I.
Schwarzweiß. Alles, was wichtig ist, ist schwarzweiß. Es ist auf unangenehm riechendes Zeitungspapier gedruckt und wird vor Sonnenaufgang in unseren Briefkasten gestopft, oder es flimmert hinter einer leicht gewölbten Scheibe in einem großen Holzkasten. Ein schwarzweißer Mann mit Brille, einer kräftigen Stimme und ernsthaftem Gesichtsausdruck sitzt dort in Anzug und Krawatte vor einer grauen Fläche mit fettem Schriftzug, der in eine Weltkarte übergeht. Er liest klare, manchmal auch umständliche Sätze von einem akkurat zurechtgestoßenen Stapel Papier ab, wobei er sich Mühe gibt, so selten wie möglich auf seine Blätter zu schauen. Dazwischen erscheinen kurze Filme, in denen der Bundeskanzler oder Menschen aus anderen Weltgegenden gezeigt werden – zum Beispiel aus Amerika, Afrika oder Vietnam. Wer nach Amerika, Afrika oder Vietnam reisen will, muss ein Flugzeug nehmen, so weit sind diese Länder von uns entfernt, weshalb es meistens Präsidenten, Generäle oder Könige sind, die man dort sieht. Häufig liegen sie miteinander im Krieg, dann steigen Rauchwolken über Städten und Landschaften auf, Menschen mit vor Angst verzerrten Gesichtern rennen weg, die Kinder haben keine Kleider am Leib, stattdessen tragen sie verbrannte Lumpen oder sind von einer Schicht schwarzer Fliegen bedeckt und sogar zu schwach zum Weinen. Der schlimmste Krieg ist zur Zeit in Vietnam, davor war er in Biafra. Meine Mutter sagt jedes Mal, wenn darüber berichtet wird, dass sie gar nicht hinschauen kann, und oft bittet sie meinen Vater umzuschalten. Ihre Stimme klingt dann bedrückt, als müsste sie weinen. Das hängt damit zusammen, dass sie selbst, als bei uns Krieg war, ausgebombt wurde – in Essen – und auch gehungert hat. (…)
Neben den Präsidenten, Generälen und Königen werden auch häufig Ölscheichs gezeigt, wenn sie aus Flugzeugen steigen, Hände schütteln und Soldatenreihen abschreiten. Sie herrschen im Nahen Osten. (…)Es scheint, dass sie viele Probleme haben, die sich direkt auf uns auswirken, weil unsere Autos mit Benzin oder Diesel fahren, die aus Öl gemacht werden. Wir haben außerdem eine Ölheizung im Keller. Das Öl der Scheichs wird in riesigen Schiffen über verschiedene Meere zu uns gebracht. Wenn die Ölscheichs unzufrieden sind, stoppen sie die Lieferungen oder nehmen Wucherpreise, so dass wir es uns nicht mehr leisten können. Mein Vater studiert immer die Anzeigen in der Zeitung, wann das Öl am billigsten ist, um den besten Zeitpunkt für den Kauf abzupassen. Ein- oder zweimal im Jahr kommt dann der Tankwagen und pumpt eine große Menge davon in unseren Heizungskeller. (…)
Das, was in den Nachrichten gezeigt wird, ist eigentlich nichts für uns Kinder, deshalb werden wir abends schon um sieben ins Bett gebracht. Wenn ich aber nicht einschlafen kann, weil sehr viel passiert auf der Welt, worüber ich mir Gedanken mache, schleiche ich die Treppe wieder hinunter, verstecke mich hinter der halb geöffneten Tür zwischen Küche und Esszimmer und schaue durch den Spalt, um in Erfahrung zu bringen, was meine Eltern vor uns verheimlichen. Es kann nämlich sein, dass auch bei uns bald wieder ein Krieg ausbricht, da die Russen unser Land erobern wollen, oder dass die Terroristen von der Baader-Meinhof-Bande auf dem Weg in unsere Gegend sind, um uns zu ermorden.
Sonntags, nach dem Internationalen Frühschoppen mit Journalisten aus verschiedenen Ländern und Werner Höfer als Gastgeber, läuft über Mittag die Tagesschau mit dem Wochenspiegel, so dass ich doch ungefähr Bescheid weiß, was gerade vor sich geht. Wenn meine Großeltern zu Besuch sind, schauen mein Vater und mein Großvater den Frühschoppen gemeinsam an. Obwohl sie einander nicht besonders gut leiden können, prosten sie sich mit Bier und Cognac zu, während meine Mutter und meine Großmutter ein Glas Wein trinken. Sobald das Essen auf dem Tisch steht, sagt meine Mutter, dass mein Vater den Apparat ausschalten soll, aber mein Großvater und er wollen nichts verpassen, weshalb der Fernseher meistens weiterläuft. Ich bleibe lieber still, denn wenn ich meinen Vater und meinen Großvater unterstützen würde, wüsste meine Mutter, dass ich genau hinschaue, und würde sich wieder Sorgen machen, dass ich schlecht träume.
Manchmal verwackelt das Bild mitten in der Übertragung oder es reißt ganz ab und man sieht nur Schnee: ein Flimmern aus winzigen schwarzen und weißen Punkten, das einen regelrecht wütend macht, wenn man länger hinschaut. Selbst meine Mutter, die sonst immer behauptet, dass es sie sowieso nicht interessiert, was im Fernsehen kommt, schimpft dann: »Ich sag doch, dass etwas nicht stimmt mit dem Apparat: Du musst den Schmitz anrufen.«
Der Schmitz ist unser Radio- und Fernsehhändler. Bevor mein Vater zum Telefonhörer greift, öffnet er erst einmal das kleine Schubfach mit den nummerierten Rädchen rechts unten neben dem Bildschirm. Es kann sein, dass das Bild sich fängt, wenn er das entsprechende Rädchen ganz vorsichtig in die richtige Position dreht – das ist Millimeterarbeit. Oft verschwindet es aber auch ganz. Mein Vater versucht dann herauszufinden, ob es eine allgemeine Übertragungsstörung ist oder an unserem Apparat liegt, indem er auf die beiden anderen Programme und den Holländer umschaltet. Der Holländer ist sowieso immer verschneit, weil er von jenseits der Grenze, aus der Stadt Hilversum gesendet wird, aber man kann trotzdem erkennen, was gerade läuft. Mein Vater versteht sogar, was sie dort sagen. Die Wettervorhersage beim Holländer soll sehr viel zuverlässiger sein als bei uns, allerdings findet meine Mutter die holländische Sprache so hässlich, dass sie lieber unsere eigene Wettervorhersage schaut.
Wenn die anderen Programme und auch der Holländer ordnungsgemäß zu sehen sind, liegt der Fehler wahrscheinlich an unserer Antenne, die vom Wind verdreht oder verbogen wurde oder sich aus anderen Gründen nicht mehr in der richtigen Position befindet. Das will mein Vater lieber erst einmal selbst überprüfen, bevor er den Schmitz kommen lässt, zumal der Schmitz Geld kostet. Er geht in die Garage, holt die lange Leiter, die dort an der Wand hängt, und steigt aufs Dach, während meine Mutter neben dem Fernseher steht und das Fenster öffnet, damit sie hören kann, was er von oben ruft. Meine Mutter hat immer Angst, dass mein Vater herunterfällt und sich den Hals bricht, wenn er auf dem Dach ist. Sich den Hals zu brechen ist eine der Gefahren, die überall drohen, ganz gleich, ob man auf Bäume klettert, zu wild Fahrrad fährt oder auf dem Dach herumspaziert. Meistens gehe ich mit meinem Vater nach draußen und schaue vom Rasen aus zu, wie er die Antenne zurechtrückt. Außer dem Schmitz und dem Schornsteinfeger traut sich niemand dort oben hin, weshalb ich stolz bin, dass mein Vater sich so sicher auf den Ziegeln bewegt und sogar die Antenne reparieren kann, wofür man eigentlich einen Fachmann braucht.
Für uns Kinder gibt es eigene Sendungen mit »Skippy«, dem Buschkänguru, »Lassie«, dem Collie, und »Flipper«, dem klugen Delfin. Diese Tiere sind echte Freunde, wie man sie selbst unter Menschen selten findet – eigentlich gar nicht. Sie helfen bei der Aufklärung von Diebstählen, Schmuggel oder sonstigen Verbrechen, so dass man sich keine Sorgen mehr machen muss, wenn man eines von ihnen an seiner Seite hat. Leider gibt es solche Tiere bei uns nicht, obwohl sehr viele Tiere im Dorf leben: Kühe, Schweine, Pferde, der Esel von Bauer Seesing, Katzen, Hühner, Enten und Gänse, ganz zu schweigen von Wildtieren wie Füchsen, Mardern, Rehen, Hasen, Fasanen und Rebhühnern, die nach der Treibjagd auf dem Platz vor der Gaststätte Pooth ausgebreitet sind. Hunde gibt es natürlich auch, aber keinen wie Lassie. Die hiesigen Hunde sind angekettet oder in Zwingern eingesperrt. Die meisten beißen, und man soll sich ihnen nicht nähern. Da meine Mutter keinen Hund im Haus will und mein Vater eine Abneigung gegen Katzen hat, haben wir lediglich Kaninchen und das Meerschweinchen Mary. Sie wohnen in Ställen draußen unter dem Küchenfenster. Manchmal bekommen die Kaninchen Junge, die ganz nackt sind und geschlossene Augen haben. Wenn es zu viele geworden sind, schlachtet mein Vater eins von ihnen und es wird am darauffolgenden Sonntag gegessen. Das Meerschweinchen Mary ist weiß und hat rote Augen. Es scheint klüger zu sein als die Kaninchen, die, ganz egal, wie viel ich mich mit ihnen beschäftige, nicht den Eindruck machen, als verstünden sie irgendetwas von dem, was ich ihnen sage, so dass wir weit entfernt von einer Freundschaft sind, wie Sonny sie mit Skippy oder Jeff mit Lassie hat.
Verglichen mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft, dürfen mein Bruder und ich nur wenig fernsehen. Uwe Fonck, Wilfried Fischer, Werner Terhorst und auch meine Vettern schauen regelmäßig Sendungen, die bis in die Nacht dauern und eigentlich für Erwachsene gedacht sind, zum Beispiel »Der Kommissar«, »Tatort«, »Raumpatrouille« oder auch die »Winnetou«-Filme. Meine Mutter ist trotzdem nicht bereit, ihre Meinung zu ändern, als ich ihr davon erzähle: »Was die anderen tun, interessiert uns nicht«, sagt sie. (…)
Bislang ist in unserer Gegend nie etwas passiert, das wichtig genug gewesen wäre, um im Fernsehen gezeigt zu werden. (…)
Als meine Mutter nach dem Frühstück die Samstagszeitung liest, sagt sie: »Wir dürfen nachher nicht vergessen Hier und Heute zu gucken: Da sind wir nämlich drin.«
Mein Vater sagt: »Die waren bei Fritz Opgenrhein auf dem Hof und haben mit Ernst Winkels gesprochen. – Wie sie an den gekommen sind, weiß ich auch nicht.«
Ich glaube erst, dass sie Witze machen, weil mir die ganze Woche über nirgends etwas Besonderes aufgefallen ist, aber dann sprechen sie beim Mittagessen wieder darüber, mein Vater hört anderthalb Stunden früher als sonst mit der Gartenarbeit auf, wir fahren auch nicht in die Vorabendmesse, sondern gehen morgen ins Hochamt.
Das Dritte Programm ist schon zehn Minuten vor Beginn der Sendung eingeschaltet, damit wir auf keinen Fall etwas verpassen und mein Vater noch reagieren kann, falls Schnee kommt. Heute ist das Bild aber zum Glück klar. »Jetzt bin ich mal gespannt, was sie daraus gemacht haben«, sagt meine Mutter, als endlich der Hier-und-Heute-Vorspann mit der Elektroorgelmelodie und dem kreisenden Würfel anfängt, auf dem sich ein Kohleberg, grasende Schweine, Schwäne im Park, Fachwerkhäuser, der Hafen von Duisburg, der Kölner Dom und Berge aus dem Sauerland drehen.
Tatsächlich erscheint jetzt der Rhein im Bild, wie er bei uns hinter dem Haus fließt, genauso schwarzweiß wie Tom Sawyers Mississippi oder der Nil in Ägypten. »Der Verbrauch von elektrischem Strom wird auch in Zukunft aufgrund seiner besonders umwelt- und anwendungsfreundlichen Eigenschaften ständig zunehmen …«, sagt eine Männerstimme, während ein Schubschiff und ein Kohlefrachter unter der Schanzer Brücke hindurchfahren. »Wissenschaftler und Techniker in der ganzen Welt arbeiten zur Zeit an der Entwicklung schneller Brutreaktoren. Es sind Kernkraftwerke der zweiten Generation, die nach einer längeren Erprobungsphase in einigen Jahren zum kommerziellen Einsatz kommen sollen.«
In den Rheinwiesen steht noch ein Rest vom letzten Hochwasser und spiegelt den weißen Himmel als weiße Fläche, darin die Kopfweiden, die wir oft als Baumhäuser nutzen – auch die, in der ich neulich das Käuzchen gesehen habe. Sie zeigen die Wiesen mit den schwarzweißen Milchkühen von Bauer Seesing gleich vor dem Deich, die ich genau kenne, weil ich ihm nachmittags manchmal helfe, sie von dort in den Stall zu treiben. Es sind nicht Wiesen, die so ähnlich aussehen, sondern genau diese Wiesen, daran besteht kein Zweifel. Sie enden an Haus Hülkendonck, dem Hof von Bauer Seesing, der früher die Burg des Raubritters Hilbert war. Daneben steht unsere Kirche, Sankt Verafredis, mit dem Friedhof und der alten Schule, wo wir bis vor drei Jahren gewohnt haben, daran angrenzend die Höfe der Bauern Praats, Seesing und van Elst. Mit Frau Seesing, Frau Praats und Frau van Elst fährt meine Mutter einmal im Monat zum Kaffeeklatsch nach Schloich. Dort essen sie Schwarzwälder Kirschtorte, während ich mit meinem Großvater im Stadtpark die Enten füttere oder in die Zoohandlung Bruns gehe, wo es Aquarienfische, Papageien und sogar Affen zu kaufen gibt, die genauso aussehen wie Herr Nilsson von Pippi Langstrumpf. Leider hat mir meine Mutter verboten, so einen Affen zu halten. – Man erkennt die Küsterei mit der riesigen alten Kastanie, dann die Gaststätte Pooth, keine zweihundert Meter von unserem Haus entfernt, und mein Vater sagt zu meiner Mutter: »Wenn sie die Kamera ein bisschen weiter rechts aufgestellt hätten, wäre dein Haus drauf gewesen.«
Auch wenn wir schon gewusst haben, dass Hülkendonck im Fernsehen sein würde, staunen meine Eltern jetzt doch und sagen bei jedem Gebäude, das auf dem Bildschirm erscheint, wem es gehört oder wer dort wohnt. Ein Professor tritt ins Bild und erklärt: »Brutreaktoren sind ein wichtiger Schritt hin zu einer langfristigen und preisgünstigen Stromversorgung. Mithilfe der Brutreaktoren kann die Energieerzeugung aus den vorhandenen Uranvorkommen vervielfacht werden, da diese Reaktoren den in den bisherigen Kernreaktoren nicht spaltbaren Teil des Urans in spaltbares Plutonium umwandeln. Um dieses ungeheure Energiepotential wirtschaftlich nutzen zu können, arbeiten derzeit alle führenden Industrienationen an der Brüter-Technologie.«
Danach spricht ein Minister und sagt, dass der Standort Calcar in jeder Hinsicht ideal für das Projekt ist und dass es keinen vernünftigen Grund gibt, an der Sicherheit der Anlage zu zweifeln. Sie wird sogar gegen Erdbeben und Flugzeugabstürze gewappnet sein. Es folgen Bilder vom Calcarer Marktplatz, dann aus der Nikolai-Kirche, wo wir zur Messe gehen, wenn meine Mutter unseren Pastor und sein Gequassel nicht mehr hören kann. Vor dem Rathaus ist gerade Wochenmarkt. Man sieht den Käsewagen, den Fischwagen und Blumenstände. Etwas abseits davon haben sich einige Leute versammelt und treten jetzt näher. Ein Mann, der so alt ist wie mein Vater, wird gefragt, was er darüber denkt, dass hier ein Kernkraftwerk gebaut werden soll, ob er es begrüßt oder sich doch eher Sorgen macht? Er sagt: »Ich finde das eine gute Sache, man muss ja dem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein, und die Ingenieure wissen schon, was sie tun, das sind ja auch Leute mit Verantwortungsgefühl.« Ein anderer sagt: »Es wird höchste Zeit, dass hier in der Gegend mal investiert wird, es gibt doch kaum Arbeitsplätze für die Leute, und Strom wird immer mehr gebraucht.«
Der Mann, der als Letzter gefragt wird, sieht es allerdings anders: »Das ist viel zu gefährlich mit der Atomspaltung, deswegen wollen sie das ja bei uns in der Gegend bauen, weil es hier so dünn besiedelt ist, und wenn dann was passiert, gibt es halt weniger Opfer unter der Bevölkerung … Daraus wird nicht einmal ein Geheimnis gemacht von den Politikern in Bonn und Düsseldorf.«
Während er noch redet, sagt mein Vater zu meiner Mutter: »Kennst du den? – Eigentlich müsstest du den kennen.«
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
»Das ist Hein Thissen, der die Samenhandlung in der Monrestraße hat. Es heißt ja, dass er so gut wie pleite ist, aber reden konnte der immer gut, ganz egal, ob er was davon versteht oder nicht. Enen rechtigen Schwätzbüll is dat.«