Fragen zu "Corpus Delicti"

Große Fragen, große Themen – Juli Zeh spricht über ihr Schreiben, ihr Denken und unsere Gesellschaft.

Seit ihr Roman »Corpus Delicti« 2009 erschienen ist, erreichen Juli Zeh immer wieder E-Mails von Leserinnen und Lesern mit Fragen zum Text. Zur Entstehungsgeschichte, zur Handlung, zu Figuren und Interpretation. In diesem Buch geht Juli Zeh in Form eines fiktiven Interviews diesen Fragen nach, nicht selten geht sie auch darüber hinaus. Im Zentrum steht die Beschäftigung mit Themen des Romans, die zum Verständnis unserer heutigen Gesellschaft beitragen. Was für ein Menschenbild pflegen wir, wohin bewegt sich unsere Gesellschaft, wie wollen wir zusammenleben und welche Werte sind bedeutsam für uns? »Fragen zu Corpus Delicti« ist nicht nur eine profunde Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem bislang politischsten Roman, sondern auch eine Betrachtung der Bedingungen und Mentalitäten, die unser Leben heute bestimmen.

Liebe Juli Zeh...

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Warum hast du eine Frau als Protagonistin gewählt?

Gute Frage. Eigentlich mag ich in meinen eigenen Büchern männliche Hauptfiguren lieber. Ich finde es einfacher, mich in das Denken und Fühlen eines Mannes hineinzuversetzen als in das einer Frau. Ich bin schon oft gefragt worden, warum das so sei, aber ich kann dazu keine klare Antwort geben. Vielleicht denke ich selbst eher »wie ein Mann«, was auch immer das bedeuten mag. Oder vielleicht ist es genau umgekehrt, und die Erfindung einer männlichen Hauptfigur ermöglicht mir eine gewisse Distanz, die ich zum Erzählen brauche.
Interessanterweise sind ausgerechnet in den beiden Romanen mit starkem politischem Hintergrund, die ich bislang geschrieben habe, nämlich in Corpus Delicti und in Leere Herzen, die jeweiligen Hauptfiguren weiblich. Mia Holl und Britta Söldner. Vielleicht sind Frauen zurzeit in gewisser Weise die attraktiveren Thriller-Heldinnen. Man sieht auch in Hollywood-Filmen, dass mehr und mehr Action-Heldinnen entwickelt werden, während es bis vor Kurzem in »harten« Filmen überwiegend männliche Protagonisten gab. Hollywood zeigt, was die Menschen sehen wollen. Entsprechend sind die Filme immer auch Spiegel des Zeitgeistes. Die Rolle der Frau ist seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einem riesigen Entwicklungsschub unterworfen, was sie für das dramatische Erzählen besonders interessant macht. Auf Bühne und Leinwand entsteht Dramaturgie durch eine Entwicklung des Helden oder der Heldin von der Schwäche zur Stärke. Genau diese Entwicklung vollzieht das weibliche Geschlecht heute in der westlichen Welt, wenn auch natürlich mit sehr vielen Verwerfungen. Möglicherweise sind Thriller deshalb
momentan so häufig »weiblich«.
Aber das ist eine These, die ich gerade entwickele, während ich versuche, die Frage zu beantworten. Sie hat nichts mit den Entscheidungen zu tun, die ich während des Schreibens getroffen habe. Trotzdem ist man als Autorin immer auch ein Seismograph für soziale Veränderungen, ob man will oder nicht. Es kann also durchaus sein, dass die Entscheidung über das Geschlecht einer Hauptfigur bei mir nicht nur persönliche, sondern indirekt auch gesellschaftlich-kulturelle Gründe hat.

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Was, würdest du sagen, ist das Hauptthema von "Corpus Delicti"?

Der Text behandelt so viele Themen, dass es gar nicht leicht ist, ein Hauptthema zu bestimmen. Natürlich geht es um Biopolitik, um die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur, um die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Auch um die Bedingungen von politischem Widerstand. Dahinter stehen dann philosophische Fragen. Was macht den Menschen aus? Wie ist Mensch-Sein definiert, was unterscheidet uns vom Tier? Was ist Menschenwürde, wie fühlt sie sich an? Was bedeutet Glück, was ist das »gute Leben«?
Und dann gibt es noch Themen, die eher indirekt behandelt werden und zwischen den Zeilen aufscheinen. Zum Beispiel: Wie viel kann und darf man wissen? Ist Information eine Erweiterung von Freiheit oder vielmehr eine Bedrohung, weil sie uns auf etwas festlegt, das wir nicht selbst entschieden haben? Wenn ich zum Beispiel erfahre, dass ich einen Gendefekt habe, der mich im Alter von 55 Jahren sterben lassen wird, kann das mein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Eine kleine Information wird mich unter Umständen in eine andere Person verwandeln. Wir Menschen gieren nach Wissen, auch um mit dessen Hilfe die Zukunft zu kontrollieren und den Zufall zu domestizieren. Aber vielleicht ist ja gerade der Zufall Garant unserer persönlichen Freiheit und damit auch Voraussetzung für ein unbeschwertes Lebensgefühl. Statt zu behaupten: »So und so wird es kommen, streng dich an, das Beste daraus zu machen!«, lehrt uns der Zufall: »Es kommt, wie es kommt. Entspann dich.«
Somit ist Corpus Delicti auch ein Roman über die Bedeutung von Zeit, über Sterblichkeit, über den Gottesverlust, über die transzendentale Obdachlosigkeit des säkularen Menschen, über die geistigen Folgen von bürgerlicher Emanzipation und Aufklärung.

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Wie wurde "Corpus Deliciti" eigentlich von den Kritikern aufgenommen?

Überwältigend gut. Damit hatte niemand gerechnet, ich nicht und auch nicht der Schöffling Verlag, bei dem der Roman im Jahr 2009 erschien. Wir dachten wohl alle, das Buch würde den Feuilletons gar nicht richtig auffallen, weil es ja schon das Theaterstück gegeben hatte. Aber dann erschienen viele Rezensionen, die sich substanziell und klug mit den politischen Fragestellungen auseinandersetzten. Meinem Gefühl nach habe ich zu keinem anderen meiner Romane so interessante Rezensionen bekommen. Bei der Auseinandersetzung mit Corpus Delicti ging es um mehr als literarischen Geschmack. Es ging um unsere Gesellschaft, um die conditio humana in der heutigen Zeit. Das hat mich glücklich gemacht. Bei Corpus Delicti ist etwas geschehen, das sich jeder Autor und jede Autorin wünscht: Der Roman trug dazu bei, einen Diskurs anzuregen.
Auch auf meine Lesungen folgte jedes Mal eine politische Diskussion mit Moderator und Publikum. Die
Zuhörer stürzten sich geradezu auf die Themen. Gerade die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, ob es
wirklich darum gehen kann, sich gegen alle möglichen Risiken abzusichern, oder ob es wichtiger ist, als Solidargemeinschaft das Lebensrisiko der Einzelnen aufzufangen, wurde immer wieder lebhaft und kontrovers besprochen.

Ein aufrüttelndes Schreckensbild unserer Zukunft. Oder der Gegenwart?

Jung, attraktiv, begabt und unabhängig: Das ist Mia Holl, eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt wird ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an Verstand (sie denkt naturwissenschaftlich) und ein Übermaß an geistiger Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat, reicht dies aus, um als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden. Juli Zeh entwirft in Corpus Delicti das spannende Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur irgendwann im 21. Jahrhundert, in der Gesundheit zur höchsten Bürgerpflicht geworden ist.

»Juli Zeh ist mit Corpus Delicti der weibliche George Orwell der Gegenwart geworden.« - Deutschlandradio

Juli Zeh
© Peter v.Felbert

Über die Autorin

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman "Unterleuten" (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018). 2018 wurde sie zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.