Der Politthriller aus einem Deutschland der nahen Zukunft

Sie sind desillusioniert und pragmatisch. Wohl gerade deshalb haben sie sich ‎erfolgreich in der Gesellschaft eingerichtet: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi. Sie haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist und sie wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, "Die Brücke", die sie beide reich gemacht hat. Was hinter der "Brücke" steckt, weiß zum Glück niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod.

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Während Britta an einer Fahrradampel wartet, liest sie die Schlagzeilen auf den Displays, die an den Masten des Verkehrsleitsystems hängen.
Schönes Wetter hält an – Fünftes Effizienpaket auf dem Weg in den Reichstag – Dinkel-Sesam-Stück wird Brot des Jahres – Regula Freyer auf Besuch in China.

Botschaften aus einer fremden Welt. Braunschweig passt so gut zu Britta, weil man hier irgendwie unter dem Radar fliegt. Gut durchdachte Mittelmäßigkeit, unauffälliges Durchwurschteln. Britta will eine friedliche Existenz für sich und ihre Familie, sie will ihre Arbeit machen, Verantwortung tragen, aber nur für Dinge, die sie anfassen kann. Warum sollte sie sich für den Rest zuständig fühlen? Auch wenn Knut nervt, hat er in einem Punkt recht: Heutzutage weiß tatsächlich keiner mehr, wofür oder wogegen er sein soll. Natürlich bauen die Besorgten Bürger eine demokratische Errungenschaft nach der anderen ab. Aber trotzdem geht es den Menschen gut, vielleicht sogar besser als früher. Bei Trumps Amtsantritt sprach man vom Untergang des Abendlands, und dann hat er nach seiner Verbrüderung mit Putin ganz nebenbei den Syrienkrieg beendet. Der amerikanische Isolationismus hat die israelische Siedlungspolitik gestoppt und damit quasi versehentlich Zwei-Staaten-Lösung und Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina herbeigeführt.
Der Wirtschaftskrieg zwischen Europa und den USA hat den Nahen Osten in einen lukrativen Absatzmarkt für amerikanische Produkte verwandelt, was die ganze Region aufblühen lässt. Auf einmal ist der islamistische Terror kein globales Problem mehr und Daesh vom Schreckgespenst der westlichen Welt auf eine Handvoll dekadenter Warlords geschrumpft. Inzwischen haben die Leute das politische Spekulieren aufgegeben. Sie leben ihr Leben und stecken den Kopf in den Sand, weil sie damit in einer Welt, in der man jemanden wie Trump nicht einfach scheiße finden kann, nichts Besseres anzufangen wissen.

Britta macht sich nichts vor. Sie glaubt nicht, die Entwicklungen zu verstehen, und versucht nicht, etwas besser zu wissen. Sie wohnt in einem sauberen Haus in einer sauberen Stadt und führt ein sauberes Unternehmen. Das ist ihr Beitrag. Vor langer Zeit, noch vor Gründung der Brücke, hat sie einmal einen Satz gelesen, der sich ihr eingeprägt hat: Moral ist Pflicht für die Schwachen, die Starken beherrschen die Kür.

Als sie sich dem Hauptbahnhof nähert, beginnt ihr Herz wieder schneller zu schlagen. Seit gestern Abend unterdrückt sie den Wunsch, ihr Smartphone herauszuholen und nach weiteren Informationen zu suchen.
Stattdessen hat sie sich beim Frühstück die Braunschweiger Zeitung gegriffen, die in kleiner Auflage noch immer für nostalgische Ironiker wie Richard gedruckt wird, und auf Seite drei eine knappe Meldung über die Vorgänge in Leipzig gefunden, kurz vor Redaktionsschluss ins Blatt geklemmt. Das Foto kannte sie bereits aus den Nachrichten: schwarze Uniformen in einer Halle, ein länglicher Schatten am Boden. Der Text erzählte genauso wenig wie das Bild. Zwei mutmaßliche Terroristen waren am vergangenen Abend ins Frachtterminal des Leipziger Flughafens eingedrungen, wobei sie eine Substanz mit sich führten, bei der es sich vermutlich um Sprengstoff handelte. Aufgrund eines anonymen Hinweises konnten die Sicherheitsbehörde zugreifen und das Schlimmste verhindern.
Ein Täter wurde erschossen, der andere befindet sich in Untersuchungshaft. Innenministerin Wagenknecht sagte dazu, Deutschland befinde sich nach wie vor im Visier der Terroristen, es gebe Anlass zu erhöhter Wachsamkeit, aber nicht zur Panik. Man tue weiterhin alles, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Ein Beispiel dafür seien die erweiterten Kompetenzen für Polizei und Geheimdienste, die neben der Föderalismusreform im fünften Effizienzpaket enthalten seien.
(…)
Zwischen den Blöcken liegt eine Passage, eine Ansammlung flacher Gebäude, grau und unscheinbar, wie geschaffen für schlecht laufende Gewerbe aller Art. Britta schiebt ihr Fahrrad in einen Ständer und öffnet eine Tür, auf der ihr eigener Name klebt: »Die Brücke, Britta Söldner und Babak Hamwi«. Darunter in kleinerer Schrift: »Heilpraxis für Psychotherapie und angewandte Tiefenpsychologie, Self-Managing, Life-Coaching, Ego-Polishing« und ein paar weitere Begriffe, die mit dem, was sie wirklich macht, nicht viel zu tun haben. Im Dentallabor gegenüber sitzt ein blondes Pferdeschwanzmädchen am Empfang, grüßt nicht, regt sich nicht, starrt auf seinen Bildschirm. Britta fragt sich jeden Morgen, ob die Kleine echt ist. Drinnen riecht es nach Kaffee; von Babak keine Spur.

Wegen der umstehenden Hochhäuser ist es düster in der Praxis, wie immer brennt die Deckenbeleuchtung, trübes Neonlicht aus quadratischen Kästen, das Tages- und Jahreszeit auf grell-depressive Weise überstrahlt. Für eine Heilpraxis sind die Räume der Brücke denkbar ungeeignet, die Schaufenster zu groß, die Atmosphäre zu trüb, ein Tattoo-Studio hätte besser hierher gepasst, ein Hunde-Salon oder der nächste Humana-Second-Hand. Auf dem Boden liegt bräunlicher Teppich, die Empfangstheke haben sie von den Vorbesitzern übernommen, obwohl sie dafür keine Verwendung haben. Darüber hinaus gibt es eine Sitzgruppe, in der Britta Erstgespräche mit neuen Kandidaten führt, sowie einen großen Arbeitstisch, den nur Babak benutzt. Alles ist abgewetzt, aber klinisch rein; immerhin ist es Britta, die hier eigenhändig für Sauberkeit sorgt. Die wenig einladende Atmosphäre ist Absicht; kein Laufkunde soll dazu verleitet werden, die Räume zu betreten. (…)

Im Untergeschoss rumort es. Wie alle Gewerbeeinheiten in der Kurt-Schumacher-Passage verfügt die Praxis über eine tiefer gelegene Ebene, fensterlose, gekachelte Räume, auf Höhe der unten vorbeibrausenden Schnellstraße gelegen. Dort gibt es Kaffeeküche, Toiletten, einen gekachelten Mehrzweckbereich sowie den gut gesicherten Serverraum, in dem Babak den größten Teil seiner Arbeitszeit verbringt.
Jetzt kommt er mit großen Schritten die Wendeltreppe herauf, einem Stapel Unterlagen in Händen, die er auf den Couchtisch fallen lässt. Während er nachdenklich darauf blickt, wischt er sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie kennen einander so gut, dass sie das »Hallo« vergessen. Auch wenn sie sich täglich ein paar Stunden nicht sehen, haben sie niemals den Eindruck, getrennt zu sein. Als sie sich vor zwölf Jahren kennen lernten, war Babak fett, schwul, nerdig und aus dem Irak. Heute ist er nicht mehr fett, und für die anderen Dinge schämt er sich nicht mehr. Seiner Meinung nach hat Britta ihm das Leben gerettet, weshalb er sie vergöttert wie eine große Schwester. Wenn er aufgeregt ist, so wie heute, dann nicht, weil ihn die Ereignisse verwirren, sondern weil er sich Sorgen um Brittas Gemütszustand macht.(…)

Als sie eine Weile nichts sagen, drängt sich ein Geräusch in den Vordergrund, das Britta bislang nur unbewusst wahrgenommen hat. Ein elektrisches Brummen, begleitet vom Surren eines großen Ventilators.
Es steigt aus der Öffnung der Wendeltreppe, es scheint Fußboden und Möbel zum Schwingen zu bringen, es erfüllt den gesamten Raum, vertraut und beruhigend, es ist das Betriebsgeräusch ihrer gemeinsamen Existenz.
»Läuft Lassie?«, fragt Britta.
»Schon die ganze Nacht.«
»Wann gibt’s Ergebnisse?«
»Jeden Moment.«
Britta blättert in ihrem Dossier. Sie hat auf mehr Fotos gehofft. Die zwei vorhandenen sind stark vergrößert, ein bisschen verwaschen, wenig aussagekräftig. Trotzdem kommt Britta einer der beiden Männer bekannt vor.
Babak zeigt die Handflächen. »Bessere Bilder könnte ich nicht finden. Man sieht die Gürtel, kann aber nicht erkennen, wie sie gepackt sind.«
»TATP?«
Wieder zuckt Babak die Achseln.
»Was sagen die Einkaufszettel?«, fragt Britta.
»Scheibletten und Zahnseide. Keiner der beiden hat etwas Relevantes gekauft.«
»Aceton und Wasserstoffperoxid gibt es in jeder Drogerie.«
»Meistens entstehen im Vorfeld trotzdem Suchbewegungen.«
»Der Tote war doch Chemiker.«
»Gürtelbau ist nicht Teil der Fachausbildung. Mit Elektrotechnik sollte man sich auch ein bisschen auskennen.«
»Könnten sie das System aus dem Ausland mitgebracht haben?«
»Sie waren nicht im Ausland. Außerdem ist TATP viel zu explosiv, um es über weite Strecken zu transportieren.«
»Oder sie haben selbst irgendeinen Mist zusammengemischt. Schließlich ist nichts hochgegangen.«
»Ich denke, der Zugriff erfolgte, bevor sie am Zielort waren. Die sind gar nicht dazu gekommen, ernst zu machen.«
»Babak, du nervst.«
»Tut mir leid, Britta, ich weiß, was du hören willst.«
»Aber du willst es nicht sagen.«
»Wir sind hier nur am Spekulieren.«
»Du glaubst nicht, dass es Einzeltäter waren. Du glaubst, sie hatten Hilfe. Sie wurden geschickt.«
Bevor Babak antworten kann, beginnt der Printer im Untergeschoss zu surren.
»Lassie liefert.«
Britta zwingt sich, sitzen zu bleiben, während Babak die Treppe hinunter läuft, um den Ausdruck zu holen. Als er wiederkommt, erhebt sie sich doch, so dass sie voreinander stehen wie bei einer Zufallsbegegnung, er mit einer einzelnen Seite in der Hand, sie mit einem Fragezeichen im Gesicht. Babak hebt das Blatt.
»Markus: 2,5. Andreas: 2,8.«
»Sag das noch mal.«
»2,5 und 2,8.«
Britta spürt, wie sie blass wird. Sie könnte nicht sagen, ob sie schwitzt oder friert. Babaks Blick wirkt starr, als hätte sich das Gehirn dahinter abgeschaltet.
Der Moment geht vorbei, sie schauen sich an. Es ist Babak, der schließlich die Sprache wiederfindet.
»Lassie meint, die wollten sich gar nicht umbringen.«

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Juli Zeh

Über Juli Zeh

© Thomas Müller

Juli Zeh wurde 1974 in Bonn geboren und studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg. Ihre Romane sind inzwischen in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman "Unterleuten" (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015).