»Aufstehen!« Ich spüre einen kräftigen Stoß auf meinem Brustbein und blinzele in die Fackel, die über mich gehalten wird. »Los! Beweg dich!«, brüllt der römische Soldat, der über mir steht und seinen Speer auf meine Brust gesetzt hat. Heftig tritt er mir dabei in die Seite. Schlaftrunken versuche ich, mich wegzurollen. »Was? Was habe ich getan?«, presse ich hervor. »Maul halten! Mitkommen!«, faucht ein anderer Soldat, während er mein Gepäck durchsucht. Als ich langsam aufstehe, merke ich, wie meine Knie zittern. Ich schlucke und spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Was ist hier los? Dann wird mir der Schaft eines Speeres in den Rücken gestoßen. »Los! Beweg dich!«
Zusammen mit anderen werde ich einen steilen Berg hinaufgetrieben. Ich hebe meinen Blick und erkenne die Jerusalemer Burg Antonia über mir. Dorthin soll ich verbracht werden? Da spüre ich schon wieder den Speer im Rücken und stolpere weiter. Es dauert nicht lange, da haben wir die Burg erreicht. Nachdem wir den Haupteingang passiert haben, werde ich wie ein Stück Vieh eine Treppe hinuntergetrieben. Die ausgetretenen Steinstufen werden nur spärlich vom Licht der Fackeln erhellt, die in Metallhalterungen an den Wänden hängen. Die Soldaten stoßen mich in einen dämmrigen Keller. Ich stürze zu Boden. Wo bin ich hier? Ich höre, wie hinter mir eine vergitterte Tür verschlossen wird. Ich rapple mich auf und schaue mich um. Der Angstschweiß steht auf meiner Stirn. Dann traue ich mich erneut zu fragen: »Was habe ich denn falsch gemacht!« Der Soldat an der Tür lacht dreckig und spuckt mir ins Gesicht. »Widerstand gegen Rom ist Hochverrat!«, ruft er mir zu, dreht sich um und steigt die Treppe wieder nach oben.
Ich bin völlig aufgelöst: Man wirft mir vor, ein Widerstandskämpfer zu sein? Darauf steht die Todesstrafe! Mein Herz schlägt bis zum Hals. Dann blicke ich mich um. In dem dunklen Verlies erkenne ich schemenhaft mehrere zerlumpte Gestalten. Wie lange mögen sie wohl schon hier sein? Erst jetzt fällt mir auf, dass es hier bestialisch stinkt! Ich bin unschuldig! Ich will hier raus! »Raus! Raus! Raus!« – Eine der Gestalten lacht hämisch und röchelt mir zu: »Hochverrat! Die werden dich kreuzigen! Glückwunsch! Du hast dir den Zorn Roms zugezogen.« – Ich schreie ihn an: »Aber ich habe nichts Böses getan. Hörst du? Nichts! Ich bin unschuldig!« In meiner Verzweiflung schlage ich um mich, schreie vor Wut und Hilflosigkeit.
Weil ich mich überhaupt nicht mehr beruhigen kann, packt er mich an den Schultern und grinst mir spöttisch ins Gesicht. »Ich habe nichts Böses getan!«, schreie ich immer wieder, während ich spüre, wie ich von dem Kerl gerüttelt werde.
»Beruhigt euch, Herr! Ihr habt geträumt!« Ich bin schweißgebadet und blinzle mehrmals. Noch richtig benommen öffne ich schließlich langsam die Augen. »Hippolytos! Gott sei Dank!«, stoße ich erleichtert hervor. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken runter. In meinem Mund ist es staubtrocken. Mein Sklave lächelt mich an: »Ihr habt schon wieder geträumt!«, sagt er und fügt hinzu: »Alles ist gut!« Ich bin so aufgewühlt, dass mir die Tränen über das Gesicht laufen. Hippolytos sitzt ruhig da und sagt erneut: »Alles ist gut!« Als ich mich wieder gefasst habe, blicke ich ihm ernst ins Gesicht, denn ich weiß: Nichts ist wirklich gut.
Seit Kaiser Domitian (81-96 n.Chr.) an der Macht ist, werden Christen immer wieder verhaftet, angeklagt als gottlose Hochverräter und hingerichtet. Ja, in der Regel bedeutet die Gefangennahme bereits das Todesurteil. Ich schüttle den Kopf, als wollte ich die Geister des Traumes verscheuchen. In Zeiten wie diesen müssen viele Christen um ihr Leben fürchten. Wohl deshalb holt mich die Erinnerung meiner Verhaftung, damals in Jerusalem, immer wieder im Traum ein. Eigentlich dachte ich, dass ich diese Erfahrung längst überwunden hätte. Manchmal erlebe ich im Traum aber auch den tristen und gnadenlosen Gefängnisalltag, eine grausame und schmerzhafte Züchtigung mit der Peitsche durch einen römischen Soldaten, eine Prügelei im widerlichen Gefängnis … und manchmal stehe ich selbst auch vor einem Statthalter, der im Begriff ist, mich dem Henker zu übergeben, weil ich Christ bin. Manchmal träume ich sogar von meiner eigenen Hinrichtung … Gott allein weiß, welches Schicksal mich selbst auf meine alten Tage noch ereilen wird. Es ist wirklich eine schwierige Zeit für uns Christen unter dem Kaiser, der von sich sagt, er wäre der »neue Nero«.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Und immer wieder verfolgen mich meine Erlebnisse in Träumen. Mir wird langsam klar: Wenn ich sterbe, stirbt auch die ganze Geschichte – alles, was ich in Jerusalem und mit Paulus erlebt habe, alles, was mir persönlich so besonders wichtig geworden ist. Es ist meine Geschichte, wie ich sie erlebt habe – mit Menschen und mit Gott. Ihm möchte ich die Ehre geben und daher meine Erlebnisse zu Pergament bringen. Diese teilweise dramatische Geschichte meines Lebens, die ich nun erzählen will, beginnt jedoch mit einem Appell: »Nennt mich Lukas!«