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Richard David Precht - Die Kunst, kein Egoist zu sein

Richard David Precht - Die Kunst, kein Egoist zu sein

„Ethik und Politik gehören untrennbar zusammen“

Interview mit Richard David Precht zu „Die Kunst, kein Egoist zu sein“

Richard David Precht
© Christian O.Bruch
Was war – nach Ihren Bestsellern „Wer bin ich und wenn ja wie viele“ und „Liebe - ein unordentliches Gefühl“ – Ihre Motivation, „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ zu schreiben?
Meine Absicht war es, ein Buch zu schreiben, dass sich sowohl philosophisch mit Moral beschäftigt als auch moralpsychologisch. Außerdem zieht das Buch aus den Überlegungen Schlüsse für unser gesellschaftliches Leben heute. Das heißt, es ist ein sehr ehrgeiziges Buch, das sich zwar mit Moralphilosophie intensiv auseinander setzt, aber immer im Hinblick darauf: Was bedeutet das praktisch? Und was könnte man in dieser Gesellschaft besser machen? Denn je genauer wir die Natur des Menschen in moralischer Hinsicht kennen, umso mehr Möglichkeiten haben wir, die Spielräume für das „Gute“ zu erweitern und für das „Schlechte“ zu verkleinern.

Wie sieht in Ihren Augen die moralische Natur des Menschen aus?
Zunächst einmal haben wir es mit einer erfreulichen Nachricht zu tun. Nur die wenigsten halten sich selbst für moralisch schlecht. Schon aus unserem Bekanntenkreis wissen wir, dass die allermeisten Menschen sich zu den Guten zählen. Manche Biologen sind der Ansicht, unser genetischer Auftrag bestünde darin, rücksichtslos unsere Interessen durchzusetzen. Das ist so sicher nicht ganz richtig. Wir haben nämlich ein Interesse, das wichtiger zu sein scheint als alle anderen und das gerade nicht rücksichtslos ist: nämlich Anerkennung zu bekommen. Als soziale Lebewesen sind wir gleichsam darauf konditioniert. Und weil wir auf Anerkennung, auf Respekt, auf Achtung aus sind, verhalten wir uns meistens relativ freundlich zu anderen Menschen. Das Spannende daran ist: Wenn wir so gute Anlagen haben und von Natur aus keine knallharten Egoisten sind, sondern kooperativ und eigentlich auch gerne nett gefunden werden wollen, warum läuft dann so vieles in der Weltgeschichte schief?

Und, woran liegt es?
Vermutlich hat es etwas mit unserer enorm hohen Anpassungsfähigkeit zu tun. Wir sind sehr anpassungsfähige Tiere. Und im Laufe der Evolution haben wir nicht nur ein starkes Bedürfnis entwickelt, geachtet zu werden, sondern auch eine ganze Reihe von Tricks gelernt, mit denen wir uns selbst in die Tasche lügen können, so dass wir es schaffen, uns auch dann für die Guten zu halten, wenn wir es nicht unbedingt sind. Unser moralisches Selbstbild ist durchsetzt mit Ausreden, Ausflüchten, billigen Vergleichen und Selbstüberlistungen.

Wie können wir – trotz aller Tricks – unsere guten Fähigkeiten, sprich: die Kunst, kein Egoist zu sein, in die Tat umsetzen?
Wenn wir versuchen, möglichst gute Menschen zu sein, dann ist das nicht nur eine Frage von Gesinnungen und Absichten. An guten Vorsätzen und richtigen Prinzipien besteht in der Welt kein Mangel. Wichtig ist überdies, Strukturen in der Gesellschaft zu schaffen, die das eine erleichtern und das andere erschweren. Was ich mir in meinem Kämmerchen überlege, wie ich ein guter Mensch sein könnte, reicht überhaupt nicht aus, wenn ich in einer Gesellschaft lebe, in der das nicht gefördert wird, sondern in der es mir schwer gemacht wird. Ethik und Politik gehören untrennbar zusammen. Das wussten schon die Philosophen der Antike und der Aufklärung. Und es war ihnen selbstverständlich, dass sie sich mit ganz konkreten Vorschlägen einmischten. Jede Frage nach der Gesinnung steht immer in einem Austauschverhältnis mit der Gesellschaft, in der wir leben. Und das ist der Grund, warum auch ich ganz konkrete praktische Vorschläge mache, was wir in der Gesellschaft besser machen können.

Sie kritisieren unser Wirtschaftssystem …
Wir haben ein Wirtschaftssystem, das auf Eigennutz zielt. Dieses Wirtschaftssystem, also der Kapitalismus, ist das erfolgreichste Wirtschaftssystem, das es je gegeben hat. Seit wir kapitalistisch wirtschaften, so etwa seit gut 200 Jahren, ist der Wohlstand in der westlichen Welt explodiert. Es ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Es gibt kein vergleichbar erfolgreiches Modell. Gleichzeitig aber verbraucht der Kapitalismus die moralischen Reserven an Fairness und auch an Wahrhaftigkeit. Und wenn man dem Markt völlig freie Hand gibt, dann wird Moral so weit aufgezehrt, dass der gesellschaftliche Konsens und die Grundlagen unserer Gesellschaft dadurch zerstört werden. Schon die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft wussten dies sehr genau. Der Markt schafft keine Moral, sondern er ist ein „Moralzehrer“. Wann immer eine Marktnorm auf eine Sozialnorm trifft, wird die Sozialnorm von der Marktnorm kannibalisiert.

Wie kann also ein gesellschaftliche Miteinander, ein „Ich im Wir“ (Axel Honneth) und damit ein „Wir im Ich“ wieder gestärkt werden?
Dadurch, dass man begreift, dass Moral nicht in die Köpfe der Menschen kommt, indem man Moralpredigten hält, sondern in erster Linie dadurch, dass etwas vorgelebt wird und man sich etwas abguckt. Wenn man also begreift, dass Moral eine Ansteckungssache ist. Es ist deshalb ungemein wichtig, moralische Milieus zu fördern. In Bezug auf unsere Gesellschaft heißt das demokratische, kooperative und verantwortungsbewusste Milieus. Ein Umfeld, in dem bürgerliche Tugenden vorherrschen und in denen Demokratie und Mitbestimmung auf vorbildliche Weise realisiert sind. Und das müssen wir stärken in der Gesellschaft. Im Augenblick sind wir allerdings eher dabei, das zu schwächen: unsere Wirtschaftspolitik hat sich von gefährlichen Mythen wie dem Ideal des freien Marktes blenden lassen und ist einer naiven Marktgläubigkeit verfallen. Gleichzeitig greift sie in das Leben unserer Kommunen ein durch „neoliberale“ Reglementierungen aus Brüssel, die unsere angestammten Strukturen und Milieus in den Städten zerstören. Wo früher Vielfalt in den Einkaufsstraßen herrschte, gibt es heute die Monokultur globaler Unternehmen und Einkaufsketten. Das ist eine relativ gefährliche Entwicklung in Bezug auf bürgerliche Tugenden und bürgerliche Moral. Ich bin ein Befürworter von Europa, aber nicht in jeder Hinsicht.

Um politische Strukturen hier in Deutschland zu dezentralisieren und wieder bürgernaher zu gestalten, geben Sie den Impuls, die Zahl der Bundesländer zu reduzieren, wenn nicht gar, die Bundesländer abzuschaffen und die Kommunen zu stärken – warum?
Die meisten Städte in Deutschland sind hoffnungslos überschuldet, Tendenz stark steigend. Wenn das so weiter geht, sind sie in ein oder zwei Jahrzehnten pleite. Mit den Städten aber stirbt zugleich die bürgerliche Kultur: Schulen, Kindergärten, Sport-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen. Die Städte verwahrlosen und werden immer dissozialer. Um das zu stoppen, brauchen die Städte mehr Geld und mehr Autonomie. Ein Teil dieses Geldes könnte dadurch aufgebracht werden, viele Verwaltungs- und Selbstverwaltungseinheiten der Bundesländer aufzulösen. Dadurch würden enorme Summen frei, die jetzt ganz unproduktiv in der Verwaltung verbraucht werden. Ich denke, niemand braucht zu seinem Seelenheil Nordrhein-Westfalen oder Sachsen-Anhalt. Aber was wir ganz unbedingt brauchen sind starke und finanziell gesunde Kommunen. Die wichtigsten Kompetenzen der Länder – Bildung, Medien, Kirche und Polizei – sind ohnehin besser beim Bund aufgehoben. Unser Bildungsföderalismus zum Beispiel ist eine Farce, die blockiert statt zu fördern.

In Ihrem Buch befürworten Sie ein aktives, bürgerschaftliches Engagement – wie sieht das im Positiven für Sie aus?
Ein sehr konkretes Beispiel ist hier in Köln der Rathenauplatz. Der Rathenauplatz war vor 20 Jahren völlig herunter gekommen. Er war ein Domizil für Ratten, der ganze Park war verwahrlost. Die Anwohner haben der Stadt viele Briefe geschrieben und sich gewünscht, dass die Stadt was dagegen tut und den Park neu herrichtet. Die Stadt hat das nicht getan, weil sie kein Geld hat. Und dann haben die Bürger sich zusammengeschlossen und haben das selber gemacht. Und die haben nicht nur diesen Park verschönert, sondern darüber hinaus Bürgerinitiativen gegründet, die sich um die Leute im Viertel kümmern. Da gibt es Senioren, die den Kindern in der Schule vorlesen. Es gibt einen Verein, der sich gegen Mietwucher und Spekulation im Viertel einsetzt und dergleichen mehr. Diese Art von bürgerschaftlichem Engagement gilt es zu stärken. In Amerika nennt man das „republikanische Tugenden“. Ihre philosophische Entsprechung finden Sie in dem Begriff „Kommunitarismus“. Er besagt, dass man selbst moralische, soziale Milieus herstellen muss und über die Ansteckung, die von diesen Milieus ausgeht, andere Menschen für seine guten Ziele gewinnen soll.

Wo sind Sie selbst bürgerschaftlich engagiert?
Ich komme aus einer sehr engagierten Familie, die nicht nur zwei Waisenkinder aus Vietnam adoptiert hat, sondern auch ein deutsches Mädchen aus einem Kinderheim an den Wochenenden mit in die Familie genommen hat und moralisch und praktisch gefördert hat. Ich bin Schirmherr der Solinger Ortsgruppe von „Mentor – die Leselernhelfer“. Dabei geht es darum, dass freiwillig engagierte Bürger Kindern aus sozial schwachen Milieus in der Schule helfen und ihnen Lesen beibringen. Hier findet sich auch die praktische Antwort auf die Sarrazin-Debatte. Wenn wir etwas dagegen tun wollen, dass unser Land sozial abdriftet, dann müssen wir selbst mit anpacken …

Nicht jedem fällt das leicht ... welcher Anreize und Motivationen bedarf es, um diesen Moment des „Selbst-Anpackens“ breiter und stärker in unserer Gesellschaft zu verankern?
Je mehr man das Gefühl hat, dass es auf einen selbst ankommt, um so eher ist man bereit, was zu tun. Wir leben heute in einem Land mit einem enormen demokratischen Bewusstsein wie es das wahrscheinlich in der gesamten Weltgeschichte noch nie gegeben hat. Aber unsere Verfassung ist noch die gleiche wie vor 60 Jahren, und die hat aus historisch böser Erfahrung ihren Bürgern nur eingeschränkt etwas zugetraut und hat viele Instanzen dazwischen geschaltet, um den Volkswillen möglichst zu kanalisieren. Heute ist das demokratische Bewusstsein in diesem Land im Vergleich mit früher viel besser entwickelt, so dass wir den Menschen mehr zutrauen sollten. Wir können heute so spannende Vorgänge beobachten wie zum Beispiel der Kampf um den Stuttgarter Hauptbahnhof. Dass man sich derart schamlos über den Willen der Bevölkerung in der Stadt hinwegsetzt – das dürfte es eigentlich nicht mehr geben. Und ich glaube auch, dass das nicht mehr lange so weiter gehen kann. Kurz gesagt: Ich glaube, dass die Menschen heute in Deutschland ein so starkes demokratisches Bewusstsein haben, dass sie sich viele obrigkeitsstaatliche Dinge nicht mehr gefallen lassen. Wir brauchen mit einem Wort mehr „Basisdemokratie“ und wir brauchen mehr „sozialen Patriotismus“. Das heißt, dass diejenigen, denen es in dieser Gesellschaft gut geht – und das sind mit Abstand die meisten – sich verstärkt selbst dafür einsetzen, dass es den Menschen, denen es schlecht geht, besser geht.

In diesem Zusammenhang schreiben Sie auch über die Steuerpolitik in unserem Land – der Philosoph Peter Sloterdijk hatte da mit seinem Essay in der FAZ für Diskussionsstoff gesorgt. Wie bekommen wir nach Ihrer Einschätzung wieder glückliche Steuerzahler?
Ich finde es durchaus richtig, dass Leute, die viel Geld verdienen, viel Steuern zahlen. Und das dürfte durchaus auch noch mehr sein, auch damit hätte ich kein Problem. Wichtig dabei ist, dass man als Steuerzahler ein gutes Gefühl hat. Wenn man nahezu die Hälfte seines Einkommens an Steuern zahlt, was ja bei Spitzenverdienern der Fall ist, dann finde ich, sollte man ihnen auch anerkennen, dass es sich dabei um einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwesen handelt. Dabei ist ein netter persönlicher Kontakt zu den Steuerbeamten genauso wichtig wie der persönliche Kontakt, den man ja auch zur Bank hat. Ich möchte, dass man im Finanzamt genauso seinen Kaffee angeboten bekommt. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass man – bei einer Erhöhung der Reichensteuer – den Zweck wofür reiche Menschen ihr Geld ausgeben wollen bis zu einem gewissen Grad frei stellt. Man könnte zum Beispiel eine Liste von zehn möglichen Zielen machen. Wenn ich dann diese 5% oder was es auch immer ist, noch zusätzlich abdrücke, dann fühle ich mich dabei nicht geschröpft, sondern ich fühle mich als Spender. Wichtig ist vor allem, dass die Motivation stimmt. Und so muss man die Steuermotivation dadurch verbessern, dass man kleine Elemente der Freiwilligkeit in unser Steuersystem implementiert – wenn auch „Freiwilligkeit unter Zwang“. Peter Sloterdijks Idee, dass man die Steuern abschaffen und als freiwillige Geschenke deklarieren sollte, ist natürlich Unsinn. Aber man könnte zumindest einen Teil des Gedankens aufgreifen und sagen: Warum nicht für Reiche eine Sonderabgabe, bei der man das Ziel dann selbst eingeschränkt mitbestimmen kann?

Sie machen konkrete Vorschläge zum Umbau unserer Demokratie und weisen darauf hin, wie wichtig es ist, dass wir eingreifen, mitplanen und regulieren – wie können wir Bürgerinnen und Bürger wieder stärker in die Bundespolitik einbezogen werden?
Ich habe im Wesentlichen zwei größere Vorschläge, was die Bundespolitik anbelangt. Der erste betrifft die Mehrheitsdemokratie, die wir schon in der Weimarer Republik hatten und die wir 1949 wieder eingeführt haben. Sie besagt, dass nur die stärkste Partei regiert bzw. die stärkste Koalition. Der Rest der Stimmen ist eigentlich verloren. Aus meiner Sicht stärkt dies die Politikverdrossenheit, weil viele sagen: „Ich wähle ja eine Partei, von der ich weiß, sie kommt jetzt sowieso nicht dran, dann kommt's nicht mehr drauf an.“ Außerdem führt eine solche Politik dazu, dass Parteien, die sich mittlerweile sehr, sehr ähnlich geworden sind und sich eigentlich nur rhetorisch unterscheiden, den allergrößten Teil ihrer Energie nur darauf verwenden, Politik zu blockieren. Ich glaube angesichts der großen, langfristigen Umbauten, vor denen unsere Demokratie steht, können wir uns das nicht mehr länger leisten. Und deswegen wünsche ich mir ein konkordanzdemokratisches Modell wie zum Beispiel das in der Schweiz. Die Pointe besteht darin, dass die Parteien prozentual zu den Stimmen, die sie bekommen, an der Regierung beteiligt sind. Das heißt, die Parteien sind immer gezwungen, miteinander klar zu kommen. Und der größte Teil der Energie fließt in die gemeinsame Arbeit und nicht in die wechselseitige Blockade. Das ist der erste Vorschlag. Der zweite Vorschlag ist – und das ist für mich noch mal bestärkt worden durch die Diskussionen, die wir im Zusammenhang mit Wulff und Gauck gehabt haben – den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist dafür. Und ich finde, dass man dieses Votum ernst nehmen sollte. Ich glaube, dass der moralische Einfluss des Bundespräsidenten auf diese Art und Weise tatsächlich steigt. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil unsere Demokratie in einigen Teilen von innen heraus nicht mehr reformierbar zu sein scheint. So nimmt zum Beispiel der Lobbyismus immer stärker zu, man denke nur an die Vereinbarung mit den Stromkonzernen. Lobbyisten kriegen am Ende das, was sie wollen. Wir sehen ein „Drehtürsystem“, bei dem Politiker, Minister und Ministerpräsidenten mit Anfang 50 in die Wirtschaft wechseln. Man müsste dringend Gesetze machen, die das verhindern. Denn wer weiß, ob es sich dabei nicht schon längst um „inoffizielle Mitarbeiter“ von Konzernen gehandelt hat, die ihre Entscheidungen nicht im Sinne des Volkes getroffen haben? Im Prinzip könnte man diesen Verdacht und diese schlechte Gepflogenheit, die immer stärker zunimmt, leicht per Gesetz unterbinden. Aber unsere Parlamentarier werden das natürlich nicht machen, weil sie davon profitieren. Also braucht man eine Instanz von außen, die Vorschläge macht, die man als Parlamentarier nur sehr schlecht ablehnen kann. Ich wünsche mir nicht, dass der Bundespräsident mehr exekutive oder legislative Gewalt bekommt, aber dass er moralisch gestärkt wird. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er eine Kommission einberuft von Nicht-Lobbyisten, die die langfristigen Umbaupläne, die unsere Parteien nicht ernsthaft angehen, endlich vorantreibt. Und das Parlament braucht dann sehr gute Argumente, diese Vorschläge, die von der Kommission gemacht werden, abzulehnen. Die sind nicht bindend. Ich will keine Monarchie, keine Diktatur. Aber ich will mehr moralische Autorität in die Politik implementieren.

Welchen Beitrag können die öffentlich-rechtlichen Medien dazu leisten, dass wieder mehr moralische Autorität gelebt wird, dass das „Demokratie-Theater“, wie Sie es nennen, aufhört?
Wir haben in letzter Zeit gesehen, dass unser öffentlich-rechtliches Rundfunksystem durchaus bedroht ist und zum Teil auch ausgehöhlt ist durch die Einflussnahme der Politik. Ich würde mir natürlich sehr wünschen, dass die Politik hier viel stärker zurück gedrängt wird. Das wäre auch durchaus im Interesse der Sender, aber bislang bestimmt ja die Politik sehr weitgehend darüber, wer in diesen Sendern das Sagen hat. Das verträgt sich überhaupt nicht mit der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie es ursprünglich mal geplant worden ist. Wir können nicht stolz sein und sagen, wir haben Medien, die die Politik kontrollieren, wenn das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist, sondern umgekehrt. Viele Menschen setzen in diesem Zusammenhang auf das Internet und sehen im Internet eine Basisdemokratie realisiert, die das Fernsehen nicht ist. Ich halte das für eine Illusion. Im Internet darf zwar jeder sagen, was er will, aber er wird im Zweifelsfall gar nicht gehört. Das Internet ist nur die Suggestion demokratischer Teilhabe. Auch glaube ich, dass das Internet eine bestimmte Art von Öffentlichkeit zwar herstellt, aber eine andere Art von Öffentlichkeit zerstört. Wenn jeder in seinem eigenen Segment ist und sich, wie die Erfahrung zeigt, immer da informiert, wo er sowieso schon seine Vorurteile und Lieblingsinteressen hat, dann wird er auf diese Weise nicht mehr in ein großes Gesamtthema eingebunden, sondern unsere Öffentlichkeit wird fragmentarisiert. Damit Öffentlichkeit aber funktionieren kann, müssen die Leute im selben Film mitspielen und nicht jeder in seinem eigenen Film, sonst gibt es gar keine Öffentlichkeit mehr. Diese Gefahr hat schon Jürgen Habermas vor drei, vier Jahren angeprangert und er hat damit vollkommen Recht.

Wie schätzen Sie – als Resümee Ihres Buches – die Chance für echte gesellschaftliche Veränderungen auf einem Markt ein, auf dem nicht die Münze des besseren Arguments zählt, wie wir es alle im Zuge der Finanzkrise beobachten konnten, sondern die Währung von Macht und Einfluss?
Ein kapitalistisches System kann nur funktionieren, wenn es auf einer gesunden moralischen Grundlage steht. Das ist eine absolut wichtige Regel, und so schlau waren die Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft auch. Das waren Moralisten. Also Leute wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke, wie Alfred Müller-Armack, die Lehrmeister von Ludwig Erhard, waren Moralisten. Sie wollten eine moralische Wirtschaftserziehung. Der Sozialstaat war ein moralisches Programm. Im Zuge des Neoliberalismus ist die Moral verloren gegangen. Heute gibt es führende Banker, die sagen: Banken tragen nicht die geringste moralische Verantwortung. Die sagen: Eine Bank ist sich selbst verpflichtet, aber ist nicht der Gesellschaft verpflichtet. Das ist falsch. Denn wenn alle großen Unternehmen und Banken nicht mehr der Gesellschaft verpflichtet sind, geht die Gesellschaft zum Teufel. Das ist ohne jeden Zweifel so. Und deswegen muss man dafür sorgen, dass Moral wieder in die Wirtschaft kommt. Das heißt, man muss sie stärker kontrollieren, als man das in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat. Zweitens brauchen wir ein neues Ethos. Ich erinnere daran, dass es noch vor zwanzig Jahren keinen deutschen Manager gab, der mehr als eine Million DM verdient hat. Heute gibt es einige, die sieben, acht, zum Teil zehn Millionen Euro verdienen. Diese Entwicklung ist nicht zwangsläufig gekommen, sondern sie ist dadurch befördert worden, dass eine bestimmte Moral im Finanzsektor aufgeweicht wurde. In Japan verdient übrigens bis heute kein einziger führender Manager mehr als eine Million Dollar. Auch wir brauchen wieder eine Kultur der Bescheidenheit, wir brauchen ein neues Ethos in der Wirtschaft und wir brauchen mehr sozialen Patriotismus, nicht nur in der Politik, nicht nur bei den Bürgern, sondern auch in der Wirtschaft. Und wir brauchen einen Staat der darauf drängt, dass dies realisiert wird. Wir haben es dabei durchaus mit einem Machtkampf zu tun. Der Staat hat hier einiges in die Waagschale zu werfen. Er gibt der Wirtschaft sehr viel. Er schafft zum Beispiel in diesem Land eine sehr hohe soziale Sicherheit, auf deren Grundlage sich die Geschäfte entfalten können. Und das muss die Wirtschaft dem Staat zurückzahlen. Die Atmosphäre der Fairness, der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens und der Sicherheit, die die Politik herstellt, die können Banken und Konzerne nicht einfach so behandeln als sei sie naturgegeben. Es sind Leistungen, die die Gesellschaft erbringt. Und da steht die Wirtschaft in einer Bringschuld, dass sie dies sozial und gesellschaftlich zurückzahlt.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Köln 09.09.2010
Das Interview führte Annette Brüggemann.

Die Kunst, kein Egoist zu sein

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