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Fünf Fragen an Joe Keohane

Joe Keohane
© Diana Levine
Ihr Buch „Strangers” handelt von der Angst vor dem Unbekannten und wie diese überwunden werden kann. Im Laufe Ihrer Recherche haben Sie viel Zeit damit verbracht mit Fremden Gespräche aufzubauen. Warum zögern wir so häufig Fremde anzusprechen, oder haben sogar Angst davor?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen extrem pessimistisch sind, wenn es um Gespräche mit Fremden geht. Wir erwarten, dass etwas schief läuft, dass die andere Person nichts Interessantes anzubieten hat, oder dass wir selbst nicht gut darin sind, ein Gespräch in Gang zu bringen. Manche denken auch einfach, dass sich ein Gespräch mit Fremden nicht gehört, oder unerwünscht ist.
Dieser Pessimismus fußt auf verschiedenen Faktoren. Jahrzehnte lang wurde Kindern beigebracht in Fremden eine Gefahr zu sehen (auch wenn Statistiken beweisen, dass die Wahrscheinlichkeit von jemandem den wir kennen verletzt zu werden viel höher ist). Moderne Technologie – vor allem das Smartphone – hat die Notwendigkeit verringert, jemals mit Fremden interagieren zu müssen. Das hat unsere sozialen Fähigkeiten einrosten lassen. Gerade in Großstädten entspricht es meistens nicht der Verhaltensnorm, Fremde anzusprechen.

Warum lohnt es sich mit Menschen in Kontakt zu treten, die wir nicht kennen?
Immer mehr Studien beweisen, dass es erstaunlich gut läuft, wenn Menschen mit Fremden sprechen. Im Allgemeinen sind Fremde offen, interessant und interessiert. Die Gespräche dauern länger als erwartet (auf angenehme Art und Weise) und enden fast nie in Abweisung. Noch viel wichtiger: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass uns der Umgang mit Fremden glücklicher und optimistischer stimmt und, dass wir uns weniger einsam fühlen und ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Auch Vorurteile können im richtigen Kontext abgebaut werden.
Kurz gesagt, in einer Epidemie der Einsamkeit, sozialen Zersplitterung und politischen Zerrissenheit, kann das Gespräch mit Fremden in der Welt etwas Gutes bewirken. Und das sollte uns eigentlich nicht überraschen. Wir sind sehr soziale Wesen. Wir brauchen den Kontakt zu Menschen und soziale Interaktionen um gesund zu bleiben. Wenn wir sie nicht bekommen, geht es uns nicht gut. Das Gespräch mit Fremden ersetzt nicht die Bedeutung von Familie und Freunden, kann aber nichts desto trotz vieles bewirken.

Wie können wir erfolgreich eine Konversation mit einem Fremden aufbauen? Was muss ich bei der ersten Kontaktaufnahme beachten?
Behalten Sie im Hinterkopf, dass Fremde – genau wie wir – eine pessimistische Einstellung gegenüber Unbekannten haben. Versuchen Sie Menschen nicht negativ zu überraschen. Schleichen Sie sich nicht an, seien Sie nicht aufdringlich, versuchen Sie nicht ein Gespräch zu später Stunde an einem abgelegenen Ort aufzubauen. Sie wollen sofort signalisieren, dass Sie neugierig, harmlos und respektvoll sind. Ich bin ein weißer Mann, meine Erfahrungen unterscheiden sich also von Menschen, die Minderheiten angehören oder jungen Frauen, die tagtäglich mehr Belästigung erfahren müssen als ich. Jeder Fremde und jede Situation ist anders, auch wenn die Vorteile mit Fremden zu sprechen recht universell sind.
Mein Tipp ist, Menschen an hellen und gut frequentierten Orten anzusprechen. In einem Park, einer Bar oder einer öffentlichen Bibliothek. Eine junge Frau, mit der ich im Laufe meiner Recherchen gesprochen habe, erzählte mir, dass sie sehr häufig mit Fremden spricht, aber immer nur in Begleitung. Das gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Wenn Sie einmal einen Weg in ein Gespräch gefunden haben, ist es die beste Strategie aufmerksam zu sein, Gehörtes zu kommentieren und zuzuhören, was ein Mensch zu sagen hat. Stellen Sie Fragen und von da an werden Sie überrascht sein, in welche unerwarteten Richtungen ein Gespräch gehen kann. Ich hatte viele von diesen Gesprächen und fast jedes davon war überraschend, faszinierend, horizonterweiternd, ergreifend, oder einfach urkomisch.

Die Corona-Pandemie hat große Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und unser Miteinander. Wie bewerten Sie die daraus resultierenden Veränderungen im Umgang mit Fremden und wie können wir dieser Entwicklung entgegenwirken?
Hierzu gibt es einen Fachbegriff, die sogenannte „pathogene Bedrohung“. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich an Orten, an denen ansteckende Krankheiten grassieren, eher traditionelle Kulturen entwickeln, die Fremden gegenüber ablehnender sind. Eine Idee davon haben wir während der Corona-Pandemie bekommen. Die gute Nachricht ist, dass ein Jahr wahrscheinlich nicht ausreicht um eine komplette Kultur zu verändern. Die schlechte Nachricht ist, dass die Pandemie das Tempo, in dem wir uns aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, noch beschleunigt hat. Dieser Rückzug aus dem sozialen Leben, der dem Aufstieg des Smartphones geschuldet ist, ist schlecht für uns und für die Gesellschaft. Politische Zerrissenheit, ein Mangel an Empathie und das Gefühl von Einsamkeit und Ängstlichkeit werden dadurch verstärkt. Und daraus resultiert meiner Meinung nach auch ein ziemlich langweiliges Leben. Mit Fremden zu reden gibt uns einen Einblick in das Leben von anderen, macht uns selbst weltoffener und empathischer. Es macht uns grundsätzlich zu besseren Menschen. Vor diesem Buchprojekt habe ich selbst kaum noch mit Fremden gesprochen. Ich musste aber feststellen, dass es wirklich Spaß macht, herausfordernd und erhellend ist. Der Kontakt zu Fremden hat verändert wie ich denke.

Wie Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist die Angst vor dem Fremden kein neues Konzept. Die Skepsis vor dem Unbekannten hat eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte. Schätzen Sie die momentane Situation angespannter ein als früher? Oder ist es ein subjektives Gefühl, dass die Situation sich verschlechtert?
Die Erde war schon immer ein hoffnungsloser Fall. Lesen Sie Homer, oder Vergil. Ich würde lieber in der heutigen Zeit, als im antiken Griechenland, oder sogar dem Amerika der 1950er Jahre leben. Und ein Jäger oder Sammler zu sein, wäre erst recht nichts für mich. Ich liebe Cocktails, gutes Schuhwerk, Zugreisen und John Coltrane einfach viel zu sehr.
Aber im Ernst. Wir stehen definitiv vor großen Herausforderungen, und ich glaube, dass es daran liegt, dass Menschen sich immer fremder werden. Die Menschen verstehen einander nicht und sie begreifen auch nicht, warum sie dies überhaupt versuchen sollten.
Wir können unsere zahlreichen Probleme nur lösen, wenn wir erneut lernen, mit unseren Mitmenschen zu reden. Ich habe hier in den Staaten einige Zeit mit einer Gruppe namens „Braver Angels“ verbracht, die Anhängern unterschiedlicher politischer Parteien beibringt, miteinander zu sprechen. Durch die „Braver Angels“ habe ich miterlebt wie Menschen sich verändert haben, sobald sie verstanden haben, dass sie mit der „anderen Seite“ kommunizieren können. Diese Gespräche zwischen vermeintlichen „Gegnern“ sind ein Anfang um bestehende gesellschaftliche Probleme zu lösen.
Die Fähigkeit des Menschen mit komplett Fremden zu kommunizieren ist einzigartig in der Natur. Wir sind, wie ein Evolutionsforscher einst zu mir sagte, der „Ultra-Kommunikations-Affe“. Die Zivilisation wäre so nicht passiert, wenn wir unsere Fähigkeit unser soziales Netzwerk zu vergrößern und Fremde zu Freunden zu machen nicht genutzt hätten. Die Frage ist, in welche Richtung werden wir uns entwickeln? Werden wir kooperieren und miteinander kommunizieren? Oder werden wir zunehmend ablehnend gegenüber Fremden werden? Genau jetzt ist der Moment, an dem sich entscheidet in welche Richtung wir uns als Gesellschaft entwickeln werden.



© Goldmann Verlag
Interview: Sarah Bergius