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Anne Freytag
© Michael Tasca

Gefühle sind keine Statistik.

Alle 53 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Das sagt die Statistik. Was sie nicht sagt, ist, wie es sich für die anfühlt, die bleiben.

Bis etwas Schreckliches passiert, ist alles ganz normal. Nicht perfekt, vielleicht nicht mal gut, nur normal. So, wie man es kennt. So wie immer. Es gibt viele Arten von „Normal“. In Luises „Normal“ ist ihr Bruder Kristopher die Sonne und sie ein namenloser kleiner Planet, der um ihn kreist. Ihr „Normal“ ist sein Schatten. Und das ist okay, denn Kristopher ist krank und sie gesund. Er kann nichts dafür. Er meint das nicht so. Sie muss das verstehen. Es ist nicht seine Schuld. Doch dann ist er tot. Und das ist seine Schuld.

Gerade war er noch da, vielleicht nicht ganz, vielleicht nur zum Teil, irgendwie verwaschen, doch jetzt ist er weg. Und mit ihm sein Schatten. Und die Sonne. Und alles, was normal war. Plötzlich ist da keiner mehr, um den Luise kreisen kann. Sie ist nicht länger das zweite Kind. Keine kleine Schwester mehr. Ihre Umlaufbahn hat sich von einer Sekunde auf die andere geändert. Sie ist stehen geblieben und das Leben geht weiter. Ein Tag nach dem anderen. Mit der Leere im Inneren und der schützenden Taubheit. Sie hält die Wahrheit zurück. Noch. Aber irgendwann wird sie die Taubheit durchbrechen. Sie wird so lange dagegen anrennen, bis sie einen Weg findet. Und erst dann wird Luise wirklich begreifen, was es bedeutet. Nicht nur ihr Verstand – sondern ihre Seele. Ihr Bruder ist tot. Er wird nicht wiederkommen. Er ist weg. Für immer. Vielleicht hätte sie etwas tun können. Vielleicht hätte sie wissen müssen, was er vorhat. Oder es zumindest ahnen. Vielleicht hätte sie ihn aufhalten können. Oder festhalten. Alles, was bleibt, ist die Lücke, die er hinterlässt. Sie hat seine Form, sein Lachen und seinen Geruch. Sie klafft riesig und leer in seiner kleinen Schwester, fühlt sich größer an als sie selbst. Aber es gibt nicht nur ein Ende, denn das Ende von etwas ist letztlich immer auch der Anfang von etwas anderem. Von eigenen Wegen, neuen Beziehungen und ungewohnten Bahnen.

Alle 53 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Jeder von ihnen hinterlässt ein zerrissenes Gefüge. Versprengte Einzelteile, die sich neu sammeln und zusammenfügen müssen. Luise ist so eins.

In „Nicht weg und nicht da“ geht es nicht um einen Selbstmord. Es geht um das Danach. Um die verschiedensten Arten von Liebe. Und um das Leben – nach dem Tod.


Anne Freytag

 

 

 

 

 

 

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