#havealook
#Inlovewiththetherapist
Mein Therapeut Samuel Lindholm meinte, es wäre hilfreich, wenn ich niederschreiben würde, was mir den ganzen Tag so durch den Kopf geht. Damit ich mir selbst näherkomme und verstehe, wie die Zusammenhänge funktionieren. Herr Lindholm meint, er selbst wüsste das ganz genau, aber in Wahrheit hat er keine Ahnung. Trotzdem beginne ich heute damit, alles aufzuschreiben, einfach, weil ich Herrn Lindholm gerne glücklich mache, und er ist wahnsinnig glücklich, wenn man seine Anweisungen befolgt.
Vielleicht hat das Ganze ja auch etwas Gutes. Und zwar, dass er begreift, wie schwierig es ist, eine ausgeglichene Person zu sein, wenn man ein Leben führt wie ich. Nicht nur, dass ich mich generell in die falschen Männer verliebe und mit den falschen Männern Sex habe, nein, ich habe auch mit zu vielen Männern Sex, weil ich nicht Nein sagen kann, und weil ich meine eigenen Grenzen nicht kenne. Wie soll dann jemand anderes meine Grenzen kennen. Ganz logisch. Deswegen soll ich den Kontakt zu Männern während meiner Therapie meiden. Außer natürlich zu Samuel Lindholm. Ganz klar.
Ich kam aus seiner Praxis und checkte meine Mails, während ich zur U-Bahn lief.
Samuel Lindholm zwingt mich, mein iPhone während der Sitzungen abzustellen, was zur Folge hat, dass ich mich nachher durch einen Wust von WhatsApps ackern muss. Einige waren von Phil, dem Make-up-Artist mit dem ich zusammenarbeite (»Wo bleibst du Babyyy???«), aber die meisten Mails waren von meinen Schwestern Anna und Eva. Wir sind uns generell sehr nah und haben viel Kontakt. Oft mehr Kontakt, als ich selbst für gesund halte, aber es ist wirklich schwer, sich gegen meine Schwestern, meine Mutter und Tanten zu wehren. Sie sind wie eine einzige riesige mehrköpfige Schlange, die einen ständig verschlingt und danach gut durchgekaut wieder ausspuckt. Ich lief also zügigen Schrittes zur U-Bahn und scrollte mich durch die WhatsApps:
»Cressi, diesmal ist es ernst, wir sind alle bei Mama.«
»Warum ist dein verdammtes iPhone nicht an.«
»Wenn du gerade deinen Therapeuten vögelst, dreh ich dir den Hals um.«
»Sie hat gesagt, sie stirbt nicht, ehe du da bist, also leg einen Zacken zu.«
»Cressi, Tante Violetta hat gesagt, es ist eine Schande, wenn man nicht mal kommt, wenn die eigene Mutter im Sterben liegt.«
»Mutter sagt, du bist enterbt und Eva und ich bekommen das Haus. Also dalli, dalli.«
Ich stopfte das Telefon zurück in die Tasche. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kriege von solchen Nachrichten einen Orgasmus. Herr Lindholm sagt, das ist meine Reaktion auf wirklich großen Stress, und ich glaube, er hat ausnahmsweise recht. Ich kann einfach nicht mit Adrenalin umgehen, zumindest nicht mit den Mengen, die mein Körper in solchen Momenten produziert. Dazu muss ich sagen, dass Mutter die letzten Jahre immer wieder gestorben ist. Sie hat ein schwaches Herz, und ihr Hausarzt hat uns darauf hingewiesen, dass es jederzeit vorbei sein kann, vor allem, weil Mutter keine Medikamente nimmt, sondern sich mit Kräutertees selbst therapiert. Er hat gesagt, wir sollten uns nicht wundern, wenn wir sie eines Tages tot in der Küche finden. Das sind keine beruhigenden Aussichten. Zudem kündigt Mama auch selbst immer wieder ihr bevorstehendes Ableben an, vorzugsweise, wenn eine von uns dreien eine Urlaubsreise bucht oder geschäftlich unterwegs ist. Am liebsten ruft sie an, wenn man gerade im Taxi auf dem Weg zum Flughafen sitzt.
Sie: »Liebes, lass dich nicht aufhalten, ich wollte nur noch einmal mit dir reden.«
Ich (alarmiert): »Was ist los?« Sie: »Ach, nichts.«
Ich: »Mama!«
Sie: »Es ist wieder das Herz. Dr. Moser wollte mich in das Städtische einliefern. Aber ich habe abgelehnt.«
Ich: »Warum in Gottes Namen?« Sie: »Ich will zu Hause sterben.«
Schweigen. Ich gebe dem Taxifahrer ein Zeichen, dass er am Straßenrand anhalten soll, was er nur unter Protest tut. Er flucht irgendetwas auf Indisch, und ich bin froh, dass ich ihn nicht verstehen kann.
Sie: »Ich wollte dir nur noch einmal sagen, dass ich dich liebe, Cressida.«
Ich hasse das. Ich hasse das wirklich.
Ich: »Ich bin auf dem Weg zum Flughafen.«
Sie (verschnupft): »Ist schon gut, Cressi, wenn dir dein Job wichtiger ist.«
So läuft es immer. Das Ende vom Lied ist, dass wir bei ihr auf der Matte stehen. Alle. Lindholm sagt, das Verhalten meiner Mutter sei zutiefst manipulativ, und ich sollte mich möglichst bald aus dieser ungesunden Verstrickung lösen. Ich glaube, Herr Lindholm hat keine Mutter.