Warum der »Struwwelpeter«?
Christian Ulmen: Man muss manchmal die Sachen auch benennen. Man muss zeigen: „Guck mal, das ist doch wahnsinnig hart.“ Auch um den Kindern zu zeigen, wie gut sie es heute haben. Dass sie nicht mehr mit dem Presslufthammer erzogen werden, nicht mehr mit Angst vor dem Tod. Unsere Kinder leben heute in einer Zeit, in der sie, wenn es gut läuft, herzlich gekuschelt werden. Und da kann man den Kindern schon mal sagen: „Schaut mal, wie scheiße wir es früher hatten. Wir mussten den Struwwelpeter lesen, weil wir am Daumen genuckelt haben.“
Wie gruselig dürfen Geschichten für Kinder denn allgemein sein? Was halten Kinder aus?
Christian Ulmen: Ich bin ja kein Pädagoge. Ich habe da gar keine Ahnung. Ich glaube, dass Kinder da unterschiedlich sind. Mein Sohn hatte zum Beispiel viel mehr Angst als meine Tochter. Ich habe mit meiner Tochter jetzt Die unendliche Geschichte gesehen, sie ist 5 Jahre alt. Meinem Sohn habe ich den Film im gleichen Alter zeigen wolle und er hat es nicht ertragen. Meine Tochter ist durch den Film gejagt und hat ihn geliebt. Sie hatte natürlich auch Angst, aber in einer gesunden Dosis. Und mein Sohn ist weggerannt, er wollte das nicht zu Ende gucken. Da gibt es überhaupt nichts Allgemeingültiges. Angst zu haben bei einem Film, wenn man ein Buch liest oder ein Hörbuch hört, ist natürlich etwas Tolles. Weil man sich spürt, weil man in einer Geschichte aufgeht, weil man mitfühlt. Man sollte aber kein Trauma davontragen. Ich glaube, das ist die Trennlinie. Struwwelpeter, finde ich, ist eher Trauma. Und auch wahnsinnig unsympathisch. Ich habe schon als Kind durchschaut, was dahintersteckt. Viele Kinder sind ja auch nicht blöd, und checken, dass die Geschichte mit dem Jungen, dem die Daumen abgeschnitten werden, dazu da ist, dass sie nicht mehr am Daumen nuckeln.
Kinder mögen ja eigentlich eher lustige Geschichten. Je alberner, je lustiger sie sind, desto besser. Warum also vielleicht doch den »Struwwelpeter?«
Christian Ulmen: Also den Struwwelpeter auf keinen Fall als das, was er ist. Ich glaube, Kinder sind nicht so blöd, wie man manchmal denkt. Sie sind in der Lage, auf einer Metaebene mitdenken zu können. Wenn man ihnen sagt: „Das ist ein Gruselstück. Das haben die Kinder früher gelesen.“, dann ist das der Kitzel. Der Kitzel ist nicht, „Dem Jungen werden die Daumen abgeschnitten.“, sondern „Das haben die Kinder früher vorgelesen bekommen.“ Und das ist, finde ich, ein anderer Grusel, als wirklich Angst davor zu haben zu müssen. Der Grusel ist eher: „Unfassbar, was die armen Kinder früher für eine Angst gehabt haben müssen.“ Das ist, glaube ich, der Gruselspaß, wenn man heute Kindern nochmal den Struwwelpeter vorliest.
Was ist das Tolle an Geschichten und am Geschichten erzählen?
Christian Ulmen: Geschichten sind toll, weil man Fantasien aufrechterhält. Das Land Fantasien stirbt ja durch das Nichts. Alle Fantasiefiguren rafft es danieder. Aber je mehr wir uns ausdenken, je mehr Fantasie wir haben, desto größer wird Fantasien. Im Auftrag dieses Landes sollten wir möglichst viele Geschichten erdenken und erzählen.