Ragnar Jónasson: FROST

Nach HULDA kommt HELGI

Ein altes Sanatorium. Ein entschlossener Ermittler. Ein ungelöstes Rätsel. Der junge Kommissar Helgi Reykdal, für den Kommissarin Hulda Hermannsdóttir in »DUNKEL« ihren Schreibtisch räumen musste, begibt sich im eisigen Norden Islands auf die Spuren eines Cold Case. Er untersucht eines der größten Rätsel der isländischen Kriminalgeschichte: die Todesfälle im Tuberkulose-Sanatorium. 1983 starben dort eine Krankenschwester und der Chefarzt Was ist 1983 wirklich geschehen? Und wurde die damalige Ermittlerin Hulda zum Schweigen gebracht?

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2012


HELGI

Die bedrückende Stille wurde zerrissen.
Jemand stand vor der Tür und klopfte, ziemlich energisch, nachdem er sicher schon zigmal auf die Türklingel gedrückt hatte, aber die war kaputt.
Helgi stand auf.
Er hatte mit einem Krimi auf dem Sofa gesessen, hatte sich vor dem Schlafengehen wieder einigermaßen fangen wollen, indem er in die Romanwelt abtauchte, aber so wurde das nichts.
Bergþóra und er wohnten zur Miete in der Kellerwohnung eines alten Hauses im Reykjavíker Stadtteil Laugardalur. Auch das restliche Haus war vermietet, über ihnen wohnte ein Ehepaar mit zwei Kindern. Der Eigentümer lebte wahrscheinlich irgendwo im Ausland.
Zu den Leuten von oben hatte Helgi keinen guten Draht, sie waren meist unfreundlich und mischten sich in alles ein, als hätten sie mehr zu sagen, weil sie den größeren Teil des Hauses bewohnten. Der Kontakt zwischen ihnen war daher auf ein Minimum reduziert und ziemlich unterkühlt.
Helgi ahnte, dass ebendieser Nachbar vor der Tür stand und sich mal wieder wichtigmachen wollte. Aber es gab noch eine andere, deutlich schlimmere Möglichkeit.
Langsam trat er in die Diele. Das Wohnzimmer war richtig gemütlich, alle Wände voller Bücher – seiner Bücher –, vor den Regalen stand ein bequemer Sessel und zum Fernsehen gab es ein passables Sofa. Auf dem Couchtisch standen Duftkerzen, die Helgi aber nicht angezündet hatte. Heute nicht. Dafür hatte er eine Platte aufgelegt, eine echte Schallplatte. Der Plattenspieler war neu und an das Soundsystem im Wohnzimmer angeschlossen, darauf spielte er die alten Jazz-Platten seines Vaters. Das Hämmern an der Tür durchbrach die warmen Jazz-Töne, zerriss die Ruhe, die in der Wohnung eingekehrt war.
Verdammt, dachte Helgi.
Als er die Tür fast erreicht hatte, wurde das Klopfen noch lauter und eindringlicher. Er schnappte nach Luft, legte die Hand auf die Türklinke und wartete, nur einen kurzen Moment. Dann öffnete er die Tür.

Draußen stand ein uniformierter Polizist, ein junger Mann, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, gedrungen und mit ausdrucksstarkem Gesicht. Er stand im Schein der Außenlampe, hell erleuchtet in der Dunkelheit, und wirkte konzentriert, als erwartete er einen Konflikt. Helgi kannte den Mann nicht. In seinem Schatten stand ein weiterer Polizist, der Helgi etwas entspannter vorkam, obwohl er sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Guten Abend«, sagte der Polizist, der im Licht stand. Er klang nicht so ernst, wie Helgi erwartet hatte, seine Stimme zitterte sogar leicht. Wahrscheinlich wirkte der Mann nur so konzentriert, weil er seine Unsicherheit überspielen wollte. Vielleicht war das sein erster Einsatz.
»Helgi? Helgi Reykdal?«
Helgi war nicht viel älter als sein Gegenüber, gut dreißig, aber er fühlte sich dem jungen Polizisten überlegen.
»Ja, Helgi Reykdal. Was gibt’s?«, fragte er mit fester Stimme. Rückte die Machtverhältnisse zurecht. Das hier war sein Zuhause, und sie störten ihn spät am Abend.
»Es ist, wie soll ich sagen …« Der Polizist zögerte, was Helgi nicht überraschte. »Es ist eine Beschwerde eingegangen …«
Helgi fiel ihm ins Wort.
»Eine Beschwerde? Von wem?« Helgi würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
»Tja, wir … das dürfen wir Ihnen nicht sagen.«
»Mein Nachbar da oben, stimmt’s?«, sagte Helgi und lächelte. »Dieser Hund, der beschwert sich ständig über irgendetwas. Ich glaube, er ist unglücklich in seiner Ehe. Man darf nicht die Stimme erheben, noch nicht einmal den Fernseher aufdrehen, schon hämmert er mit dem Besenstiel auf den Boden. Und wie ich sehe, hat er jetzt sogar die Polizei gerufen.«
»Er hat einen lauten Streit gehört …« Der Polizist hielt mitten im Satz inne, als er merkte, dass er zu viel verraten hatte. »Also, ja, es ist eine Beschwerde eingegangen …«
»Das haben Sie bereits gesagt«, sagte Helgi bestimmt.
»Eine Beschwerde, dass es laut geworden ist. Es wurden Streit und Schreie gehört. Mehr als bei einer normalen Auseinandersetzung.«
Jetzt trat der andere Polizist aus dem Schatten heraus, machte einen Schritt auf Helgi zu und sah ihm in die Augen.
»Tatsächlich! Ich wusste doch, dass mir der Name bekannt vorkam«, sagte er zu Helgi.
Auch Helgi erinnerte sich sofort, als er den Mann sah. Sie hatten im vergangenen Jahr hin und wieder gemeinsame Schichten bei der Reykjavíker Polizei gehabt. Aber sie kannten sich nur flüchtig.
»Reimar«, stellte der Polizist sich vor. »Du warst doch letzten Sommer bei uns, oder?«
»Ja, ein Sommerjob nach der Ausbildung. Danach habe ich studiert, Kriminologie«, antwortete Helgi.
»Ja, stimmt, ich erinnere mich, das hat mir jemand erzählt. In Großbritannien, oder? Mit dem Gedanken habe ich auch oft gespielt, mich noch weiterzubilden«, sagte Reimar.
Helgi nickte. Er stand immer noch in der Tür und demonstrierte, dass er hier der Hausherr war. »Das stimmt. Streng genommen bin ich immer noch Student, ich schreibe gerade meine Abschlussarbeit. Aber wir sind schon zurück nach Island gezogen, weil meine Frau hier einen guten Job gekriegt hat.« Helgi lächelte.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte Reimar. »Tja, vielleicht nicht unter den erfreulichsten Umständen. Es gibt Probleme mit dem Nachbarn, sagst du?«
»Ja, das kann man wohl sagen. Dieser Idiot. Aber das ist zum Glück nur eine Mietwohnung, früher oder später zie hen wir hier sowieso aus.«
»Er sagt, er hat Lärm gehört«, schaltete sich der andere Polizist wieder ein. Jetzt klang er deutlich ruhiger.
»Das stimmt schon, es gab eine kleine Auseinandersetzung zwischen mir und meiner Frau. Aber nichts, weshalb man die Polizei rufen müsste. Wie gesagt, man muss nur den Fernseher mal ein bisschen lauter drehen, schon steht der Kerl auf der Matte. Diese alten Häuser sind so verdammt hellhörig.«
»Da sagst du was. Ich wohne auch in so einem Haus in der Weststadt«, sagte Reimar.
»Es tut mir leid, dass ihr wegen so etwas ausrücken musstet«, sagte Helgi und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wollt ihr mit meiner Frau sprechen? Euch vergewissern, dass alles in Ordnung ist? Sie schläft, aber ich kann sie natürlich wecken.«
Reimar lächelte. »Nicht nötig.«
Sein Kollege schien etwas einwenden zu wollen. Helgi sah ihn an, und es war, als verschluckte das Schweigen seine Einwände.
Schließlich ergriff Reimar wieder das Wort: »Entschuldige die Störung, Helgi. Ich hoffe, wir haben dich nicht geweckt.«
»Schon gut, ich habe noch gelesen.«
»Kommst du nach dem Studium denn wieder zu uns?«
»Ich arbeite daran. Bin gerade in Gesprächen mit der Reykjavíker Polizei, dass ich vielleicht im Frühjahr einsteige. Das wäre schon ein Traumjob.«
»Sehr schön, dann sehen wir uns sicher bald wieder.« Er streckte die Hand aus. Helgi verabschiedete sich per Handschlag und schloss die Tür.

Er atmete tief durch. Das war ja noch mal gut gegangen. Er hätte nicht gedacht, dass der Idiot da oben tatsächlich die Polizei rufen würde, obwohl er es zu einem gewissen Grad verstehen konnte, denn es war wirklich ganz schön laut geworden.
Sein Herz klopfte unangenehm schnell, aber er war zufrieden, dass er den Polizisten gegenüber so besonnen aufgetreten war. Da half die Erfahrung, die er bei der Polizei gesammelt hatte.
Er setzte keine großen Hoffnungen in einen zweiten Anlauf mit dem Krimi, aber versuchen wollte er es trotz dem noch einmal. Wollte sich von dem blöden Nachbarn nicht auch noch den Rest des Abends versauen lassen. Er arbeitete unter Hochdruck an seiner Abschlussarbeit und musste aufpassen, dass er sich zwischendurch genügend Verschnaufpausen gönnte. Am allerbesten schaffte er das bei einem guten Buch auf dem Sofa.
Sein Vater war Antiquar im Norden Islands gewesen, mit einem besonderen Faible für übersetzte Kriminalliteratur, die er mit Eifer gesammelt hatte. Auch seinen Sohn hatte er bereits in jungen Jahren mit dem Krimi-Virus infiziert. Nach dem Tod des Vaters hatte Helgi die Sammlung geerbt und hielt sie seitdem in Ehren. Einen großen Teil der Bücher kannte er bereits, aber noch nicht alle, das holte er jetzt nach, aber er genoss es auch, Bücher noch einmal zu lesen, die er als Jugendlicher verschlungen hatte. Er ließ sich aufs Sofa fallen und schlug den Krimi auf.
Mord im Irrenhaus von Patrick Quentin, eine alte, zerfledderte Ausgabe. Der erste Roman mit Detektiv Duluth, zu dem es im isländischen Radio ein Hörspiel gegeben hatte, ziemlich gut gemacht, wenigstens hatte er das als Jugendlicher so empfunden. Daraufhin hatte Helgi den Roman auf Englisch gelesen. Es ging um Morde in einer Nervenheilanstalt, in der Duluth wegen seines Alkoholismus behandelt wurde. Ein ziemlich ungewöhnliches Thema, dafür, dass der Roman in den 1930ern, im goldenen Krimizeitalter, erschienen war. An dieses Buch hatte Helgi in letzter Zeit häufiger gedacht, wegen seiner Abschlussarbeit. Todesfälle in einem Krankenhaus …
Helgi las ein paar Seiten, doch er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Vielleicht lag es an der Qualität des Buchs, aber er glaubte eher, dass die Polizei – oder vielmehr: der Nachbar von oben – schuld daran war. Dieser Besuch hatte ihn aus der Bahn geworfen. Vielleicht hob er sich das Buch besser fürs Wochenende auf und ging jetzt schlafen. Er würde auf dem Sofa schlafen, wie immer nach solchen Auseinandersetzungen. Wie immer war er derjenige, der sich opferte.
Vorsichtig legte er das Buch auf den Tisch – mit seinen Büchern ging er äußerst sorgsam um. Diese alten Krimis waren ihm kostbar, auch wenn sie in Wirklichkeit sicher nicht viel wert waren.
Wenn er ehrlich war, freute Helgi sich sogar aufs Schlafen, er schlief meist gut und brauchte auch alle Kräfte für den Endspurt des Studiums. Das Thema seiner Abschlussarbeit war ziemlich ungewöhnlich, und er war erstaunt gewesen, dass der Professor in Großbritannien sich darauf eingelassen hatte.
Diese Nacht mussten Sofakissen und eine dünne Decke als Bettzeug reichen, aber das machte nichts, er war einiges gewohnt. Außerdem war es angenehm warm in der Wohnung.
Er zog sein weißes Hemd aus, hängte es über die Sessellehne – und bekam einen Schreck.
Zum Glück hatten die Polizisten den Blutfleck am Ärmel nicht bemerkt.

Ragnar Jónasson über Hulda, Helgi und seine Liebe zu Island

Band 1: DUNKEL von Ragnar Jónasson

Vom Ende zum Anfang: "DUNKEL" ist der erste von drei Teilen

Eine junge Frau suchte Sicherheit, doch was sie fand, war der Tod…

Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, soll frühzeitig in Ruhestand gehen, um Platz für einen jüngeren Kollegen zu machen. Sie darf sich einen letzten Fall, einen cold case, aussuchen – und sie weiß sofort, für welchen sie sich entscheidet. Der Tod einer jungen Frau wirft während der Ermittlungen düstere Rätsel auf, und die Zeit, um endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen, rennt. Eine Wahrheit, für die Hulda ihr eigenes Leben riskiert …

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Lernen Sie Islands einsamste Kommissarin Hulda kennen...

Wie unter Schock taumelte Hulda zurück in ihr eigenes Büro. Sie fühlte sich, als wäre sie gefeuert worden, hochkant rausgeworfen, als ob all ihre Jahre im Polizeidienst nichts zählten. Das war eine vollkommen neue Erfahrung für sie. Und obwohl sie wusste, dass sie übertrieben reagierte, dass sie es nicht so auffassen sollte, konnte sie die Übelkeit, die in ihr hochstieg, nicht mehr hinunterschlucken.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm, ohne auch nur die Energie aufzubringen, den Computer einzuschalten. Ihr Büro, das bis jetzt ihr zweites Zuhause gewesen war, kam ihr mit einem Mal fremd vor, als hätte der Neue es bereits in Beschlag genommen. Ihr alter Schreibtischstuhl fühlte sich unbequem an, der braune Schreibtisch sah antiquiert und abgenutzt aus, die Akten bedeuteten ihr nichts mehr. Die Vorstellung, auch nur einen Moment länger hierzubleiben, war unerträglich.
Sie brauchte etwas, um sich abzulenken. Und was könnte besser sein, als Magnús beim Wort zu nehmen und in ungelösten Fällen zu wühlen? Dabei musste Hulda in Wahrheit nicht mal überlegen: Es gab einen unaufgeklärten Todesfall, der förmlich danach schrie, ihn sich wieder vorzunehmen. Die damalige Ermittlung war von einem ihrer Kollegen durchgeführt worden – sie hatte den Verlauf nur aus der Ferne verfolgt –, doch das könnte sich nun als Vorteil erweisen, weil es sie in die Lage versetzte, die Indizien unvoreingenommen zu betrachten.
Der besagte Todesfall würde fast sicher ein Rätsel bleiben, sofern keine neuen Beweise auftauchten. Aber vielleicht erwies er sich auch als verkappter Segen, als unverhoffte Gelegenheit. Die Tote hatte niemanden gehabt, der für sie eingestanden war, doch für kurze Zeit – wie kurz auch immer – würde Hulda die Rolle ihrer Advokatin übernehmen. In zwei Wochen ließe sich eine Menge erreichen. Zwar machte sie sich keine echten Hoffnungen, den Fall zu lösen, aber sie hätte zumindest ein Ziel vor Augen. Sie war wild entschlossen, jeden einzelnen Tag im Büro zu erscheinen, bis dieser »junge Mann« kam, um sie zu vertreiben. Sie hätte sich natürlich auch beim Personalrat darüber beschweren können, wie mit ihr umgesprungen wurde, und darauf beharren, bis Ende des Jahres ihrem Dienst nachzugehen; doch um darüber nachzudenken, blieb ihr immer noch reichlich Zeit. Im Moment wollte sie ihre Energie auf etwas Positives richten.
Als Erstes rief sie die elektronischen Akten zu dem alten Fall auf, um sich die Details in Erinnerung zu rufen. Man hatte die Leiche der jungen Frau an einem dunklen Wintermorgen in einer felsigen Bucht am Vatnsleysuströnd gefunden, einem dünn besiedelten Küstenstreifen im Norden der Halbinsel Reykjanes etwa dreißig Kilometer südlich von Reykjavík. Hulda war nie in der Bucht gewesen, hatte nie einen Grund gehabt, dorthin zu fahren, kannte die Gegend jedoch, weil man auf dem Weg zum Flughafen dort vorbeikam. Es war ein öder, windgepeitschter Landstrich, die kargen Lavafelder boten kaum Schutz vor den Stürmen, die regelmäßig in südwestlicher Richtung vom Atlantik hereinfegten.
In den gut zwölf Monaten, die seit dem Leichenfund vergangen waren, war die öffentliche Erinnerung daran verblasst. Nicht dass er damals große mediale Beachtung gefunden hätte. Nach den üblichen Kurzmeldungen war der weiteren Entwicklung wenig Aufmerksamkeit geschenkt und der Fokus auf neuere Nachrichten gerichtet worden. Obwohl Island mit durchschnittlich zwei Morden pro Jahr, mitunter auch weniger, als eins der sichersten Länder der Welt galt, waren Unfalltode durchaus an der Tagesordnung; doch hiesige Journalisten sahen wenig Nutzen darin, darüber zu berichten.
Es war auch nicht die Gleichgültigkeit der Medien, die Hulda damals schon gestört hatte, es war vielmehr der Verdacht, dass der Kollege von der Kriminalpolizei, der in dem Fall ermittelt hatte, nachlässig gearbeitet hatte. Alexander. Sie hatte nie viel Vertrauen in seine Fähigkeiten gehabt. Ihrer Meinung nach war er weder besonders sorgfältig noch besonders intelligent und hielt sich nur durch eine Mischung aus Hartnäckigkeit und guten Beziehungen auf seinem Posten. In einer gerechteren Welt wäre sie in den höheren Rang befördert worden – sie wusste, dass sie klüger, gewissenhafter und erfahrener war als er –, trotzdem war sie auf ihrem Karriereweg stecken geblieben. In solchen Momenten hatte sie sich nicht gegen das nagende Gefühl der Verbitterung wehren können. Sie hätte alles dafür gegeben, über die Macht zu verfügen, einem Ermittler, der seinem Job offensichtlich nicht gewachsen war, den Fall zu entziehen.
Alexanders mangelndes Engagement bei der Ermittlung war bei den Teamsitzungen deutlich zutage getreten. In gelangweiltem Ton hatte er bemüht jedes Indiz präsentiert, das auf einen Unfalltod hindeutete. Auch sein Abschlussbericht war schlampig, wie Hulda jetzt feststellte. Er enthielt eine unbefriedigend kurze Zusammenfassung des Obduktionsberichts und schloss mit dem üblichen Vorbehalt, dass man bei einer aus dem Meer angespülten Leiche unmöglich feststellen könne, ob es eine Fremdeinwirkung gegeben habe. Kaum überraschend hatte die Ermittlung nie etwas Konkretes ergeben, und irgendwann war der Fall zugunsten anderer, »dringenderer« Fälle eingemottet worden. Hulda fragte sich unwillkürlich, ob man anders reagiert hätte, wenn die junge Frau Isländerin gewesen wäre. Jede Wette, dass man den Fall einem kompetenteren Kommissar übertragen hätte, weil von der Öffentlichkeit lautstark Ergebnisse verlangt worden wären.
Die Frau war zum Zeitpunkt ihres Todes siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, so alt wie Hulda bei der Geburt ihrer Tochter. Erst siebenundzwanzig, in der Blüte des Lebens: viel zu jung, um Gegenstand einer Polizeiermittlung zu sein, geschweige denn zu einem ungelösten Fall zu werden, dessen Wiederaufnahme niemanden auch nur im Geringsten zu interessieren schien – außer Hulda.
Laut Obduktionsbericht war sie in Salzwasser ertrunken. Ihre Verletzungen deuteten auf eine vorangegangene Körperverletzung hin, aber die Frau konnte ebenso gut gestolpert, gefallen und bewusstlos ins Meer gestürzt sein.
Der Name des Opfers war Elena. Sie war Russin gewesen, hatte erst seit vier Monaten in Island gelebt und hier Asyl beantragt. Vielleicht lag es an der Schnelligkeit, mit der die meisten Elena vergessen hatten, warum es Hulda so schwerfiel, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Elena hatte in einem fremden Land Zuflucht gesucht und nur ein nasses Grab gefunden. Und niemanden kümmerte es. Hulda wusste, wenn sie diese letzte Gelegenheit, dem Rätsel auf den Grund zu gehen, nicht ergriff, würde sich nie wieder jemand die Mühe machen, und Elenas Geschichte geriete in Vergessenheit. Sie würde einfach das Mädchen bleiben, das nach Island gekommen und gestorben war.

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Band 2: INSEL von Ragnar Jónasson

Teil 2: Mit "INSEL" reisen wir 15 Jahre zurück in Huldas Vergangenheit

Vier Freunde auf einer entlegenen Insel, aber nur drei kehren zurück.
Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird zu einer abgelegenen Insel geschickt. Was ist dort in dem Haus geschehen, das von der Bevölkerung als das isolierteste Haus Islands bezeichnet wird? Huldas Ermittlungen kreuzen Vergangenheit und Gegenwart – und plötzlich ist sie einem Mörder auf der Spur, der möglicherweise nicht nur ein Leben auf dem Gewissen hat …

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Band 3: NEBEL von Ragnar Jónasson

Teil 3 der HULDA-Trilogie

Ein einsames Bauernhaus - und ein verhängnisvoller Besuch.

Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, kehrt nach einem Schicksalsschlag gerade wieder in ihren Beruf zurück. Um sie bei der Wiederaufnahme der Arbeit zu unterstützen, wird Hulda von ihrem Chef mit einem neuen Fall betraut: Mehrere Leichen wurden in einem abgelegenen Bauernhaus im Osten des Landes gefunden, und alles deutet darauf hin, dass sie dort schon seit einigen Wochen liegen. Was ist während der Weihnachtstage geschehen, als das Bauernhaus durch einen Schneesturm vom Rest der Welt abgeschnitten war? Und gibt es ein Entkommen vor der eigenen Schuld?

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Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.
Seine Bücher werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert.
Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften. Die preisgekrönte Hulda-Trilogie erscheint bei btb erstmals auf Deutsch.