»Der Store« von Rob Hart

Der Store liefert alles. Überallhin. Der Store ist Familie. Der Store schafft Arbeit und weiß, was wir zum Leben brauchen. Aber alles hat seinen Preis.

Paxton und Zinnia lernen sich bei Cloud kennen, dem weltgrößten Onlinestore. Paxton hat dort eine Anstellung als Security-Mann gefunden, nachdem sein Unternehmen ausgerechnet von Cloud zerstört wurde. Zinnia arbeitet in den Lagerhallen und sammelt Waren für den Versand ein. Das Leben im Cloud-System ist perfekt geregelt, aber unter der Oberfläche brodelt es. Die beiden kommen sich näher, obwohl sie ganz unterschiedliche Ziele verfolgen. Bis eine schreckliche Entdeckung alles ändert.

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»Wie armselig ist doch der Mensch, der einen Rock so wohlfeil verlangt, dass der Mann und die Frau, die das Tuch machen und das Gewand schaffen, dabei hungern.« – Benjamin Harrison, Präsident der Vereinigten Staaten, 1891

Leseproben zu »Der Store«

Gibson

Tja, ich werde bald sterben!

Viele Leute schaffen es ans Ende ihres Lebens, ohne zu wissen, dass sie es erreicht haben. Eines Tages geht einfach das Licht aus. Ich hingegen habe einen Termin.

Da ich keine Zeit habe, ein Buch über mein Leben zu schreiben, wie es mir alle nahelegen, muss das hier ausreichen. Ein Blog ist doch ziemlich passend, oder nicht? In letzter Zeit schlafe ich nicht viel, daher habe ich jetzt etwas, womit ich mich nachts beschäftigen kann.

Ohnehin ist Schlaf etwas für Leute, denen es an Ambitionen mangelt.

Immerhin wird es also eine Art schriftliche Aufzeichnung geben. Ich will, dass ihr es von mir hört anstatt von jemand, der damit Geld verdienen will und irgendwelche fundierten Vermutungen anstellt. Aus der Perspektive meiner Branche kann ich euch sagen: Vermutungen sind nur selten fundiert.Ich hoffe, es ist eine gute Geschichte, weil ich den Eindruck habe, dass ich ein ziemlich gutes Leben gelebt habe.

Vielleicht denkt ihr jetzt: Mr. Wells, Sie besitzen 304,9 Milliarden Dollar, womit Sie der reichste Mensch in Amerika sind und die viertreichste Person auf Gottes schöner Erde, also haben Sie natürlich ein gutes Leben gehabt.

Aber, Freunde, das ist nicht der springende Punkt.

Wichtiger noch, das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.

Das hier ist die echte Wahrheit: Ich habe die schönste Frau der Welt kennengelernt und sie überzeugt, mich zu heiraten, bevor ich einen einzigen Penny in der Tasche hatte. Gemeinsam haben wir ein kleines Mädchen aufgezogen, das vom Glück verwöhnt war, das stimmt, aber gelernt hat, den Wert eines Dollars zu schätzen. Sie sagt bitte und danke und meint es auch so.

Ich habe die Sonne auf- und untergehen sehen. Ich habe Teile der Welt gesehen, von denen mein Papa nicht mal gehört hatte. Ich bin mit drei Präsidenten zusammengetroffen und habe allen respektvoll erklärt, wie sie ihren Job besser machen könnten – und sie haben zugehört. Ich habe auf der Bowlingbahn meines Wohnorts ein perfektes Spiel gemacht, und mein Name steht dort bis heute an der Wand.

Zwischendrin gab es ein paar harte Zeiten, aber wenn ich hier so sitze, während meine Hunde zu meinen Füßen ruhen, meine Frau Molly im Nebenzimmer schläft und Claire, mein kleines Mädchen, eine geschützte, sichere Zukunft hat – da fällt es mir leicht zu denken, dass ich mit dem, was ich geleistet habe, zufrieden sein kann.

Mit großer Demut sage ich, dass Cloud eine Leistung ist, auf die ich stolz sein darf. Es ist etwas, was den meisten Menschen nicht gelingt. Die großen Freiheiten, die es in meiner Kindheit noch gab, haben sich schon vor so langer Zeit in Luft aufgelöst, dass man sich kaum daran erinnern kann. Früher war es nicht allzu schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein Häuschen zu bauen. Nach einer Weile wurde das zu einem Luxus und schließlich zu einem reinen Wunschgedanken. Während Cloud wuchs, erkannte ich, dass das Unternehmen mehr sein konnte als ein Kaufladen. Es konnte eine Lösung sein. Es konnte diesem großen Land zur Wohltat gedeihen.

Die Leute an die Bedeutung des Wortes Wohlstand erinnern.

Und das hat es getan.

Wir haben den Leuten Arbeit gegeben. Wir haben den Leuten Zugang zu erschwinglichen Gütern und medizinischer Versorgung verschafft. Wir haben Milliarden Dollar an Steueraufkommen erwirtschaftet. Wir waren führend bei der Verringerung des CO2-Ausstoßes, indem wir Normen und Technologien entwickelt haben, die unseren Planeten retten werden.

Getan haben wir das, indem wir uns auf das Einzige konzentriert haben, worauf es in unserem Leben ankommt: die Familie.

Ich habe meine Familie zu Hause und meine Familie bei der Arbeit. Zwei unterschiedliche Familien, die ich beide von ganzem Herzen liebe und voll Trauer zurücklassen werde.

Der Arzt sagt mir, dass mir noch ein Jahr bleibt, und da er ein ziemlich guter Arzt ist, vertraue ich dem, was er sagt. Außerdem weiß ich, dass mein Zustand ziemlich bald bekannt werden wird, weshalb ich ihn euch genauso gut selbst verkünden kann.

Pankreaskarzinom Stufe 4. Das bedeutet, dass der Krebs sich bereits in anderen Teilen meines Körpers ausgebreitet hat. Vor allem in der Wirbelsäule, der Lunge und der Leber. Eine fünfte Stufe gibt es nicht.Mit der Bauchspeicheldrüse, medizinisch Pankreas, verhält es sich so: Sie ist hinten im Bauch versteckt. Wenn man feststellt, dass damit etwas nicht in Ordnung ist, ist es in vielen Fällen so wie bei einem Brand auf einem trockenen Feld. Zu spät, als dass man was dagegen tun könnte.

Als der Arzt mit der Diagnose herausgerückt ist, hat er einen ernsten Ton angeschlagen und mir die Hand auf den Arm gelegt. Jetzt kommt es, dachte ich. Zeit für schlechte Nachrichten. Daraufhin sagt er mir, was Sache ist, und meine erste Frage, ehrlich und wahrhaftig, lautet: »Was zum Teufel macht eine Bauchspeicheldrüse überhaupt?«

Er hat gelacht, und ich habe mit eingestimmt, was die Stimmung ein bisschen aufgelockert hat. Das war gut, denn anschließend wurde es weniger lustig. Falls ihr dieselbe Frage hattet: Die Bauchspeicheldrüse trägt dazu bei, die Nahrung zu verdauen und den Blutzucker zu regulieren. Inzwischen weiß ich darüber ganz gut Bescheid.

Mir bleibt noch ein Jahr. Deshalb gehen meine Frau und ich morgen früh auf große Fahrt. Ich werde so viele MotherClouds in den Vereinigten Staaten besuchen wie irgend möglich.

Ich will mich bedanken. Ich kann zwar unmöglich jeder Person, die in einer MotherCloud arbeitet, die Hand schütteln, aber bemühen werde ich mich, verdammt noch mal. Das kommt mir wesentlich angenehmer vor, als zu Hause zu sitzen und auf den Tod zu warten.

Genau wie immer werde ich mit meinem Bus reisen. Fliegen ist bloß was für Vögel. Und habt ihr gesehen, wie viel ein Flug heutzutage kostet?

Das Ganze wird eine Weile dauern, und während die Reise ihren Lauf nimmt, werde ich wahrscheinlich ein bisschen müder werden. Vielleicht sogar ein bisschen deprimiert. Trotz meiner sonnigen Wesensart ist es nämlich schwer, zu erfahren, dass man bald sterben wird, und dann einfach weiterzumachen. Aber ich habe in meinem Leben viel Liebe und Wohlwollen erfahren, weshalb ich tun muss, was ich kann. Sonst würde ich im kommenden Jahr bloß jeden Tag herumhocken und Trübsal blasen, was aber nicht infrage kommt. Da würde Molly mir eher ein Kissen aufs Gesicht pressen, damit es vorüber ist!

Seit ich es erfahren habe, ist etwa eine Woche vergangen, aber indem ich darüber schreibe, wird es wesentlich realer. Jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen.

Nun aber Schluss damit. Ich werde mal die Hunde ausführen. Brauche selbst etwas frische Luft. Falls ihr meinen Bus vorüberfahren seht, winkt ihm doch zu. Wenn jemand das tut, fühle ich mich immer ziemlich gut.

Danke fürs Lesen; ich melde mich bald wieder.

Paxton

Die Massenmigration aus dem indischen Kalkutta setzt sich fort. Hier leben mehr als sechs Millionen Menschen in tief liegenden Gebieten, die in den letzten Jahren unter den Meeresspiegel gesunken sind ...

Das dazugehörige Foto zeigte eine Gruppe Menschen, die in einem provisorisch aus Treibholz zusammengezimmerten Boot hockten. Zwei Männer, eine Frau. Drei Kinder. Bei allen war die Haut straff wie ein Trommelfell. Paxton schloss den Browser seines Handys.

Der Himmel verdunkelte sich. Vielleicht kommt ein Gewitter, dachte Paxton, aber als er sich über die schlafende Zinnia lehnte, um aus dem Fenster zu schauen, war die Luft voller Insekten. Große, schwarze Schwärme, die am Himmel hin und her zogen.

Inzwischen nahm der Verkehr zu – lange waren sie allein durchs Nirgendwo gefahren, aber dann war auf einmal ein fahrerloser Sattelschlepper an ihnen vorübergerast. Das Dröhnen hatte Paxton aus dem Halbschlaf gerissen. Danach wurden sie immer häufiger von Lastwagen überholt, erst alle zehn und dann alle fünf Minuten und jetzt vielleicht alle dreißig Sekunden.

Der Horizont voraus war eine flache Linie, aus der ein einzelner großer Kasten herausragte. Noch zu weit entfernt, als dass man Einzelheiten erkennen konnte. Paxton lehnte sich zurück und griff nach den Broschüren, in denen das Kreditsystem und das Ranking erläutert wurden, die Wohnraumverteilung und die Gesundheitsversorgung. Er hatte alles zwar schon zweimal durchgelesen, aber es war eine Menge Informationen. Sein Blick glitt immer wieder von den Wörtern ab.

Das Einführungsvideo lief in einer Endlosschleife. War offenbar schon vor Jahren aufgenommen worden. Paxton wusste, wie Gibson Wells inzwischen aussah. Der war jetzt praktisch täglich in den Nachrichten, und in dem Video sah er größer aus und hatte mehr Haare auf dem Kopf.

Jetzt würde er bald sterben. Gibson Wells. Das war in etwa so, als würde man erfahren, dass das Grand Central Terminal in New York entfernt werden sollte, indem man es hochhob und wegwarf. Wie würde alles ohne ihn funktionieren? Die Ungeheuerlichkeit der Frage überschattete den Groll, den Paxton hegte.

Ständig musste er daran denken, was Wells am Ende gesagt hatte. Dass er die MotherClouds im ganzen Land aufsuche. Es gab mindestens eine in jedem Staat, und Wells hatte noch ein Jahr zu leben. Wie viele würde er schaffen? Ob Paxton ihm wohl begegnen konnte? Ihn zur Rede stellen? Was würde er zu einem Mann sagen, der dreihundert Milliarden Dollar besaß und meinte, das sei immer noch nicht genug?

Er steckte die Broschüren in seine Reisetasche, holte eine Wasserflasche heraus und drehte knackend den Plastikverschluss auf. Dann griff er wieder zu der einzigen Broschüre, bei der es ihm vor Erwartung eng in der Brust wurde.

Die farbcodierten Tätigkeitsbereiche.

Rot war für die Sammler und Verpacker und damit für den Menschenschwarm, der für den Umschlag der Waren verantwortlich war. Braun für die technische Unterstützung, Gelb für den Kundensupport, Grün für das Küchen- und Reinigungspersonal sowie für verschiedene andere Aufgaben. Weiß war für die Manager, wobei niemand auf dieser Ebene anfing. Außerdem gab es noch andere Farben, die nicht in dem Video vorgekommen waren, zum Beispiel Violett für Lehrer und Orange für das Personal auf dem Drohnenflugplatz.

Eigentlich war Paxton beinahe alles recht, wenngleich er auf Rot hoffte.

Was er fürchtete, war Blau. Das war die Farbe für das Security-Team.

Rot würde bedeuten, dass er ständig auf den Beinen war, aber er war fit genug, das zu schaffen. Außerdem würde es ihm nicht schaden, wenn sein Bauch ein bisschen straffer wurde.

Berufserfahrung hatte er allerdings im Security-Bereich. Nicht von der Ausbildung her, studiert hatte er Ingenieurwesen und Robotik. Aber als er nach dem College keine Stelle gefunden hatte und verzweifelt gewesen war, hatte er auf eine Annonce der Strafanstalt geantwortet und war für die nächsten fünfzehn Jahre dort gelandet. Mit einem Teleskopschlagstock und Pfefferspray ausgerüstet, hatte er jeden Penny gespart, während er daran gearbeitet hatte, seine eigene Firma zu gründen.

Am ersten Tag in der Anstalt hatte er furchtbare Angst gehabt. Er hatte gedacht, an einen Ort zu gelangen, wo alle mit Tattoos bedeckt waren und ihre Zahnbürsten zu Messern schliffen. Was er vorfand, waren einige Tausend wegen geringfügiger Vergehen verurteilte, absolut nicht gewalttätige Männer. Sie hatten Drogen genommen, Strafzettel ignoriert oder irgendwelche Hypotheken- oder Studiendarlehen nicht zurückgezahlt.

Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, den Leuten zu sagen, wo sie sich hinstellen und wann sie wieder in ihre Zellen zurückgehen sollten. Oder dass sie etwas aufheben sollten, was sie auf den Boden geworfen hatten. Es war ihm zuwider. Es war ihm so zuwider, dass er abends manchmal sofort ins Bett ging, wenn er nach Hause kam. Dann vergrub er den Kopf im Kissen und spürte ein tiefes Loch im Bauch, in das sein ganzer Körper hineinstürzte.

Er hatte eine zweiwöchige Kündigungsfrist, aber als er schließlich seine Kündigung einreichte, zuckte sein Vorgesetzter nur die Achseln und sagte, er solle einfach heimgehen. Das war der beste Tag seines Lebens. Er schwor sich, niemals mehr an einem Ort zu arbeiten, wo er von irgendjemand Anordnungen entgegennehmen musste.

Und da saß er nun.

Während der Bus seinem Ziel entgegenraste, blätterte Paxton die Broschüre durch, um noch einmal den Abschnitt über den Security-Apparat zu lesen. Offenbar hatte Cloud ein eigenes Team mit dem Auftrag, die Mitarbeiter zu durchleuchten und aktiv zu werden, wenn die Lebensqualität gefährdet war. Falls sich ein echtes Verbrechen ereignete, nahm es Kontakt zur örtlichen Polizeibehörde auf. Paxton blickte aus dem Fenster auf die weiten, leeren Felder. Was die örtliche Polizeibehörde anging, hatte er gewisse Zweifel.

Als der Bus eine kleine Kuppe erklomm, von der sich ein spektakulärer Blick auf die Umgebung bot, kam der Cloud-Campus in Sicht.

Am Ende der Straße breitete sich eine Gruppe von Gebäuden aus, in deren Mitte eine einzelne Struktur aufragte, so groß, dass man sie nicht in ihrer Gänze erfassen konnte, sondern nur abschnittsweise. Sie war der Ursprung von Drohnen, die in allen Richtungen durch den Himmel summten. Die Paxton zugewandte Seite war fast völlig flach und glatt. Zwischen dem Koloss und den kleineren Bauten, von denen er umgeben war, schlängelten sich Rohrleitungen über den Boden. Die Architektur vermittelte den Eindruck, zugleich kindlich und brutal zu sein. Hastig angeordnet, nachdem sie von einer gleichgültigen Hand vom Himmel geworfen worden war.

Die Frau in dem weißen Poloshirt, die bisher für die Ankündigungen zuständig gewesen war, stand auf und sagte: »Ich bitte um Aufmerksamkeit!«

Zinnia schlief immer noch tief und fest, weshalb Paxton sich zu ihr beugte und sie leise ansprach. Weil sie sich nicht regte, legte er ihr einen Finger auf die Schulter und übte damit einen leichten Druck aus, bis sie aufwachte. Erschrocken und mit wirrem Blick, setzte sie sich auf. Paxton hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid. Es ist so weit.«

Sie sog schnaufend die Luft ein, nickte und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Gedanken hervorlocken.

»Es gibt drei Wohnbauten in der MotherCloud«, sagte die Frau. »Oak, Sequoia und Maple. Bitte hören Sie gut zu, während ich die Liste vorlese.«

Sie begann, eine Reihe von Nachnamen herunterzurattern.

Athelia: Oak.Bronson: Sequoia.Cosentino: Maple.

Paxton wartete auf seinen Namen weiter unten im Alphabet. Schließlich: Oak. Das wiederholte er im Kopf: Oak, Oak, Oak.

Er wandte sich Zinnia zu, die in ihrer Reisetasche herumkramte, ohne zuzuhören.

»Hast du denn schon mitbekommen, wo du wohnst?«, fragte er.

Sie nickte, ohne den Blick zu heben. »In Maple.«

Das ist aber schade, dachte Paxton. Zinnia hatte etwas an sich, was er mochte. Sie schien aufmerksam zu sein. Mitgefühl zu haben. Er hatte nicht erwartet, dass er ihr erzählen würde, was mit dem Perfekten Ei passiert war, aber als er es getan hatte, war der Druck teilweise von ihm gewichen wie Luft, die man aus einem Ballon ließ. Dazu kam, dass sie hübsch war, wenn auch auf recht spezielle Weise. Ihr Hals war glatt und lang, und ihre dünnen Glieder ließen ihn an eine Gazelle denken. Wenn sie lächelte, wölbte sich ihre Oberlippe zu einem übertriebenen Bogen, aber es war ein schönes Lächeln, das er öfter sehen wollte.

Vielleicht lagen Maple und Oak ja nah beieinander?

Ihm kam ein Gedanke. Zuerst meinte er, der wäre ihm ganz plötzlich eingefallen, aber das stimmte nicht ganz. Der Gedanke war mit ihm in den Bus gestiegen und hatte sich bisher lediglich zurückgehalten. Nun würde sich alles ändern, lautete er. Ein neuer Job und zugleich ein neuer Wohnort. Ein wahres Erdbeben in der Landschaft von Paxtons Leben. Er stellte fest, dass er es einerseits kaum erwarten konnte anzukommen und andererseits hoffte, der Bus würde umkehren.

Er sagte sich, dass er nicht lange an diesem Ort bleiben werde. Dass es nur ein Zwischenstopp sei, so wie es auch das Gefängnis hätte sein sollen. Nur dass er sich diesmal daran halten würde.

Der Bus rollte auf das nächste Gebäude zu, einen großen Kasten mit einer weit aufklaffenden Öffnung, in der die Straße verschwand. Im Innern teilte sie sich in mehrere Dutzend Fahrstreifen. Beinahe alle waren mit Sattelschleppern belegt, die unter an der Decke angebrachten Scannern einen bedächtigen, wie choreografiert wirkenden Tanz vollführten. Aus der Gegenrichtung kamen keine Fahrzeuge, also gab es offenbar eine andere Route für die Ausfahrt.

Der Bus bog nach rechts auf eine eigene Fahrspur ab, die ihn von den Lastwagen wegführte, und sauste an ihnen vorüber, bis er mitten in einer Ansammlung von ähnlichen Bussen zum Stehen kam. Die Frau in dem weißen Shirt erhob sich wieder. »Sobald Sie den Bus verlassen haben, erhalten Sie Ihr CloudBand. Die Ausgabe dauert einige Minuten, deshalb können die Leute weiter hinten gern noch sitzen bleiben. Wir haben gleich alle versorgt. Danke und willkommen in der MotherCloud!«

Die Insassen standen auf und griffen nach ihren Reisetaschen. Zinnia blieb sitzen und betrachtete durchs Fenster die Szene draußen. In erster Linie sah man andere Busse, auf deren Dächern die schwarzen Oberflächen der Solarkollektoren im Licht schillerten.

Paxton überlegte, ob er sie zu einem Drink einladen sollte. Es wäre nett gewesen, gleich jemand kennenzulernen. Aber Zinnia war hübsch, vielleicht ein bisschen zu hübsch für ihn, und er wollte sich seinen ersten Tag nicht mit einem Korb verderben. Deshalb stand er einfach auf, nahm seine Tasche und trat zur Seite, damit sie vor ihm hinausgehen konnte.

Neben dem Bus stand ein groß gewachsener Mann in einem weißen Poloshirt, der seine grauen Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden hatte. Begleitet wurde er von einer ebenfalls großen Schwarzen mit einem lila Tuch um den Kopf. Sie hielt eine Schachtel in den Händen. Der Mann stellte den Leuten eine Frage, tippte danach aufs Display seines Tablets, griff dann in die Schachtel und händigte dem Betreffenden etwas aus. Schön nacheinander. Als Paxton an der Reihe war, fragte der Mann ihn nach seinem Namen, sah auf das Tablet und überreichte ihm eine Armbanduhr.

Paxton ging ein paar Schritte vom Gedränge weg, um die Uhr zu untersuchen. Das Armband war dunkelgrau, fast schwarz, und hatte einen Magnetverschluss. Auf der Rückseite befanden sich mehrere Metallscheiben. Als er die Uhr ums Handgelenk legte und den Verschluss zuschnappen ließ, leuchtete das Display auf.

Hallo, Paxton! Legen Sie bitte den Daumen aufs Display.

Anstelle der Botschaft erschien der Umriss eines Fingerabdrucks. Paxton legte den Daumen darauf, und nach einem Augenblick summte die Uhr.

Danke!

Dann:

Sie wurden in Oak einquartiert.

Er folgte der Schlange, die sich gebildet hatte, zu mehreren Körperscannern, die von Männern und Frauen mit blauen Poloshirts und ebenfalls blauen Latexhandschuhen betreut wurden. Einer der Männer in Blau rief: »Keine Waffen!«, während die Neuankömmlinge einer nach dem anderen ihre Sachen auf Gepäckscanner stellten, dann unter den Körperscanner traten und die Arme in die Luft hoben. Das Gerät drehte sich einmal um sie herum, bevor sie es wieder verlassen konnten und ihr Gepäck zurückbekamen.

Hinter den Scannern kam man zu einer mit Schleusen gesicherten Plattform vor einem Schienenstrang. An jeder Schleuse war eine kleine, schwarz glänzende Scheibe mit einem weißen Lichtrand angebracht. Wenn man die Uhr vor die Scheibe hielt, wurde das Licht grün, und die Schleuse gab ein angenehm tröstliches Geräusch von sich. Ein warmes kleines Klingelgeräusch, das zu sagen schien, dass alles gut werde.Paxton schaffte es auf den Bahnsteig, sah Zinnia und stellte sich neben sie. Er beobachtete, wie sie an ihrer neuen Uhr herumfummelte und mit den Fingern darüberstrich.

»Trägst du nicht gern Uhren?«, fragte er.

»Hm?« Sie sah auf und kniff die Augen zusammen, als hätte sie vergessen, wer er war.

»’tschuldigung. War bloß eine Beobachtung. Sieht aus, als würdest du das Ding da nicht gern tragen.«

Zinnia streckte den Arm aus. »Es ist ganz leicht. Man spürt es kaum.«

»Das ist doch gut, oder? Wenn wir es den ganzen Tag tragen müssen, meine ich.«

Sie nickte, während eine stromlinienförmige Bahn einfuhr. Es war ein einzelner Wagen, der lautlos auf Magnetschienen lief und so sanft zum Stehen kam wie ein zu Boden sinkendes Blatt. Die Wartenden stiegen ein und quetschten sich in den engen Raum. Es gab eine Reihe von gelben Stangen zum Festhalten und einige Behindertensitze, die man herunterklappen konnte, aber das tat niemand.

Paxton wurde im Gedränge von Zinnia getrennt, und als alle drin waren und die Türen zugingen, befand sie sich an der anderen Seite des Wagens. Alle standen Schulter an Schulter. Die Körper, die sich an Paxton pressten, rochen nach Schweiß, Aftershave und Parfüm, eine pestilenzialische Mischung in der Enge. Er hätte sich in den Hintern treten können, weil er nichts mit Zinnia vereinbart hatte. Jetzt hatte er den Eindruck, dass es zu spät war.

Die Bahn sauste durch dunkle Tunnel, bevor sie schließlich ins Sonnenlicht schoss. Es kamen einige scharfe Kurven, bei denen die Insassen fast den Halt verloren.

Als die Bahn langsamer wurde, flackerten die getönten Fenster auf. In gespenstisch weißen Lettern erschien das Wort OAK vor den Strukturen draußen. Eine kühle Männerstimme kündigte die Station an.

Während Paxton den Aussteigenden folgte, winkte er Zinnia kurz zu und rief: »Sehen wir uns mal?« Das hörte sich fragender an, als ihm lieb war – er hätte verwegener klingen wollen –, aber Zinnia lächelte und nickte.

Gleich neben den Schienen befand sich ein gefliester, tiefergelegter Vorplatz mit drei Rolltreppen, die an beiden Seiten von Stufen flankiert waren. Eine funktionierte nicht; rund um den Einstieg hatte man wie eine Reihe Zähne orangefarbene Kegel aufgestellt. Die meisten Leute entschieden sich für eine von den anderen beiden Rolltreppen, aber Paxton hängte sich seine Reisetasche über die Schulter und nahm tapfer die Stufen. Oben gelangte er in einen schmucklosen Raum aus Sichtbeton mit mehreren Aufzügen. An einer der Wände war ein großer Bildschirm angebracht, auf dem das Video aus dem Bus lief.

Die Mutter klebte ihrem Sohn gerade das Pflaster aufs Knie, als es an Paxtons Handgelenk summte.

10. Etage, Apartment D.

Effizient war das Ding ja. Er betrat einen Aufzug und stellte fest, dass es darin keinerlei Tasten gab, nur wieder eine von einem Lichtkreis umgebene Scheibe. Wenn man das Handgelenk davorhielt, leuchtete auf der gläsernen Oberfläche eine Etagennummer auf. Bei Paxton war es die 10.

Er war der Einzige, der im zehnten Stock ausstieg. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, staunte er über die Stille, die im Flur herrschte. Angenehm nach dem stundenlangen Reden, dem Video, dem Bus, der Fahrt und der aufgezwungenen Nähe zu Fremden. Die Wände waren aus weiß getünchten Betonsteinen errichtet, die Türen waldgrün lackiert. Ein kleines Schild zeigte die Richtung zu den Toiletten und den Apartments an. Das Alphabet begann offenbar am anderen Ende des Flurs, was eine lange Wanderung über das Linoleum bedeutete. Paxtons Schuhsohlen quietschten auf der spiegelnden Oberfläche.

An der mit D gekennzeichneten Tür hielt er das Handgelenk neben den Knauf, worauf es klickte. Er drückte die Tür auf.

Der Raum sah eher wie ein enger Korridor als wie ein Apartment aus. Der Boden war mit demselben Material wie im Flur belegt, die Wände wiederum aus weiß getünchten Betonsteinen aufgeschichtet. Gleich rechts kam die Küche, bestehend aus einer Arbeitsfläche mit einer in die Wand eingelassenen Mikrowelle, einem kleinen Waschbecken und einer Kochplatte. Als er das Einbauschränkchen daneben öffnete, fand er billiges Kunststoffgeschirr vor. Auf der anderen Seite waren Schiebetüren, hinter denen sich ein langer, flacher Kleiderschrank befand.

Gleich hinter dem Schrank war eine Pritsche in die linke Wand eingebaut. Darunter sah man die Türen weiterer kleiner Schränke. Die Matratze war mit einem glatten, plastikähnlichen Material bezogen, als wäre sie für ein Kind gedacht, das noch ins Bett machte. An der Kante der Pritsche wies eine Notiz darauf hin, dass man sie zum Schlafen herausziehen konnte.

An der Wand gegenüber dem Bett war ein Fernseher befestigt, darunter stand ein schmaler Couchtisch, kaum groß genug für eine Tasse Kaffee. Den Abschluss des Raums bildete ein Fenster aus undurchsichtigem Glas, durch das trübes Sonnenlicht hereinfiel. Es konnte mit einer Jalousie abgedunkelt werden.

Paxton setzte seine Reisetasche neben einem Stapel Bettzeug und einem schlaffen Kissen ab. Wenn er sich neben das Bett stellte und die Arme ausbreitete, konnte er mit den Fingerspitzen beinahe beide Wände berühren.

Kein Bad. Er erinnerte sich an die Schilder im Flur und seufzte. Etagenbäder. Wie damals im College. Wenigstens hatte er keinen Mitbewohner.

An seinem Handgelenk summte es.

Schalten Sie den Fernseher ein!

Er sah eine Fernbedienung auf der Matratze liegen, setzte sich und schaltete den Fernseher ein, der so hoch angebracht war, dass er den Hals recken musste.

Eine kleine Frau in einem weißen Poloshirt stand mit strahlendem Lächeln in einem Zimmer, das dem von Paxton ähnelte.

»Hallo!«, sagte sie. »Willkommen in Ihrer ersten Unterkunft. Wie Sie bestimmt aus der Lektüre Ihrer Wohnbroschüre wissen, ist eine Höherstufung möglich, aber vorläufig sind Sie hier untergebracht. Wir haben Sie mit ein paar Basics ausgestattet, und Sie können einen Ausflug zu den Shops machen, um sich alles zu besorgen, was Sie sonst noch brauchen. In Ihrer ersten Woche in der MotherCloud sind Sie zu zehn Prozent Rabatt auf alle Wohn- und Wellnessartikel berechtigt. Anschließend bekommen Sie fünf Prozent Rabatt auf alles, was Sie über die Cloud-Website kaufen. Badezimmer und Toiletten finden Sie am Ende des Flurs – getrennt für Männer und für Frauen sowie geschlechtsneutral. Falls Sie etwas brauchen, kontaktieren Sie bitte Ihren Wohnbetreuer in Apartment R. Stellen Sie jetzt Ihre Sachen ab, und machen Sie einen Spaziergang, um sich mit Ihrer Cloud-Familie bekannt zu machen. Aber zuerst sollten Sie einen Blick auf Ihr Bett werfen.« Sie klatschte in die Hände. »Dort warten nämlich die Ihnen zugewiesene Aufgabe – und ein Shirt – auf Sie.«

Der Bildschirm wurde schwarz.

Paxton betrachtete die Pappschachtel, die auf der Matratze stand. Bisher hatte er sie gar nicht bemerkt, obwohl sie ganz offensichtlich vorhanden war. Er hatte sie nicht bemerkt, weil er sie nicht hatte sehen wollen.

Rot. Sei rot, bitte!

Oder irgendwas anderes außer blau.

Er griff nach der Schachtel und stellte sie sich auf den Schoß. Dachte ans Gefängnis. Kurz nachdem er dort eingestellt worden war, hatte er einen Bericht über das Stanford-Prison-Experiment gelesen. Dabei hatten Wissenschaftler mit mehreren Versuchspersonen ein Rollenspiel veranstaltet, in dem die einen Gefangene, die anderen Wärter darstellten. Obwohl es sich um ganz normale Leute handelte, nahm jeder seine Rolle so ernst, dass sich die »Wärter« autoritär und grausam verhielten, während die »Gefangenen« sich Regeln unterwarfen, zu deren Befolgung sie eigentlich keinen Grund hatten. Das hatte Paxton auf mehreren Ebenen fasziniert, nicht zuletzt deshalb, weil er sich trotz seiner Uniform immer wie einer von den Häftlingen fühlte. Seine Autorität war wie ein zu großer Schuh, der ihm den Fuß wund rieb und herunterzupoltern drohte, wenn er einen zu großen Schritt machte.

Als er die Schachtel aufriss, fand er natürlich drei blaue Poloshirts vor.

Sie waren aus glattem Stoff wie bei Sportbekleidung und säuberlich gefaltet.

Lange saß er da und starrte die Shirts an, bevor er sie an die Wand warf, sich rückwärts aufs Bett sinken ließ und an die grobe Struktur der Decke starrte.

Er überlegte, ob er das Zimmer verlassen und rausgehen sollte, irgendwohin, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen. Deshalb griff er nach den Broschüren, die er im Bus bekommen hatte, und studierte noch einmal die Lohnstruktur. Je schneller er hier wieder herauskam, desto besser.

Zinnia

Zinnia fuhr mit dem Zeigefinger über das Display der Uhr. So glatt, dass es schlüpfrig war. Als sie das Band anlegte, schnappte der Magnetverschluss über der dünnen Haut an der Innenseite ihres Handgelenks zu.

Nachts aufladen. Sonst nicht abnehmen, weil es Gesundheitsdaten aufzeichnete, Türen öffnete, dein Rating registrierte, Arbeitsaufgaben übermittelte, Transaktionen abwickelte und wahrscheinlich noch hundert andere Dinge tat, die man in der MotherCloud brauchte.

Genauso gut hätte man Handschellen tragen können.

Im Kopf wiederholte sie den Abschnitt aus der Anleitung, der ihren Blutdruck spürbar hatte steigen lassen.

Außerhalb Ihrer Wohnung muss das CloudBand zu jeder Zeit getragen werden. Es ist auf Sie codiert. Aufgrund der sensiblen Informationen, die auf jedem CloudBand gespeichert sind, wird im Sicherheitssystem von Cloud ein Alarm ausgelöst – für Sie auch hörbar –, wenn es zu lange abgelegt wird oder jemand anderes Ihr Band tragen sollte.

Sie warf einen Blick auf die Tür. An der Innenseite war eine Scheibe angebracht – selbst wenn man rauswollte, musste man das Band davorhalten. Wahrscheinlich sollte das dafür sorgen, dass man nicht ohne das Ding aus der Wohnung ging, da es als Schlüssel für alles diente, vom Aufzug über die Wohnungstür bis zu den Sanitäranlagen.

Aber bestimmt ging es nicht nur darum, ob man es trug oder nicht – es registrierte, wo man sich gerade aufhielt. Wenn man den falschen Bereich betrat, leuchtete wahrscheinlich in einem abgedunkelten Raum ein Punkt auf einem Bildschirm auf und alarmierte irgendjemand, der davorsaß.

Sie betrachtete die roten Poloshirts, die sie aus der Schachtel auf ihrem Bett geholt hatte, und ärgerte sich wieder darüber, dass sie nicht braun gewesen waren.

Natürlich hatte sie über die Uhren Bescheid gewusst. Aber sie hatte gedacht, dass sie den Auswahlalgorithmus von Cloud durchschaut hätte. Entsprechend hatte sie ihre Antworten und ihren Lebenslauf darauf hin ausgerichtet, dem technischen Team zugeteilt zu werden. Dann hätte sie ausreichend Zugang zu allem gehabt, was sie brauchte.

Jetzt war das weniger der Fall.

Damit blieben ihr drei Optionen:

Erstens konnte sie die Uhr so manipulieren, dass ihr Aufenthaltsort nicht korrekt angezeigt wurde. Das war nicht unmöglich, aber begeistert war sie nicht davon. Sie war zwar gut in so was, aber eventuell nicht gut genug.Zweitens konnte sie eine Möglichkeit finden, sich ohne die Uhr durch die Gegend zu schleichen. Allerdings wäre sie dann nicht in der Lage, irgendwelche Türen zu öffnen. Sie könnte nicht einmal aus ihrer Wohnung gelangen.Drittens konnte sie beantragen, dem Wartungs- oder dem Security-Team zugewiesen zu werden. Dort hatte man den besten Zugang zu allen Bereichen. Sie hatte jedoch keine Ahnung, ob ein derartiger Antrag überhaupt möglich war.

Was bedeutete, dass ihr Auftrag sich wesentlich schwieriger gestalten würde als erwartet.

Wieso sollte sie also nicht gleich anfangen, indem sie die Überwachungsmaßnahmen auf die Probe stellte?

Sie kniete sich vor die Scheibe an der Innenseite der Tür und strich mit den Fingern darüber. Überlegte, ob sie das Ding herunterreißen sollte, aber dann wurde wahrscheinlich ein Alarm ausgelöst. Deshalb hielt sie die Uhr davor, um die Tür zu öffnen, und stellte den Fuß in den Spalt, während sie sich zu dem Ladegerät für das CloudBand hinüberbeugte. Sie legte das Band auf die Matte und trat in den Flur.

Einen Moment lang hielt sie inne, bis ihr klar wurde, dass es einen merkwürdigen Eindruck vermittelte, einfach bloß dazustehen. Deshalb machte sie sich auf den Weg zu den Sanitäranlagen. Als sie gerade dort angekommen war, trat ein Fleischkloß in einem blauen Poloshirt und mit Tribal-Tattoos auf den Unterarmen aus dem Aufzug. In sicherem Abstand zu ihr blieb er stehen und hob die Hände zu einer Geste, die nur die Ruhe ausdrückte. Offenbar war ihm klar, dass sein Erscheinungsbild andere Leute nervös machte.

»Miss?«, sagte er mit einer etwas dämlich klingenden Stimme. »Ohne Ihr CloudBand dürfen Sie Ihre Wohnung nicht verlassen.«

»Tut mir leid. Ist mein erster Tag hier.«

Er setzte ein verständnisvolles Lächeln auf. »Kann passieren. Dann will ich Sie mal wieder in Ihre Wohnung lassen, sonst sind Sie nämlich ausgesperrt.«

Sie ließ sich von ihm durch den Flur geleiten, wobei er respektvoll Abstand zu ihr hielt. Bei ihrer Wohnung angekommen, legte er kurz seine Uhr an die Scheibe, die daraufhin grün aufleuchtete. Anschließend trat er von der Tür zurück, als würde ein wilder Tiger dahinter lauern. Richtig süß war das.

»Danke«, sagte sie.

»Kein Problem, Miss«, sagte er.

Sie sah zu, wie er den Flur entlangschlurfte, bevor sie wieder in ihre Wohnung trat. Sie nahm ihren Schminkbeutel zur Hand und kramte nach dem roten Lippenstift, den sie noch nie verwendet hatte. Schraubte den unteren Teil ab und zog einen Funkfrequenzdetektor heraus, etwa so groß wie ihr Daumen. Als sie die Taste an der Seite drückte, blinkte das grüne Licht auf, das unter anderem die volle Ladung anzeigte.

Sie führte das Gerät über jede Oberfläche im Raum. Vor dem Fernseher und der Deckenlampe wurde das Licht rot, was sie erwartet hatte, aber nirgendwo sonst. In den Belüftungsschlitzen und den Schränken war also nichts angebracht.

Als Nächstes öffnete sie die Tür und führte den Detektor am Rahmen entlang. Vor dem Schließblech wurde das Licht rot. Da war etwas, verborgen von dem dünnen Metall des Rahmens. Ein Thermalscanner? Ein Bewegungsdetektor? Sie nahm ihr CloudBand vom Ladegerät und legte es an. Überprüfte erneut die Tür. Kein rotes Licht. Legte das CloudBand auf das Ladegerät. Rotes Licht.

Das war es. Man konnte mit Fug und Recht annehmen, dass die Tür das Problem war. Irgendein Sensor darin konnte feststellen, wenn sie den Raum verließ, ohne die Uhr zu tragen. Wenn sie einen anderen Ausgang entdeckte, war das Problem gelöst.

Womit sie beauftragt war, wurde offiziell als Konkurrenzanalyse oder Wettbewerbsbeobachtung bezeichnet. Die romantische Bezeichnung dafür lautete Wirtschaftsspionage. Sie drang in die ausgebufftesten Sicherheitssysteme der diskretesten Unternehmen ein, um sich mit deren bestgehüteten Geheimnissen davonzumachen.

Und sie war gut darin.

Mit Cloud hatte sie allerdings noch nie zu tun gehabt. Hätte nicht mal gedacht, dass es je dazu kommen würde. Das war, als wollte man den Mount Everest erklimmen. So wie die Dinge gerade lagen, war es aber eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen. Cloud saugte andere Unternehmen so schnell auf, dass bald niemand mehr übrig sein würde, der jemand anderes ausspionieren musste. Früher hatte sie alle paar Monate einen Auftrag an Land gezogen, was mehr als ausreichend gewesen war. In letzter Zeit hatte sie Glück, wenn sie einmal im Jahr zum Zuge kam.

Als sie den Auftrag angenommen hatte, hatte sie gemeint, es gebe nicht viel herauszufinden. Wahrscheinlich hatte sich jemand verrechnet, hatte sie gedacht. Dann aber hatte sie die Satellitenaufnahmen studiert. Die Gesamtfläche der Solaranlagen. Die Details der Sonnenkollektoren. Die Anzahl und die Leistung der Windturbinen. Da wurde ihr klar, dass ihre mysteriösen Auftraggeber recht hatten: Es war praktisch unmöglich, dass Cloud aus eigenen Mitteln die Energiemenge produzieren konnte, die zum Betrieb der Anlage nötig war.

Zu den Gründen, weshalb Cloud Steuerfreiheit genoss, gehörten die Öko-Initiativen des Unternehmens. Es hatte von der Regierung festgelegte Energienormen erfüllen müssen, um seinen Status zu erringen. Wenn da also etwas faul war, wenn die Infrastruktur vor Ort nicht für die nötige Energieerzeugung ausreichte, dann verwendete Cloud noch andere Quellen. Wahrscheinlich solche, die nicht grün waren. Was bedeutete, dass Millionen auf dem Spiel standen, wenn nicht gar Milliarden.

Aber wem nutzte das, was sie herausbekommen sollte? Nicht dass sie das wissen musste, um ihren Auftrag zu erfüllen. Dennoch juckte die Frage sie immer wieder. Es konnte sich um Journalisten oder jene kritischen Organisationen handeln, von denen Cloud ständig an den Pranger gestellt wurde, unter anderem aufgrund der Arbeitsbedingungen und des Monopols im Internethandel. Die Nachrichtenmedien versuchten schon seit Jahren, Undercoverreporter einzuschleusen, aber die waren immer durch die Testalgorithmen aussortiert worden. Zinnia hatte einen ganzen Monat gebraucht, sich eine falsche berufliche Laufbahn zurechtzulegen, die so fundiert war, dass sie damit die Prüfung bestehen konnte.

Wahrscheinlich stammte ihr Auftrag allerdings von einer der großen Einzelhandelsketten, die Cloud ein bisschen zurechtstutzen wollte. Um den Marktanteil, den sie nach den Massakern am Black Friday verloren hatte, wenigstens teilweise wiederzugewinnen.

Die Fakten sahen so aus: Um eine Anlage von dieser Größe und mit so viel Personal zu betreiben, brauchte man etwa fünfzig Megawatt. Die Leistung der Solar- und Windanlagen betrug jedoch fünfzehn oder höchstens zwanzig Megawatt, und Zinnia hatte den Auftrag herauszubekommen, was da nicht stimmte. Dazu musste sie in die Infrastruktur eindringen. Sie hatte ein paar Monate dafür Zeit, und bis dahin war sie auf sich allein gestellt. Keinerlei Kommunikation mit ihren Auftraggebern, nicht einmal über die verschlüsselte App auf ihrem Handy. Schließlich hatte sie keine Ahnung, über welche Möglichkeiten Cloud verfügte.

Hören


» ... sobald du mit der Arbeit anfängst, wird da deine Leistung registriert. Grün heißt, dass du das Soll erfüllst. Wenn du hinterherhinkst, wird die Linie gelb, und sobald sie rot wird, stürzt dein Ranking ab.«

Begleite Zinnia durch ihren ihren ersten Arbeitstag in den Lagerhallen der Cloud – aber schnell, die Zeiterfassung läuft!

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Als Hörbuch gelesen von Frank Arnold, Anna Carlsson, Simon Jäger und Janin Stenzel

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Rob Hart

Rob Hart hat als politischer Journalist, als Kommunikationsmanager für Politiker und im öffentlichen Dienst der Stadt New York gearbeitet. Er ist Autor einer Krimiserie und hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. »Der Store« ist sein erster großer Unterhaltungsroman. Derzeit ist er Verleger von MysteriousPress unter dem Dach von The Mysterious Bookshop in Manhattan. Rob Hart lebt mit Frau und Tochter auf Staten Island.

Rob Hart über seinen neuen Roman »Der Store«