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Eröffnungsrede des 21. internationalen literaturfestival berlin von Leïla Slimani

Aufruf zum Verbrechen

Meine Damen, ich möchte Sie heute Abend dazu ermutigen, einen Mord zu begehen. Sie brauchen dafür keine ausgefeilten Waffen. Nehmen Sie, was Sie gerade zur Hand haben. Ihre Tasche, einen spitzen Stift, einen Regenschirm oder ein paar Steine von der Straße. Ein Buch tut es auch. Frauen, die lesen, seien gefährlich, sagt man: höchste Zeit, es zu beweisen. Sie kennen das Opfer gut. Es lebt schon lange mit Ihnen zusammen. Hat Sie in schlaflosen Nächten verfolgt. Keine Angst, meine Herren, Sie sind nicht der Nabel der Welt, und es geht hier ausnahmsweise einmal nicht um Sie. Bleiben Sie bei uns, Sie haben nichts zu befürchten und könnten sogar zu Komplizen dieses Mordes werden.
Das Opfer kommt zu uns aus grauer Vorzeit; sie ist ein Gespenst, das umgeht, ein Trugbild, das uns verzehrt, ein Mythos, der uns im Weg steht. Sie ist schön, sie ist liebreizend. Sie hat, wie in jeder Kindergeschichte, eine glockenhelle Stimme und einen Kussmund. Sie ist, um es mit Virginia Woolf zu sagen: „ungeheuer verständnisvoll, absolut bezaubernd, vollkommen selbstlos. Sie war eine Meisterin in der schwierigen Kunst des Familienlebens. Sie opferte sich täglich auf. Wenn es Huhn gab, nahm sie das Bein; wenn es einen zugigen Platz gab, saß sie dort – kurz, sie war so beschaffen, dass sie nie einen eigenen Wunsch oder Willen hegte, sondern lieber stets den Wunsch oder Willen der anderen bediente.“
Meine Damen, ich fordere Sie heute Abend auf, eine Unschuldige zu töten, einen Engel zu erlegen. Man wird Ihnen keine mildernden Umstände gewähren, denn das Verbrechen, zu dem ich Sie anstifte, ist unrecht und verachtenswert. Der Engel im Haus, wie Woolf sie nennt, kennt keine eigenen Gedanken oder Bedürfnisse. Sie versteht es, zu schweigen, behält ihre Leidenschaften, ihre Träume von Flucht und persönlicher Erfüllung für sich. Sie klagt jene, die sie einschränken, nicht an, zeigt nicht mit dem Finger auf ihre Peiniger. Wie Germaine de Staël schrieb, findet die Frau als Engel des Hauses ihre Bestimmung, da „die Natur vorsah, dass die Gaben einer Frau dem Glück anderer dienen und ihr selbst wenig nützen sollen“. Eine wahre Frau, eine Frau, wie das patriarchale System sie begreift, trägt tausenderlei Entsagungen in sich. „Eine wahre Frau“, schreibt Mona Chollet, „ist ein Friedhof der Wünsche, Illusionen, unerfüllten Träume“. Eine Frau kann nicht alles haben, sie kann nicht mehr verlangen, als die Gesellschaft ihr zubilligt. Und wenn sie, als Ehefrau, als Mutter, die einen schützenden sozialen Status genießt, dennoch mehr verlangt, wird das Schicksal sie bestrafen. Sie wird unter einem Zug enden wie Anna Karenina, sie wird Gift trinken wie Madame Bovary, sie wird Nathaniel Hawthornes scharlachroten Buchstaben auf ihrem Kleid tragen. Sie wissen es sicher schon: Heute Abend fordere ich Sie auf, Schneewittchen zu erdrosseln, Dornröschen, die perfekte Mutter, die verständnisvolle Gattin, diejenige zum Schweigen zu bringen, die zugleich das Beste und das Schlechteste an Ihnen ist.

In Spanien und England wurde mit einer Gruppe acht- bis zehnjähriger Kinder ein sehr interessantes Experiment durchgeführt. Man sagte ihnen, sie würden für eine Joghurtwerbung gecastet und sollten diesen vor der Kamera mit begeisterter Miene probieren. Die Soziologen gaben einen Löffel Salz in jeden Joghurtbecher, und Folgendes geschah: Einhundert Prozent der Jungen spuckten den salzigen Joghurt angewidert aus. Nur ein Drittel der Mädchen weigerte sich, ihn zu essen. Der Rest lächelte weiter in die Kamera in der Hoffnung, die Rolle schließlich zu bekommen.
Mir scheint, ein wichtiger Schritt zur Emanzipation besteht für jede Frau darin, den Verhaltensmustern nicht länger zu entsprechen, die uns in der Kindheit vorgelebt wurden: nicht den Mund zu halten, nicht verständnisvoll zu sein, nicht jeden Kompromiss allein auf sich zu nehmen. Ich bin nicht die Mutter, die ich gerne wäre. Ebenso wenig die Tochter, die Ehefrau. Und so sehr mich das auch zermürbt hat, so groß meine Schuldgefühle waren, habe ich schließlich begriffen, dass es unmöglich ist, eine freie Frau zu sein, ohne zu enttäuschen. Ohne die Bereitschaft, zu missfallen, während alles in unserer Erziehung, in unseren kollektiven Mythen, in der Art, wie wir uns selbst zurechtmachen, uns dazu anhält, andere zufriedenzustellen. Das Bedürfnis, zu gefallen, ist ein Gefängnis, das uns entfremdet und einschränkt. Die Angst, zu missfallen, Anstoß zu erregen oder Kummer zu bereiten, lässt uns schweigen und unseren Traum aufgeben. Frauen bringt man von klein auf bei, die Übertretung von Regeln zu fürchten. Diejenigen, die sich den Normen, den göttlichen oder menschlichen Geboten widersetzen, werden geächtet. Man füttert sie mit mahnenden Geschichten von kleinen Mädchen, die vom Weg abkommen und sich im Wald verirren. Man warnt sie vor jeglichem Leichtsinn, jeglicher Kühnheit, jeglicher waghalsigen Unternehmung.
Hören wir noch einmal Virginia Woolf: „Als ich zu schreiben begann, begegnete ich ihr gleich bei den ersten Worten. Ich ging auf sie los und packte sie an der Gurgel. Ich gab mir alle Mühe, ihr den Garaus zu machen. Meine Entschuldigung, falls man mich vor Gericht stellen sollte, wäre, dass ich aus Notwehr handelte. Hätte ich sie nicht umgebracht, dann hätte sie mich umgebracht. Sie hätte meinem Schreiben das Herz herausgerissen. Man kann nicht schreiben ohne eigenen Kopf, ohne auszudrücken, was man für die Wahrheit über menschliche Beziehungen, Moral, Sex hält. Daher nahm ich, wann immer ich den Schatten ihres Flügels oder den Glanz ihres Heiligenscheins auf meinem Blatt bemerkte, das Tintenfass und schleuderte es nach ihr. Sie war zäh. Ihr fiktiver Charakter half ihr dabei sehr. Es ist weitaus schwieriger, ein Phantom zu töten als etwas Reales.“
Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wenn Sie das Verbrechen begehen, zu dem ich Sie anstifte, wird man Sie wahrscheinlich verurteilen und nicht verstehen. Man wird Sie egoistisch nennen, leichtfertig, eine Rabenmutter und schlechte Ehefrau. Aber wenn ich Sie überzeugen müsste, würde ich sagen, dass Sie in der Zelle, in der Sie enden werden, in guter Gesellschaft sind. Ich lebe in dieser Zelle. Und heute Abend möchte ich Ihnen die Geschichte der Verbrechen erzählen, die mich hierhergeführt haben.

Mit sechzehn Jahren wurde mir bewusst, dass ich ein Mädchen war. Damals sagte ich mir: Ein Mädchen zu sein bedeutet, weniger tun zu können, weniger Rechte zu haben. Es erschien mir offensichtlich, denn wenn ich fragte, warum ich dieses oder jenes nicht tun dürfe, sagte man mir: „Das ist nichts für Mädchen.“ Ich habe zwei Schwestern und hörte oft, wie Leute meinen Vater dafür bedauerten, dass er keinen Sohn hatte. Sie machten Witze darüber, und ich lachte nicht. Eine Frau konnte damals in Marokko, wo ich aufwuchs, mit ein paar Worten verstoßen werden. Sie konnte nicht reisen, ohne die Erlaubnis ihres Mannes. Sie konnte ihre Staatsbürgerschaft nicht an die Kinder weitergeben; im Falle einer Scheidung verlor sie das Sorgerecht. Die Aussage einer Frau gegenüber einem Richter oder Notar zählte nur halb so viel wie die eines Mannes. Sie erbte nur halb so viel wie ihr Bruder. Eine Frau konnte keine Leiche zum Friedhof begleiten. Wenn ihr Sohn starb, musste eine Mutter drei Tage warten, ehe sie sein Grab besuchen durfte. Ich fragte, warum das so sei. Man sagte mir, Frauen seien unrein, anders als Männer. Ein Mädchen zu sein bedeutet genau das: irrationale Erklärungen zu bekommen. Auf deine Stimmungen, deine Periode, deine Haare, die Verwundbarkeit deines Körpers reduziert zu werden, der, so warnen uns die Frauen, von den Männern nur ausgenutzt wird. Ich war empört über diese Ungerechtigkeiten, doch mein Unbehagen saß noch tiefer. Eine düstere, unbeschreibliche Beklommenheit, die umso quälender war, als ich sie mir selbst nicht erklären konnte.
Die Engländerin Virginia Woolf, die Marokkanerin Fatima Mernissi und die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie machten alle dieselbe Beobachtung zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Kontinenten: Die Welt ist voller „unsichtbarer Grenzen“, unausgesprochener Gesetze, an denen Frauen sich immerzu stoßen. „Hier dürfen Sie nicht rein“, sagt der Bibliothekar der Männer-Universität zu Virginia. „Hier kannst du nicht raus“, sagt der Haremswärter zur kleinen Fatima. „Sie gehören nicht hierher“, sagt ein Gast in einem Hotel in Luanda, wo Chimamanda sich alleine niedergelassen hat.

Einem Mann, der sie fragte, warum sie nicht mehr Sklaven gerettet habe, antwortete Harriet Tubman, die berühmte amerikanischer Vorkämpferin für die Abschaffung der Sklaverei: „Wenn ich mehr Sklaven überzeugt hätte, dass sie Sklaven sind, hätte ich Tausende weitere retten können.“ Ich verdanke meine Bewusstwerdung Simone de Beauvoir und ihrem Buch Das andere Geschlecht. Ich muss ungefähr sechzehn Jahre alt gewesen sein, als ich zufällig auf ein Foto des „Bibers“ stieß. Sie sitzt an einem Tisch im Hinterzimmer des Café de Flore. Ihr Haar ist zu einem sorgfältigen Knoten gesteckt, sie trägt eine elegante Bluse und hält den Kopf gesenkt. Vor ihr türmt sich ein Stapel Bücher. Das war das erste Mal, dass ich von ihr hörte. Meine Mutter sagte mir, sie sei eine Intellektuelle, ein unabhängiger Geist, eine Frau, die als Jugendliche gewagt habe, einer ihrer Freundinnen zu sagen, sie würde einmal eine „berühmte Schriftstellerin“ werden. Nachdem ich dieses Foto gesehen hatte, lieh ich mir Das andere Geschlecht aus der Bibliothek aus. Ich muss zugeben, ich erwartete ein freizügiges, erotisches Buch, das die brennenden Fragen beantwortete, die im Körper einer Sechzehnjährigen rumoren. Ich wurde rot, als ich dem Bibliothekar meinen Leseausweis reichte. Die ersten paar Seiten waren eine Enttäuschung. Es ging nicht um Liebe, es ging nicht um Sex, es war keine Abhandlung über die Lust. Doch ich las weiter.
Schließlich fand ich einige Antworten. Was man mir als naturgegeben, in Stein gemeißelt präsentiert hatte, war nichts weiter als ein historischer Umstand. Ich verdankte meine Unterjochung nicht den ureigenen Qualitäten oder Fehlern meines Geschlechts. Sondern Jahrhunderten patriarchaler Herrschaft. Ich war nicht als Frau geboren, sondern alles um mich herum hatte sich verschworen, mich dazu zu machen. Ich konnte mein Schicksal selbst bestimmen.
Mein Verbrechen begann in einer Bibliothek. Dem redseligen und flunkernden jungen Mädchen, das ich war, verschafften Bücher alle Freuden der Welt. Ich fand darin ein neues Leben, größer und weiter als meines und die Träume, die für mich vorgesehen waren. Literatur war ein Raum der Emanzipation, und als Frau, als Marokkanerin, als Mädchen aus einem Land, von dem ich ahnte, dass es nicht gerade der Mittelpunkt der Welt war, entdeckte ich die Möglichkeit, mich selbst neu zu erfinden. Bücher gaben mir die Waffen, um zu verstehen, mich zu verteidigen, zu reagieren und zu überzeugen. Ich war eine Frau und eine Leserin. Ich war gefährlich.

Mit achtzehn Jahren zog ich nach Paris. Als naive, nerdige Studentin entdeckte ich die schönste Stadt der Welt. Gleich am Tag meiner Ankunft ging ich ins Café de Flore, um Simone de Beauvoirs Geist nachzuspüren. Es war ein heißer Septembernachmittag. Eine Frau saß auf der Terrasse, las und trank ein Glas Wein, was in Marokko unmöglich gewesen wäre. In dem Moment sagte ich zu mir, und es ist ziemlich seltsam, wenn ich jetzt darüber nachdenke: „Wenn ich den Nachmittag trinkend und rauchend allein auf dieser Terrasse verbringen kann, dann werde ich etwas aus meinem Leben machen.“ Und genau wie Simone de Beauvoir gab ich mir selbst ein Versprechen: Schriftstellerin zu werden.
Vor nicht allzu langer Zeit hat jemand zu mir gesagt, es sei kein Wunder, dass ich Romanautorin geworden sei, da ich aus einem Land komme, in dem man uns von klein auf beibringt, zu lügen. Ich bin aufgewachsen während der Regierungszeit Hassans II, in einem Land, in dem Angst und Willkür herrschten. In Marokko lebte ich sozusagen in einer Phantasiewelt. In dieser fiktiven Welt geben wir alle vor, tugendhaft zu sein. Wir geben vor, die Gesetze zu befolgen, die Sex außerhalb der Ehe, Abtreibung und Homosexualität verbieten, und die Menschen um uns herum geben vor, uns zu glauben. Die soziale Maske, die du trägst, die Lügen, die du erzählst, dienen in dieser Welt nicht einfach nur dazu, dich gut dastehen zu lassen oder dir Respekt zu verschaffen, sondern dazu, deine Haut zu retten. Man wird zum Tartuffe aus purem Überlebenstrieb, aus Notwendigkeit. Wer immer es wagt, die Wahrheit zu sagen, wer immer es wagt, diese Art Fluch zu brechen und den anderen einen Spiegel vorzuhalten, dessen Leben wird zerstört. „Halt mir die Wahrheit vom Leib“, scheinen die anderen zu sagen.
Wie kann man also schreiben? Wie soll man schreiben, wenn man aus einem Land kommt, in dem man lernt, dass jeder, der redet, ein Verräter ist? Dass Frauen diskret sein müssen? Dass niemand die Wahrheit hören will? Wie kann man schreiben, wenn man genau darum schreiben möchte: um den falschen Schein anzuprangern, unsere Scham bloßzulegen, unsere dunkelsten Geheimnisse? In meinem Land werfen mir manche Leute vor, dass ich kein Blatt vor den Mund nehme und mich für sexuelle Rechte einsetze. Sie sagen: das hat keine Priorität. Das ist eine Schande. Doch was mich am meisten verletzt, sind nicht die Anfeindungen, die Todesdrohungen, die Nachrichten, in denen jemand bis ins Detail beschreibt, wie er mich vergewaltigen will. Es sind nicht die Leute, die mir sagen, ich habe Unrecht, oder die der Meinung sind, ich vertrete abwegige oder unmoralische Ansichten. Es sind nicht die Leute, die mich als Hure beschimpfen, nicht der islamistische Abgeordnete, der sagte, ich würde mich nur deshalb dafür einsetzen, Sex zu entkriminalisieren, weil ich zu hässlich wäre, selbst welchen zu haben. Nein, am meisten verletzen mich diejenigen, die meinen: „Du hast recht. Aber du solltest es nicht sagen.“ Diejenigen, die, obwohl sie meine Werte teilen und die Rechtmäßigkeit dieses Kampfes anerkennen, am Ende doch flüstern: „Auch wenn es stimmt, solltest du den Mund halten.“ Diese Verurteilung zum Schweigen ist für mich untragbar.
Mein Freund Kamel Daoud nennt das „die Einsamkeit des muslimischen Intellektuellen“. In jedem Fall würde ich sagen, dass es extrem schmerzhaft ist, in einer Gesellschaft zu leben, die diejenigen, die sie hinterfragen, zurückweist; einer Gesellschaft, in der man nicht zu kritischem Denken ermutigt wird, in der Philosophie und Sozialwissenschaften aus dem nationalen Bildungssystem gestrichen wurden. Zweifellos ist das der Grund, warum ich Schriftstellerin werden wollte: Weil ich meine Augen und meinen Mund nicht verschließen konnte und das Bedürfnis hatte, diese schmierige Höflichkeit zu zerreißen, die nur der Schleier ist, hinter dem sich so viele Tragödien abspielen. Vorsicht durch Kühnheit zu ersetzen, Höflichkeit durch Unverschämtheit.
Der algerische Schriftsteller, Dichter und Journalist Tahar Djaout schrieb: „Schweigen ist Tod. Aber wenn du redest, stirbst du. Wenn du schweigst, stirbst du. Also rede und stirb.“ Tahar Djaout bekam am 26. Mai 1993 zwei Kugeln in den Kopf, ein Opfer von Hass und Obskurantismus wie so viele andere. Ist das nicht letztlich, auf tragische Weise, der Aufruf an uns Intellektuelle, Schriftsteller:innen, Forscher:innen, Journalist:innen oder Künstler:innen? Redet, koste es, was es wolle! Im Namen derer, die keine Stimme haben, die unsichtbar sind, die marginalisiert werden. Auch wenn ihre Worte stören, irritieren, den herrschenden Überzeugungen oder Normen widersprechen. Re-det, bringt eine Sprache hervor, die sowohl Gewicht als auch Bedeutung hat und so die Litanei der Floskeln und abgestandenen Ideologien durchbricht. Hört nicht auf, daran zu glauben, dass ein Mensch, der liest, denkt, hinterfragt, ein Mensch ist, der für Fortschritt sorgt, der eher gewappnet ist, das Leben zu meistern und kollektive Ideale aufzubauen.
Ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin spricht immer über die falschen Dinge. Sie geht an Orte, an denen sie nicht willkommen ist und vielleicht nicht einmal sein darf. Die Schriftstellerin nimmt keine Wahrheit als gegeben hin und darf keine Angst haben, die großen Meister und Idole anzugreifen. Schreiben heißt, das Risiko einzugehen, von der Gruppe, dem Umfeld, der Gemeinschaft ausgeschlossen, missverstanden, abgelehnt zu werden. Und glauben Sie mir, diese Furcht kann stark genug sein, eine Berufung zu zerstören. Ich begann nicht zu schreiben, weil ich gemocht oder verstanden werden wollte. Sondern im Gegenteil, weil ich mich endlich in der Lage fühlte, zu missfallen, und weil ich überzeugt war, dass es letzten Endes unmöglich ist, andere zu verstehen und ganz und gar verstanden zu werden. Schreiben heißt, ein Risiko eingehen, und es ist immer eine Revolte. Man kann nicht schreiben, ohne nach dem Absoluten zu streben, ohne eine radikale Forderung.
Sie werden mir sagen: Wie können wir das heutzutage tun, wo man uns einschärft, niemanden zu beleidigen; wie können wir Autorität umstürzen, wenn Künstler:innen zum Schweigen gebracht werden, sobald sie als Person nicht makellos sind, und Kreative jeden schlechten Gedanken beichten sollen? Wie kann man ohne einen schlechten Gedanken schreiben? Der Druck der öffentlichen Debatte, die Verbreitung sozialer Netzwerke und solcher Phänomene wie der Cancel Culture tragen heute dazu bei, die Freiheit von Künstler:innen und Schriftsteller:innen einzuschränken. Vielleicht ist das Deprimierendste, was heutzutage geschieht, die Zensur, die viele von uns sich selbst auferlegen. Aus Angst, missverstanden zu werden, sind Künstler:innen nicht bereit, unbequem zu sein; sie fügen sich dem Zeitgeist und passen sich der gängigen Meinung an. Natürlich soll das nicht heißen, dass wir alles sagen können und dass Autor:innen keine Verantwortung tragen. Sie sind frei und haben deswegen, wie Bataille schrieb, eine „moralische Hyperverantwortung“. Und ich halte es für vollkommen normal und richtig, dass wir Werke der Vergangenheit, die möglicherweise sexistische oder rassistische Ideen verbreitet haben, einer äußerst kritischen Revision unterziehen.
Doch löschen und streichen? Das kann ich als Schriftstellerin nicht unterstützen. Wir schreiben gegen das Auslöschen an, wir exhumieren Leichen, sprechen mit Geistern, nähren unsere Scham und unsere Reue. Wir wissen, dass in der Literatur nichts gelöscht wird. Zeit und Grenzen existieren in Büchern nicht. Sie sind das Territorium, auf dem die Lebenden und die Toten für immer koexistieren können. Woolf, Duras, Tschechow, Tolstoi haben die Mauern eingerissen, die unsere Städte von unseren Friedhöfen trennen. Wir wissen, dass wir menschlicher Niedertracht und Monstrosität ins Gesicht sehen müssen, dass wir unserer Vergangenheit ins Gesicht sehen, uns ihr stellen müssen. Literatur liebt Narben. Vor allem ist sie ein Ort der Komplexität. Das ist es, was große Bücher uns lehren: dass wir nicht alles verstehen können, dass die Welt vieldeutig ist, dass sich uns der Sinn der Dinge oder Ereignisse oft nicht erschließt. Und dass es oft nicht ausreicht, sich aufs Urteilen zu beschränken.
Auf die Frage: „Können wir weiter Céline, Heidegger oder Nabokov lesen, können wir noch Wagner hören oder die Werke Gauguins bewundern?“ würde ich antworten, dass wir aufhören müssen, Leser oder Betrachter wie Dummköpfe zu behandeln. Wir sollten auf ihre Klugheit, ihr Wissen und ihren Sinn für die Komplexität der Welt vertrauen. Man kann mit Begeisterung Reise ans Ende der Nacht lesen und zugleich den Mann, der es geschrieben hat verachtenswert finden.
Lassen Sie uns dieser Mode der Cancel Culture nicht mehr Bedeutung beimessen, als sie hat. Europäische Intellektuelle reden sich gern die Köpfe heiß über das, was an amerikanischen Hochschulen passiert. Doch das hindert uns daran, zu sehen, dass dort nicht die größte Gefahr lauert. Die wahre Cancel Culture ist die, die darin besteht, Buddha-Statuen zu sprengen, in Timbuktu historische Handschriften zu verbrennen oder das Kulturerbe Aleppos in Schutt und Asche zu legen. Die wahre Cancel Culture wird jeden Tag betrieben, mit Waffen und Blut. Sie löscht Sprachen, Religionen und Gemeinschaften aus. Sie sperrt Künstler ein und macht sie mundtot, sie vernichtet die Träume von Millionen Frauen, die man daran hindert, zu werden, was sie möchten. Das ist es, was wir zu allererst bekämpfen müssen.

Einmal, nach einer Veranstaltung wie dieser, kam eine junge Frau zu mir. Meine Mutter war bei mir, und die junge Frau fragte sie: „Lieben Sie Ihre Tochter noch? Ich würde selbst gerne schreiben, aber ich habe zu große Angst, dass meine Familie mich verstößt, dass die Leute in der Nachbarschaft es mir übelnehmen, dass niemand mich versteht.“ Sie können sich natürlich denken, was ich ihr geantwortet habe. Ich habe sie aufgefordert, ein Verbrechen zu begehen. Zu lesen und zu schreiben.

Deutsch von Amelie Thoma

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