Paris aus nicht eingreifen. Doch er hatte schließlich den rettenden Gedanken: »Warum wendest du dich nicht an die jüdische Gemeinde in Skopje?«, schlug er Lamija vor. »Warum versuchst du es nicht?«

Lamija und ihr Mann machten das Oberhaupt der örtlichen Jüdischen Gemeinde ausfindig und zeigten die zerknitterte Fotokopie, die sie dank Mira Papos nachträglicher Zeugenaussage erhalten hatten. In der Urkunde steht ein Sinnspruch aus der Bibel, auf Englisch und Hebräisch: »Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.«
Die Arche Noah / Joseph und seine Brüder vor dem Pharao

Vier Tage später wurden Lamija und ihr Mann nach Tel Aviv ausgeflogen; ihnen wurde versichert, dass ihre Kinder in zwei Tagen nachkommen würden. Als sie das Terminal des Ben-Gurion-Flughafens betraten, blendete sie die strahlende, mediterrane Sonne und das Blitzlichtgewitter der Journalisten. Die Geschichte von Dervis, einem Muslim, der Mira, eine Jüdin, gerettet hatte, die jetzt wiederum dazu beigetragen hatte Dervis' Familie zu retten, hatte Schlagzeilen gemacht. Premierminister Benjamin Netanjahu hieß sie am Flughafen willkommen. »Heute schließt sich der Kreis im Staat Israel, der aus der Asche aufgestiegen ist, und der Tochter jener, die Juden gerettet haben, Zuflucht gewährt«, sagte er.

Mitten in dem Chaos wurde Lamija plötzlich auf Serbokroatisch angesprochen. Sie hatte keine Ahnung, wer sie an diesem fremden Ort so herzlich begrüßte. Ein schlanker, drahtiger Mann mit einem dunklen Haarschopf und Schnurrbart, den sie nie zuvor gesehen hatte, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er breitete seine Arme aus und stellte sich vor und Lamija ließ sich von Davor Bakovic umarmen, Mira Papos Sohn.


© Geraldine Brooks und btb Verlag
Alle Abbildungen © Chajm Guski.
Der btb Verlag dankt Chajm Guski, der uns seine Fotos von der Sarajevo-Haggadah zur Verfügung stellte. Weitere Originalseiten aus der Haggadah finden Sie auf seiner Homepage: www.talmud.de/sarajevo/index.html