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Gedanken der Lektorin und dreier Schülerinnen zu „Anna und der Schwalbenmann“ von Gavriel Savit

Dieses Buch ist eine besondere, zutiefst beeindruckende und berührende Holocaustgeschichte für alle Leser von Markus Zusaks "Die Bücherdiebin" oder John Boynes "Der Junge im gestreiften Pyjama".

Diesem Besonderen wollten wir auf den Grund gehen und haben die Lektorin Susanne Krebs und die Schülerinnen Jule Frank (16 Jahre), Hanna Eichelberger (17 Jahre) und Celine Lechaux (16 Jahre) gebeten, uns ihre Gedanken zu „Anna und der Schwalbenmann“ aufzuschreiben.

Jetzt möchten wir Sie an diesen teilhaben lassen:

Akquise ...
Als ich „Anna und der Schwalbenmann“ von Gavriel Savit zum ersten Mal zu lesen begann, wusste ich schon nach wenigen Seiten, dass ich ein ganz besonderes Buch in den Händen hielt. Eines dieser Bücher, die den Arbeitstag – immer vollgepackt mit Terminen und anderen Plänen – schlagartig verändern. Plötzlich ist nichts mehr wichtig außer weiterzulesen. Gavriel Savits wunderschöner, zutiefst überraschender, magischer Sprache zu folgen – und Annas Schmerz, ihrer unerwarteten Verlorenheit, mit der die Geschichte beginnt – wohin einen beides auch führen wird.
Das sind die Lese-Momente, nach denen wir uns alle sehnen. Ich bin sicher, dass sich dieser erste Sternschnuppen-Moment auf jeden übertragen wird, der mit der Lektüre dieses Ausnahme-Romans beginnt – auf KollegInnen im Verlag, auf die BuchhändlerInnen und JournalistInnen, auf die LeserInnen.

Setting, Themen …
Es ist kein unbeschwertes Buch, dass uns der junge Debütautor Savit da zu lesen gibt, ganz und gar nicht. Aber es ist, obwohl ein Erstling, ein verblüffend reifes. Gar nicht umfangreich, dafür unglaublich dicht – die amerikanische Lektorin des Autors nennt es zurecht ein“Geschoss von einem Buch“. Es ist ein Buch übers Aufwachsen, übers Erwachsenwerden – allerdings unter denkbar schwersten Bedingungen, während der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Polen. Und wer da aufwächst, das ist Anna, ein junges jüdisches Mädchen, dessen Vater den „Säuberungsaktionen“ der Nazis Ende der Dreißigerjahre in Krakau zum Opfer fällt. Allein und verloren, schließt sich Anna dem geheimnisvollen Schwalbenmann an, dessen wahre Identität im gesamten Buch nicht gelüftet wird, und wandert mit ihm viele Jahre durch Polen, durch die Wälder abseits der Städte, immer im Verborgenen, auf der Flucht vor deutschen und russischen Truppen, in der Hoffnung, dass der irrsinnige Gewaltrausch ihrer Welt irgendwann verebbt und die beiden überleben, weiterleben dürfen. „Anna und der Schwalbenmann“ ist also ein Buch übers Überleben im Versteck angesichts von Krieg und Terror – und doch greift eine solche Beschreibung viel zu kurz.
Es ist auch die Geschichte einer neu geschaffenen Vater-Tochter-Beziehung, an deren Entwicklung wir teilhaben dürfen – und ganz gewiss lernt hier nicht nur eine vom anderen, sondern beide voneinander. Beide sind die Rettung des anderen, buchstäblich und immer wieder aufs Neue.
Es ist aber auch ein fundamentales Buch über wichtige Fragen des Lebens: Über die Frage, wie es möglich sein kann, in so viele verschiedene Rollen zu schlüpfen, wie Anna und ihr Schwalbenmann es müssen, und dennoch eine Identität und Wahrhaftigkeit zu bewahren. Über Recht und Unrecht. Über Sprache, übers Sprechen und Singen, diese zutiefst menschlichen Ausdrucksweisen. Ein Buch über den Sinn des menschlichen Lebens. Ein Buch über die grausamsten Lektionen des Lebens – und seine wundervollsten Möglichkeiten.

Antworten und Fragen …
Aber: Dies ist kein Buch der schnellen, einfachen Antworten. Es ist überhaupt kein Buch der Antworten. Es ist ein Buch der Fragen.
Nicht umsonst trägt das allerletzte Kapitel des Romans die Überschrift „Das Prinzip der Ungewissheit“. Nicht umsonst erklärt der Schwalbenmann in einer der Schlüsselstellen des Buchs, dass es für ihn nicht die Antwort, sondern die Frage ist, die „das ganze lebendige Universum in sich trägt“. „Natürlich ist Wissen überaus wichtig“, sagt der Schwalbenmann. „Aber Wissen ist auch eine Art von Tod. Ein Stück Wissen ist starr und unfruchtbar. Fragen, Anna, Fragen sind viel wertvoller als Antworten. Wenn du immer nach Fragen suchst, kannst du nicht vom richtigen Weg abkommen.“
Savit und sein Buch nehmen das ernst. Annas Hinterfragen der Welt trägt sie und uns durch die Geschichte – und selten wurden Fragen so gut gestellt, mit solchen unvergesslichen Bildern illustriert, so atemabschnürend auf den Punkt gebracht. Den Mangel an Antworten im Buch muss man allerdings auch ertragen, und hier ist Savit wirklich radikal und provokant. Wer hat nun recht: der messerscharf denkende, kluge, leuchtende Schwalbenmann – oder Annas kurzzeitiger Weggefährte Reb Hirschl, der warmherzige, liebevolle Gegenpart des Schwalbenmanns, dem alle Leserherzen zufliegen und der sich ganz dem Leben verschrieben hat – auch wenn es ihn zum Schluss das Leben kostet? Was will das offene Ende der Geschichte bedeuten, wenn sich alles – das Boot mit der entkommenen Anna, der Vogel über ihr – hoffnungsvoll einem neuen Land entgegenstreckt – und uns der Autor doch genau in diesem Moment allein lässt? Und die größte Provokation: der Schwalbenmann! Sein Geheimnis bleibt bis zum Schluss gewahrt, seine rätselhafte Identität wird nicht gelüftet. Aber vielleicht kam es auf diese Antwort eben auch gar nicht an – sondern auf unsere Fragen?

Die quälende Ungewissheit über den Schwalbenmann ...
Charismatisch, entschlossen, scharfsinnig, vielschichtig, beherrscht und doch von innen heraus leuchtend – der große, dünne Schwalbenmann ist eine faszinierende und einzigartige Figur, die kein Leser wieder vergessen wird. Von seinen charakterlichen Tiefen ist man immer wieder überrascht und ergriffen – dass er sich zu Anfang der Geschichte auf Anna einlässt, ist das erste Überraschungsmoment, dem viele folgen. Der Schwalbenmann ist ein einziges Rätsel.
Dass er eine Tochter hatte, die nicht mehr bei ihm ist, ist das durchscheinendste davon, trägt er doch in seiner alten Wandertasche ganz unten einen kleinen eingewickelten Babyschuh bei sich. Aber warum er vor den Menschen flieht, warum auch für ihn gilt, dass gefunden zu werden gleichbedeutend damit ist, verloren zu sein, darüber kann man nur spekulieren. Minimalistisch dosiert verstreut Savit einige Andeutungen. Wenn er gefunden würde, so bricht es einmal aus dem Schwalbenmann heraus, würde „die ganze Welt zum Blutvergießer“. Der Himmel würde dann brennen. Hat er irgendetwas mit der im Zweiten Weltkrieg von allen Seiten unter Hochdruck betriebenen Entwicklung von nuklearen Waffen zu tun und versucht, sich dem Missbrauch der Erkenntnisse zu entziehen? Passt das nicht auch zum letzten Dialog mit dem ebenso rätselhaften alten Mann in Danzig – und zu den Medikamenten, die er nimmt? Aber genauso gut kann es auch alles ganz anders sein. Ist der Schwalbenmann Deutscher? Ist er Jude? Wissenschaftler? Arzt? Woher kann er all die Sprachen? Hat er gar übersinnliche Fähigkeiten, wie Anna manchmal annimmt, wenn er die Vogelsprache spricht und eine Schwalbe herbeizaubert, wenn er Angreifer vertreibt und Feuer zwischen seinen Händen entspringen lässt? Meisterhaft balanciert Gavriel Savit diese unvergleichliche Figur an der Grenze zwischen Magie und Realität, an der Grenze all unserer sich widersprechenden Spekulationen. Und mal ehrlich: Was wäre gewonnen, wenn wir es wüssten? Nichts. Was zählt, ist der Kern seiner Geschichte. Und unsere Fragen.

Hoffnung
Was mir zurückbleibt von diesem wundervollen Roman, ist ein überwältigendes Gefühl der Hoffnung. Trotz all des Todes und der Zerstörung, die die Geschichte erzählen muss, ist für mich ein Schlüsselsatz des Buches eine der Lehren des Schwalbenmanns: „Menschen sind die größte Hoffnung des Menschen, zu überleben.“
Menschen – und ihre Fähigkeit, Fragen zu stellen.


Susanne Krebs (31.08.2015)

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