Dunkle Geheimnisse in der adeligen Seebadgesellschaft der Kaiserzeit – der zweite Fall für Viktoria Berg und Christian Hinrichs.
Norderney 1913: Im glanzvollen Seebad, wo der Adel des Kaiserreichs die Sommerfrische genießt, herrscht anlässlich des Thronjubiläums eine feierliche Stimmung. Doch dann überschatten bestürzende Ereignisse die sommerliche Idylle: Ein Rittmeister der kaiserlichen Kavallerie wird ermordet, und ein kleines Mädchen aus dem nahen Seehospiz verschwindet spurlos. Die unerschrockene Viktoria Berg begibt sich mit dem Journalisten Christian Hinrichs auf die Suche nach der Wahrheit und entdeckt in der feinen Seebadgesellschaft Abgründe, tief und geheimnisvoll wie die Nordsee.
Nach »Die Tote in der Sommerfrische« geht es nun endlich weiter.
Rieke wurde mit einem Ruck wach, starrte in die Dunkelheit. Die anderen Mädchen im Saal schliefen. Gegenüber hustete eines, ein anderes drehte sich um. Alles war wie immer. Und doch wusste Rieke, dass sie nicht wieder einschlafen würde. Nicht heute Nacht.
Sie setzte sich aufrecht, zog ihre Füße an sich und schlang die Arme um die Beine. Vergeblich versuchte sie, das Zittern zu unterdrücken. Sie griff nach ihrer Schürze, die an der Seite hing, und zog sie über. Trotzdem wurde es nicht besser.
Die Schwestern hatten am Abend dicke Vorhänge vor die Fenster gezogen. Dennoch war es nicht ganz dunkel, denn draußen schien selbst um diese Uhrzeit eine Gaslaterne. Rieke war froh darüber. Sie mochte die Dunkelheit nicht.
Zu viele Dinge geschahen in der Dunkelheit. Schlimme Dinge, an die sie nicht denken wollte. Dinge, die ihre Hände zum Beben brachten.
Sie wandte den Blick. Neben ihr lag Elli. Sie war ihre beste Freundin, obwohl Elli schon elf war und damit zwei Jahre älter als Rieke. Ob sie Elli wecken sollte? Jetzt könnte sie es ihr erzählen. Das, was vorhin geschehen war und was dafür sorgte, dass sie selbst unter der warmen Bettdecke fror.
Ellis Gesicht war blass, und ihr Atem ging schwer, machte ein rasselndes Geräusch wie die Maschine in der Fabrik. Die Oberschwester hatte gestern einer Hilfsschwester gesagt, jede Aufregung könnte Ellis Tod sein. Nein, sie durfte sie nicht wecken.
Rieke wollte sich wieder hinlegen. Wollte schlafen, um zu vergessen. Aber sie konnte ihre Arme nicht von ihren Beinen nehmen. Sie saß da und lauschte auf die Geräusche. Eine Eule rief draußen im Kiefernwäldchen. Ein Mädchen schnarchte. Ellis rasselnder Atem. Keine Schritte. Kein Ungeheuer. Hier war sie sicher. Sie musste nur ganz gleichmäßig atmen, so wie die anderen Kinder, dann würde sie wieder ruhig werden. Vorhin war sie auch eingeschlafen. Hatte alles vergessen, was passiert war. Aber jetzt war die Erinnerung da, überschwemmte sie.
Rieke versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, so wie Schwester Zita es Elli gezeigt hatte. Ein und aus, langsam. Sie passte ihren Rhythmus dem von Elli an. Nichts denken. Nur an das Meer, das Rauschen der Wellen. Doch dann hörte sie ein Geräusch. Sie hielt die Luft an, lauschte. Alles war still. Trotzdem lief Rieke ein eiskaltes Prickeln über den Rücken, trieb sie aus dem Bett. Auf nackten Füßen ging sie zum Fenster. Sie schlüpfte hinter den Vorhang und sah den beruhigenden Schein der Gaslaterne. Da war der Rasen, auf dem sie nachmittags spielten und der an dem kleinen Weg endete. Dahinter begann der Kiefernwald, dann kamen die Dünen und das Meer.
Plötzlich quietschte die Eingangstür zum Saal leise. Auf Riekes Arm richteten sich die Härchen auf. Vielleicht war es nur Schwester Zita, die manchmal noch hereinschaute.
Vorsichtig schob Rieke den Vorhang zur Seite, blickte in den Schlafsaal. Es war nicht Schwester Zita. Es war das Ungeheuer.
Rieke spürte die Kälte in ihrem Nacken, ihrem Rücken, ihren Beinen, ihren Zehen. Das Ungeheuer hatte sie gefunden. Sie sah durch den schmalen Spalt im Vorhang, wie es vor jedem Bett prüfend stehen blieb. Es leuchtete mit einer Lampe darauf und ging weiter. Es suchte sie.
Jetzt war es bei Elsa. Noch sieben Betten und es wäre hier. Rieke fühlte den eiskalten Steinboden unter ihren Füßen, den Lufthauch vom Fenster. Wenn du entdeckt wirst: Lauf! Sie hörte die harsche Stimme des Vaters in ihrem Kopf. Mit einem Mal wusste Rieke, was sie tun musste. Vorsichtig zupfte sie den Vorhang gerade, sodass der schmale Spalt geschlossen war. Sie wandte sich um, griff den Fensterknauf, von dem die weiße Farbe abblätterte, so oft war er gestrichen worden. Langsam drehte sie ihn zur Seite, er knackte leise. Sie lauschte. Es war kaum zu hören gewesen. Nicht einmal ein Ungeheuer konnte das bemerken. Oder etwa doch?
Langsame Schritte, die wieder an einem Bett anhielten. Es suchte noch immer. Hatte nichts gehört. Sie drückte gegen den Knauf. Doch der Rahmen klemmte. Sie rüttelte leicht, es knarrte. Das war zu hören gewesen. Jetzt klangen die Schritte energischer. Das Ungeheuer hatte sie entdeckt. Sie presste mit der flachen Hand gegen die Scheibe, doch das Fenster öffnete sich nicht. Das Ungeheuer war fast da.
Sie schlug gegen den Rahmen, endlich sprang es auf. Rieke zögerte keine Sekunde. Sie kletterte auf die Fensterbank, sprang hinunter auf den Rasen. Ein Stich schoss durch ihr rechtes Bein. Der Arzt hatte gesagt, sie dürfte es nicht überanstrengen. Aber was wusste der schon von Ungeheuern?
Sie rannte los. Spürte den feuchten Rasen an ihren nackten Füßen. Da vorn war der Weg, der zu dem Wäldchen führte. Da könnte sie sich verstecken. Aber das Ungeheuer
war ebenfalls aus dem Fenster gesprungen. Es war viel größer als sie. Und schneller. Da war schon das erste Gebüsch. Jetzt spürte Rieke keinen Rasen mehr unter den Füßen, sondern Sand, spitze Nadeln und Äste, die in ihre Sohlen stachen. Das Ungeheuer war direkt hinter ihr. Sie stolperte, fiel auf ihr Knie. Eine Hand umschloss ihr rechtes Fußgelenk.
Ruckartig wurde Rieke zurückgezogen. Sie versuchte, sich festzuhalten, griff nach den Ästen des Busches, krallte sich mit den Fingern an die dornigen Zweige. Gleichzeitig
versuchte sie, sich freizustrampeln. Doch ihre Tritte gingen ins Leere. Die Äste glitten aus ihrer Hand, als das Ungeheuer sie weiter zurückzog. Sie trat noch einmal zu. Diesmal traf sie. Das Ungeheuer stöhnte auf, sie hatte es am Kopf erwischt. Der eisige Griff um ihren Knöchel lockerte sich. Sie robbte fort, war plötzlich frei, sprang auf, rannte in den Wald hinein. Zwischen den Büschen hindurch. Hier war sie oft gewesen, sie wusste, wohin sie laufen musste. Sie eilte den kleinen Sandhügel hinauf. Der Boden unter ihr rutschte weg. Sie hörte, dass das Ungeheuer ihr folgte. Gleich würde es da sein. Sie lief, so schnell sie konnte, vielleicht würde die Dunkelheit sie verschlucken. Denn wenn das Ungeheuer sie fand, würde es sie töten. Es hatte schon einmal getötet. Und es würde wieder töten.
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Ein glanzvoller historischer Küstenkrimi – der großartige erste Fall für Viktoria Berg und Christian Hinrichs.
Norderney 1912: Im eleganten Seebad verbringt die feine Gesellschaft der Kaiserzeit die Sommerfrische. Auch die junge, unabhängige Viktoria Berg genießt die Zeit am Meer, bevor sie ihre Stellung als Lehrerin antritt. Doch dann wird sie Zeugin, wie der Hamburger Journalist Christian Hinrichs, der eine Reportage über den Sommer der Reichen und Schönen schreibt, eine ertrunkene junge Frau aus den Wellen zieht. Viktoria kannte die Tote und glaubt nicht eine Sekunde daran, sie habe den Freitod gewählt. Gemeinsam mit Christian stellt sie Nachforschungen an und stößt in der adeligen Seebadgesellschaft der Belle Époque bald auf dunkle Geheimnisse.
Elsa Dix ist eine aus Norddeutschland stammende Krimiautorin. Sie lebt heute mit ihrem Mann und Hund in Düsseldorf und verbringt jede freie Minute auf Norderney. »Die Tote in der Sommerfrische« ist der Auftakt einer Seebad-Krimireihe um das sympathische Ermittlerduo Viktoria Berg und Christian Hinrichs.
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