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Diese Geschichte erzählt von einem Ort, den es wirklich gibt. Er liegt im Nordosten Japans, in der Präfektur Iwate.
Eines Tages errichtete ein Mann am Fuße des Kujirayama, des Walberges, ganz in der Nähe der Stadt Ōtsuchi, im Garten seines Hauses eine Telefonzelle. Ōtsuchi gehört zu den Städten, die von dem verheerenden Tsunami des 11. März 2011 am schwersten betroffen waren.
Im Inneren der Zelle steht ein altes, nicht angeschlossenes Telefon, aus dem die Stimmen des Windes zu hören sind.
Hunderttausende von Menschen pilgern Jahr für Jahr zu diesem Telefon.

1

Zum allerersten Mal hatte sie in ihrer Radiosendung davon erfahren.
Ein Zuhörer hatte sich am Ende zugeschaltet und erzählt, was er tat, damit es ihm nach dem Tod seiner Frau besser ginge.
Die Redaktion hatte ausgiebig über das Thema diskutiert, bevor sie es festlegte. Alle wussten von dem Abgrund, den sie in sich trug. Doch Yui hatte darauf bestanden und gesagt, ganz gleich, was im Verlauf der Sendung passiere, sie sei gewappnet. Gerade weil sie so sehr gelitten habe, könne kein Leid der Welt sie mehr berühren.
»Was hat es Ihnen leichter gemacht, am Morgen aufzustehen und am Abend zu Bett zu gehen, nachdem Sie einen Verlust erlitten hatten? Was hilft Ihnen, wenn die Trauer Sie übermannt?«

Die Sendung war wesentlich weniger bedrückend verlaufen als erwartet.
Eine Frau aus Aomori berichtete, wann immer sie traurig sei, gehe sie in die Küche; sie backe süße und salzige Kuchen, Macarons, koche Marmelade ein, bereite Leckereien wie Kroketten oder gegrillten Fisch mit karamellisierter Sojasauce zu oder gekochte Gemüsehäppchen für eine Bento-Box. Sie habe sich sogar eine Gefriertruhe zugelegt, um ihre kulinarischen Schätze aufzubewahren. Für Hina-matsuri, das Mädchenfest am 3. März, welches ihre Tochter Jahr für Jahr gefeiert hatte, leerte sie die Truhe sorgfältig. Sie wusste ganz genau, wenn sie die Puppensammlung im Wohnzimmer betrachten würde, jene auf Stufen aufgereihten Figuren in den Gewändern der kaiserlichen Familie, würde sie das zwingende Bedürfnis überkommen, zu schälen, zu schnippeln, zu überbrühen.
Wenn sie koche, gehe es ihr gut, sagte sie, denn es helfe ihr dabei, wieder Hand an die Welt zu legen und sie zu spüren.
Eine junge Angestellte aus Aichi rief an und erzählte, sie gehe in bestimmte Cafés, wo man Hunde, Katzen und Frettchen streicheln könne, besonders Frettchen. Es genüge, dass die Tiere mit ihren kleinen Schnauzen ihre Hände streiften, und schon kehre in ihr die Freude zurück, am Leben zu sein. Ein alter Herr, der im Flüsterton sprach, damit ihn seine Frau im Schlafzimmer nicht hörte, gestand, dass er pachinko spiele, die japanische Variante eines Glücksspiels.
Und ein Handelsreisender, der die Trennung von seiner Verlobten wie einen Trauerfall erlebt hatte, hatte es sich angewöhnt, große Tassen heißer Schokolade zu trinken und dazu sembei, Reiscracker, zu knabbern.
Alle mussten lächeln, als eine Hausfrau aus Tokio, eine Frau von etwa fünfzig, die bei einem Unfall ihre beste Freundin verloren hatte, erzählte, sie habe begonnen, Französisch zu lernen, und allein die fremde Modulation ihrer Stimme, das kehlige R und die komplexe Betonung vermittelten ihr die Illusion, ein anderer Mensch zu sein. »Die Sprache werde ich nie lernen, dafür bin ich vollkommen unbegabt, aber wenn ihr wüsstet, wie gut ich mich fühle, wenn ich auch nur bonjourrrrr sage!«
Der allerletzte Anruf kam aus Iwate, einem der Orte, die 2011 von der Tsunami-Katastrophe am schlimmsten betroffen gewesen waren. Die Programmleiterin der Sendung warf dem Tontechniker einen vielsagenden Blick zu, der einen Moment lang zur Moderatorin schaute und dann den Blick aufs Mischpult senkte, um ihn bis zum Ende des Anrufs nicht mehr von dort zu heben.
Wie Yui hatte auch der Zuhörer jemanden an den Tsunami verloren: seine Frau. Das gemeinsame Haus war von den Fluten überspült und die Leiche mitsamt den Trümmern weggerissen worden, sie zählte zu den sogenannten yukue fumei, den Vermissten, von denen jede Spur fehlte.
Mittlerweile wohnte der Mann bei seinem Sohn im Inneren des Landes, wo das Meer nur eine Vorstellung war.
»Jedenfalls« – sagte die Stimme im Radio, immer wieder unterbrochen vom Ziehen an einer Zigarette – »gibt es da diese Telefonzelle mitten in einem Garten, auf einem einsam gelegenen Hügel. Das Telefon ist nicht angeschlossen, doch der Wind trägt die Stimmen fort. Ich sage Yoko, wie geht es dir?, und schon scheint mir alles früher zu sein, meine Frau, die mir aus der Küche zuhört, immer mit der Zubereitung einer Mahlzeit beschäftigt, dem Frühstück oder dem Abendessen, und ich meckere, weil ich mir an dem heißen Kaffee die Zunge verbrannt habe. Gestern Abend habe ich meinem Enkel die Geschichte von Peter Pan vorgelesen. Von diesem Jungen, der fliegen kann und seinen Schatten verliert, doch dann näht dieses Mädchen ihn an der Fußsohle fest. Und genau so, glaube ich, sind auch wir, die wir auf diesen Hügel steigen. Wir wollen unseren Schatten zurückhaben.«

Im Studio war es ganz still geworden, als wäre ein riesiger Fremdkörper zwischen ihnen abgestürzt.
Auch Yui, die es normalerweise immer schaffte, mit kurzen, ausgewogenen Worten einen zu langen Wortbeitrag zu unterbrechen, hielt den Atem an. Erst als der Mann hustete und die Regie seine Stimme ausblendete, erwachte Yui aus ihrer Trance. Hastig kündigte sie die nächste Musik an, stutzte nur kurz bei dem zufällig passenden Titel: Mrs Dalloway: In the Garden von Max Richter.
In jener Nacht erreichten sie noch viele Anrufe dieser Art, selbst als Yui längst im vorletzten Zug nach Shibuya und im allerletzten nach Kichijōji saß.
Sie schloss die Augen, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Wieder und wieder kehrte sie im Geiste zu den Worten des Anrufers zurück, als würde sie ihren eigenen Schritten folgen, immer wieder die gleiche Straße entlanggehen und dabei ständig neue Details entdecken. Ein Straßenschild, einen Ortsnamen, eine kleine Stadt. Sie schlief erst ein, als sie sicher sein konnte, den gesamten Weg auswendig zu kennen.
Am nächsten Tag nahm Yui zum ersten Mal, seit ihre Mutter und ihre kleine Tochter gestorben waren, zwei Tage Urlaub.

Sie ließ den Motor ihres Autos an, tankte, lud die Batterie auf, die fast leer war, und machte sich mit Hilfe des Navis und seinen streng geäußerten Anweisungen auf den Weg zu Suzuki-sans Garten.
Und so wurde zwar nicht das Glück, aber doch der Trost allmählich zu einem Ding.

2
Playlist dieser Nacht, die in Yuis Radiosendung gespielt wurde

Fakear, »Jonnhae Pt. 2«
Hans Zimmer, »Time«
Plaid, »Melifer«
Agnes Obel, »Stone«
Sakamoto Kyū, »Ue wo mite arukō«
The Cinematic Orchestra, »Arrival of the Birds & Transformation«
Max Richter, »Mrs Dalloway: In the Garden«
Vance Joy, »Call If You Need Me«

Laura Imai Messina
© Giovanni Piliarvu

Laura Imai Messina

Laura Imai Messina wurde in Rom geboren. Mit dreiundzwanzig Jahren zog sie nach Japan. Ihr Studium an der University of Foreign Studies schloss sie mit dem Doktortitel ab, mittlerweile arbeitet sie als Dozentin an verschiedenen Universitäten. Laura Imai Messina lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Tokio. Ihr Roman „Die Telefonzelle am Ende der Welt“ stand in Italien und Großbritannien wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde in 25 Länder verkauft.