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Elizabeth Strout über „Mit Blick aufs Meer“

Ein Gespräch mit Elizabeth Strout und ihrer Hauptfigur Olive Kitteridge

Der Lesezirkel von Random House USA (LZ) traf sich mit Olive Kitteridge (OK) und Elizabeth Strout (ES) in einem Doughnutladen in Olives Heimatstadt Crosby, Maine.

LZ: Vielen Dank, dass Sie beide gekommen sind, wir freuen uns sehr!

OK: Also, ich finde es schon etwas merkwürdig.

ES: Ich bin sehr gern gekommen, vielen Dank für die Einladung.

LZ: Ms. Strout, unsere erste Frage geht an Sie. Welche Charaktere sind Ihnen beim Schreiben am leichtesten gefallen?

ES: Der einfachste Charakter war Olive selber. Sie ist so lebendig und so klar in ihren Meinungen und Wunschvorstellungen, dass ich sie fast von Anfang an als vollständige Persönlichkeit gesehen habe. Sobald sie durch die Tür hereinkam, in ihrem Auto saß oder am Fluss entlangging, bin ich ihr einfach gern gefolgt. Auch Harmon, der Besitzer des Eisenwarenladens, ist mir leicht gefallen, wenn auch auf ganz andere Weise. Seine stille Traurigkeit hat ihn mir nahegebracht, ich konnte seine Situation nachempfinden. Louise Larkin stand mir ganz klar vor Augen, ebenso Jack Kennison und auch Angela O'Meara. Und natürlich der treue Henry.

OK: Moment mal – Sie sind mir gefolgt? Hab ich's doch gewusst! Warum wollten Sie eigentlich unbedingt über mich schreiben? Es gibt viel interessantere Leute in Crosby.

ES: Über die habe ich auch was gesagt, Olive. Aber Sie sind für mich der faszinierendste Mensch von allen. Sie sind eigensinnig und kompliziert und freundlich und manchmal grausam. Im Grunde steckt in Ihnen etwas von uns allen.

LZ: Großartig formuliert, Ms. Strout. Liegt es an Olives Vielschichtigkeit, dass Sie beschlossen haben, keinen gewöhnlichen Roman über sie zu schreiben, sondern ineinander verwobene Geschichten? Welche Vorteile hat Ihnen diese Form geboten?

ES: Ich habe diese Form in erster Linie deswegen gewählt, weil ich der Meinung war, Olives starken Charakter könnte man am besten in Episoden darstellen. Und ich dachte auch, der Leser könnte hin und wieder etwas Abstand von ihr brauchen.

OK: Abstand von mir?

ES: Tja, Olive, an Ihnen scheiden sich die Geister. Außerdem liebe ich die persönliche Perspektive, und ich dachte, der Leser fände es interessant zu erfahren, wie Sie von verschiedenen Leuten der Stadt gesehen werden. Sie sind Olive, aber Sie sind auch ein Mitglied der Gemeinde, und daher konnte Ihre Rolle in all ihren Facetten am besten dargestellt werden, indem ich Ihre Geschichte auf diese Art erzähle.

OK: Ach, apropos Gemeinde. Waren Ihnen die Singles in Crosby einfach nur zu langweilig, oder gefällt es Ihnen, wenn Sie die Geheimnisse von alten Paaren ausplaudern können, die schon so lange verheiratet sind, dass bei ihnen keiner mehr irgendwelche Geheimnisse auch nur vermutet?

ES: Olive, also ich glaube nicht, dass es fair ist, wenn Sie sagen, ich fände die Singles von Crosby langweilig. Außerdem ist, glaube ich, etwa die Hälfte der Einwohner dieses Landes verheiratet. Wenn ich also über diese Stadt schreibe, muss ich zwangsläufig über verheiratete Paare schreiben. Es gibt auch ein paar Geschichten in diesem Buch, die nicht von Verheirateten handeln. Angie O'Meara war ihr ganzes Leben lang Single, und ich fand sie alles andere als langweilig. Auch den armen Kevin Coulson. Rebecca ist jung und Single, und ich fand ihre Geschichte spannend. Und Julie, die davonläuft – es sieht so aus, als wäre sie noch eine Zeitlang Single, je nachdem was Bruce vorhat.

Ob es mir gefällt, die Geheimnisse alter verheirateter Paare auszuplaudern? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Die Ehe ist für einen Schriftsteller eine nie versiegende Quelle großer Dramatik. Nur in unseren intimsten Beziehungen stellen wir uns wahrhaft bloß, und vielleicht habe ich deshalb über so viele verschiedene Ehen geschrieben. Es war keine bewusste Entscheidung. Außerdem: Wer erfährt nicht gern von dem einen oder anderen guten Geheimnis?

LZ: Wir schon. Apropos – was uns brennend interessiert, Mrs. Kitteridge, Ms. Strout, gibt es einen Grund dafür, dass in diesen Geschichten Doughnuts eine so große Rolle spielen?

OK: Das stimmt. Es wirkt, als würden Sie jeden einzelnen aufzählen, den ich esse – oder, noch schlimmer, den Bonnie möchte!

ES: Soweit ich weiß, hat Olive vorgeschlagen, dass wir uns in diesem Doughnutladen treffen. Warum auch nicht? Seht euch um. Olive kommt aus einer Zeit, in der es haufenweise Doughnutläden gab. Sie liebt Essen, und Doughnuts sind was Tröstliches für sie, wie für viele andere auch. Ihr körperliches Wohlbefinden ist ihr nicht völlig egal, aber wenn sie ihren Appetit mit Doughnuts stillt, zeugt das von einer gewissen Hemmungslosigkeit.

OK: Und, hegen Sie etwa auch eine Präferenz für Doughnuts?

ES: Ach, Olive, kein Grund, aggressiv zu werden. Ich weiß sehr wohl, wie gut ein Doughnut tun kann.

LZ: Wissen wir das nicht alle?

OK: Bevor wir die Geheimnisse ganz aus den Augen verlieren: Was hat Ihnen Angie O'Meara über ihre Affären erzählt? Wer hat davon gewusst?

ES: Aha, sehen Sie, ein gutes Geheimnis wissen auch Sie zu schätzen. Arme Angie, leicht hat sie es nicht gehabt.

OK: Hatten Sie den Verdacht, dass die blauen Flecken, die ihre alte Mutter im Pflegeheim dauernd hatte, auf Angies Konto gingen?

ES: Also, das sollte der Leser für sich entscheiden. Aber Angie hat in dieser Affäre mit Malcolm Moody jahrelang gelitten. Sie dachte immer, sie verdient es nicht viel besser, bis ihr ganz am Ende der Geschichte klar wird – ob es nun jemand anders mitbekommt oder nicht -, dass sie ihre Würde wiedererlangen kann, wenn sie endlich aufhört, die Rolle der „anderen Frau“ zu spielen.

OK: Hat Suzanne denn überhaupt mit Ihnen gesprochen? Ich frag mich, was diese grauenhafte Frau zurzeit so treibt.

ES: Ich habe keine Ahnung, was Suzanne so treibt, aber hoffentlich rettet sie ein paar Leben, indem sie die Leute zu einer Darmspiegelung überredet. Übrigens – das würde Ihnen auch nicht schaden.

LZ: Mrs. Kitteridge, wir können gern das Thema wechseln, es scheint Ihnen etwas unangenehm zu sein. Ms. Strout, können Sie uns sagen, woher Sie die Informationen über Henry und …

OK: O ja, das trifft sich gut. Worauf haben Sie da angespielt mit Henry und Denise Thibodeau?

ES: Ich habe auf gar nichts angespielt, Olive, und das wissen Sie. Nun kommen Sie schon, Sie sind eine intelligente Frau, und Sie schrecken vor der Wahrheit nicht zurück. Im Lauf einer langen Ehe ist es doch nichts Ungewöhnliches, wenn der Mann oder die Frau sich in jemand anders verliebt, das haben Sie selbst erlebt. Falls Henry sich auf eine Art bestätigt fühlen wollte, die Sie (zu diesem Zeitpunkt in Ihrer beider Leben) ihm nicht geben konnten, erweist er sich nur als menschlich; es ist nicht ganz unverständlich, wenn er sich zu jemand hingezogen fühlt, der ihn braucht. Er hat keine Taten folgen lassen, genauso wenig wie Sie, als Ihnen ein anderer besser gefiel. Trotz all Ihrer Probleme waren Henry und Sie gute Freunde, und Sie haben einander geliebt, so gut Sie konnten.

LZ: Ja, Mrs. Kitteridge, Ihr Verlust tut uns allen sehr leid. Mr. Kitteridge war ein erstaunlicher Mann. Haben Sie nach Henrys Tod irgendwelche Veränderungen bei sich festgestellt?

OK: Wenn der Mann, mit dem man so viele Jahre verheiratet war, stirbt, sieht man lange Zeit gar nichts. Es gibt nur Schmerz und Angst. Und dann kann es passieren, dass man sich in einem Buch entdeckt.

ES: Was ist Ihnen aufgefallen, als Sie Ihr Leben so aufgeschrieben fanden?

OK: Dass ich nicht alles kontrollieren konnte. Ich habe natürlich nicht geglaubt, dass ich es konnte. Aber trotzdem habe ich gesehen, dass – dass Dinge geschehen, die man nicht kontrollieren kann. Dass es weitergeht. Eigentlich erstaunlich.

LZ: Wirklich erstaunlich.

OK: Wissen Sie, was noch erstaunlich ist? Dieses Buch. Es ist vielleicht das Merkwürdigste, was mir je passiert ist, dieses Buch zu lesen, aber ich fand es richtig gut. Obwohl – mir wäre es nie eingefallen, die zwei Kevins zu vergleichen, Sie wissen schon, Bonnies Jungen und den Sohn der Coulsons. Haben Sie die beiden mit Absicht so ähnlich beschrieben?

ES: Ich glaube nicht, dass ich sie als ähnlich empfinde. Kevin Coulson war ein ziemlich deprimierter junger Mann mit einer besonderen und sehr schwierigen Familiengeschichte. Bonnies Kevin stammte aus einer Familie, die wesentlich besser funktionierte, und er hatte eine gute Beziehung zu seinen Eltern. Falls ihn seine junge Frau und ihre strengen vegetarischen Überzeugungen ein bisschen nervös gemacht haben, ist das nun wirklich kein großes Problem. Sicherlich nichts im Vergleich zu dem, womit Kevin Coulson sich auseinandersetzen mußte.

OK: Man stelle sich das bloß mal vor: keine Karottensuppe essen, weil sie mit Hühnerbrühe gemacht ist. Solche Idiotien hasse ich.

LZ: Mrs. Kitteridge, unsere nächste Frage geht an Sie. An welchen Ihrer Schüler erinnern Sie sich am besten?

OK: Ah, vor Jahren gab es da ein junges Mädchen. Ständig unter Hochspannung. Wunderschön. Sie hatte oft Tränen in den Augen. Kam nach der Schule in die Sprechstunde und stand nur da mit Tränen in den schönen großen Augen. Irgendwann hat sie mir dann erzählt, was los war. Aber das erzähle ich hier nicht.

ES: Welche Ihrer Schüler haben Sie am meisten an sich selbst erinnert?

OK: Die Bösen. Ich meine nicht die richtig Bösen, sondern die, die vor Wut böse werden konnten. Die auch mal Gift und Galle spucken konnten.

LZ: Interessant. Ms. Strout, sehen Sie irgendetwas von sich selbst in Olive? In Henry? In Christopher?

ES: Im Grunde sehe ich mich in allen meinen Charakteren. Wenn ich mich in eine andere Person hineinversetzen will, muss ich meine eigenen Erfahrungen und meine eigenen Reaktionen auf die Umwelt nutzen. Ich muss erkennen, was ich gefühlt und beobachtet habe, und dann diese Reaktionen abstrahieren, während ich die Geschichte im Bereich des psychologisch und emotional Wahrhaftigen halte. Oft nachdem ich eine Geschichte oder einen Roman geschrieben habe, denke ich mir plötzlich, Mensch, ich fühle ja genau dasselbe, was (zum Beispiel) Olive fühlen würde. Aber der Prozess ist in Wirklichkeit genau anders herum.

LZ: Was finden Sie am besten an Olive? Glauben Sie, dass ihr klar ist, wie die Leute in der Stadt sie wahrnehmen – besonders vor Henrys Krankheit?

ES: Ich glaube, Olive weiß zum Teil, wie die Leute in der Stadt sie wahrnehmen. Aber vergessen Sie nicht, sie wird unterschiedlich wahrgenommen. Für manche ist sie verständnisvoll und liebenswert. Für andere ist sie herrisch und streitsüchtig. Bis zu einem gewissen Grad glaubt sie, es ist ihr egal, was die Leute von ihr halten, aber ich denke, dass das nicht stimmt. Sie ist verletzlich, denken Sie zum Beispiel an die Szene, in der ihre erste Schwiegertochter sich über ihr neues Kleid lustig macht. Und sie ist extrem stolz auf ihre Vorfahren in New England. Sie begreift womöglich nicht, dass sie in ihrer Beziehung zu ihrem Sohn sehr besitzergreifend ist. Aber das Beste an Olive ist ihre Aufrichtigkeit, ihre Fähigkeit, allmählich immer mehr über sich selbst zu lernen. Während sie wie viele von uns für einige Aspekte ihres Charakters blind ist, scheut sie nicht vor neuen Erkenntnissen zurück, da sie gewillt ist, nach der Wahrheit zu streben, auch bei sich selbst. Das macht sie so positiv, finde ich.

OK: Igitt. Was für ein Unsinn.

LZ: Was soll Olives Geschichte den Lesern ihrer Meinung nach geben – oder Geschichten überhaupt?

ES: Ich hoffe, dass meine Leser einen Sinn dafür bekommen, wie gut es ist, dass der Mensch etwas aushalten kann, dass man angesichts vielfältiger Schwierigkeiten die Liebe am Leben erhält; dass der Alltag nicht immer einfach ist und auch Respekt verdient. Ich hoffe auch, dass die Leser besser oder auf neue, ihnen bisher unbekannte Weise verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wir leiden daran, dass wir vorschnell urteilen, dass wir ruckzuck Entschuldigungen für uns und andere finden, und vielleicht merkt der Leser, dass es uns allen mehr oder weniger gleich geht in der Liebe und in der Enttäuschung und dass wir oder die meisten von uns einfach versuchen, das Beste draus zu machen, und dass Fehlschläge und Erfolge im gleichen Maß zu unserem Leben gehören.

LZ: Vielen Dank Ihnen beiden, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Das war wirklich …

ES: Bevor Sie gehen, Olive, darf ich Sie noch fragen, ob Sie glauben, dass Patty Howe versucht hat, sich umzubringen? Da könnte es einige Unklarheiten geben.

OK: Warum um alles auf der Welt sollte Patty Howe sich umbringen? Sie hat einen wunderbaren Mann und freut sich auf eine eigene Familie, und sie hat gerade Blumen für ihn gepflückt. Außerdem hat sie eine nette, kluge Mutter, und wenn sie unvorsichtig war und zu nahe an den Rand dieser Klippe gekommen ist, na ja, an dieser zerklüfteten Küstenlinie gibt es häufig Unfälle. Sich umbringen? Sie spinnen ja.

ES: Finden Sie nicht, dass es für eine kleine Stadt wie Crosby hier ziemlich viele Selbstmordgedanken – oder Selbstmordversuche – gibt? Warum ist das so?

OK: Sie sind zwar die Schriftstellerin, Elizabeth, aber ich denke, das ist eine blöde Frage, und ich werde Ihnen was anderes sagen – das geht Sie überhaupt nichts an. Auf Wiedersehen, Leute. Auf mich wartet ein Garten voller Unkraut.

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