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SPECIAL zu David Landes »Wohlstand und Armut der Nationen«

Kultur macht den Unterschied

David Landes, „Wohlstand und Armut der Nationen“

Wenn ein Jahrtausend zu Ende geht, liegt es Nahe, Rückschau zu halten. Das war auch am Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts der Fall. Auf dem Feld der Wirtschaftsgeschichte schien niemand berufener, die Bilanz eines Millenniums zu ziehen, als David S. Landes. Schon 1969 hatte der Professor für Geschichte und Wirtschaftswissenschaften der Harvard University mit dem „Entfesselten Prometheus“ eine monumentale Historiografie der industriellen Revolution vorgelegt. Seien Untersuchung gilt bis heute als Standardwerk.
Knapp 30 Jahre später kulminierte das Lebenswerk des inzwischen emeritierten Universitätsgelehrten in einem Buch, das im Rückblick auf das zweite nachchristliche Jahrtausend nichts weniger zu leisten versuchte, als eine Antwort auf die Frage zu finden, warum einige Nationen reich und andere arm sind. Diese Weltgeschichte der Ökonomie, die Landes 1998 unter dem Titel „Wohlstand und Armut der Nationen“ vorlegte, war lange Zeit vergriffen und ist jetzt endlich wieder als deutsche Taschenbuchausgabe erhältlich.

Abhängigkeit und Modernisierung

Für Kontroversen sorgt Landes' Werk bis heute nicht nur wegen der herkulischen Aufgabenstellung. Er bezieht darin mit Verve und Polemik, vor allem aber mit einer souverän beherrschten und elegant präsentierten Fülle an Detailwissen eine Position, die in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Diskussion um globale wirtschaftliche Gerechtigkeit fast obsolet geworden war.
Die sogenannten Dependenztheorien erklären die gewaltige Kluft in der weltweiten Verteilung von Armut und Reichtum vor allem als eine Folge des Kolonialismus, der bis in die Gegenwart nachwirkt und eine systematische Abhängigkeit der Entwicklungsländer in den Handelsbeziehungen mit den hoch technisierten westlichen Staaten bedingt.
Landes dagegen gilt als einer der führenden Vertreter der Modernisierungstheorie. Sie besagt, dass die Gründe für die unterschiedliche ökonomische Entwicklung von Nationen nicht in deren Beziehungen untereinander zu suchen sind, sondern in ihren inneren Verfassungen. Gemeint sind damit neben geografischen, klimatischen und politischen Besonderheiten vor allem kulturelle Eigenheiten im Sinne von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen.

Eurozentrismus und Europhobie

Landes hat diese Position den Vorwurf des Eurozentrismus eingebracht, gegen den er sich nicht einfach nur verteidigt. Er heftet ihn sich vielmehr wie eine Auszeichnung ans Revers. „Die treibende Kraft des über tausendjährigen Prozesses, den die meisten Menschen als Fortschrittsprozess verstehen, war bis vor kurzem die westliche Zivilisation mit ihren Errungenschaften: dem Erkenntnisstand, den technischen Fertigkeiten, den politischen und gesellschaftlichen Ideologien, gleich welcher Couleur.“ Und er geht zum Gegenangriff über. „Europhobie“ nennt er eine Haltung, die den „europäischen Beitrag“ in der Entwicklungsgeschichte des 2. Jahrtausends als „marginal“ und „kontingent“ herabstuft.
Landes entwickelt seine Idee einer spezifisch europäischen Kultur der ökonomischen Entwicklung im Kontrast zu Ausgangsbedingungen, wie sie im Frühmittelalter etwa in der islamischen Welt, vor allem aber in China gegeben waren. Europas Aufstieg zum globalen Motor technischer Innovation und die damit einhergehende Prosperität erscheinen in diesen Vergleichen umso erstaunlicher. Denn zu Beginn des zweiten Jahrtausends liegt Europa im Entwicklungsstand deutlich hinter dem mittleren und fernen Osten zurück. Wie ist der Aufstieg dann aber zu erklären?

Zersplitterung und Innovation

Landes führt als entscheidende Faktoren die disparaten Machtzentren in Europa an, eine politische Ordnung des Kontinents, die anders als die der zentralistischen asiatischen Großreiche der Entwicklung von Pluralität und Wettbewerb förderlich war. Er verweist auf eine weitere Zersplitterung in Form der Trennung von Staat und Kirche, die der Etablierung einer stabilen weltlichen oder geistlichen Hegemonie entgegenwirkte und so wenn auch kleinen Freiräumen für nonkonformistisches Denken Vorschub leistete.
Vor allem aber war es ein über die Jahrhunderte immer wieder virulenter Mangel an menschlicher Arbeitskraft, der in Europa anders als etwa im bevölkerungsreichen China den Druck aufrecht erhielt, diesen Mangel durch technische Innovation zu kompensieren. Ob solche Innovationen europäischen Ursprungs waren oder, wie in vielen Fällen, adaptiert wurden, spielt für die Erklärung, wie sie die ökonomischen Entwicklung Europas vorantrieben, keine Rolle.

Leichtigkeit und Sprachwitz

Diese Prämissen liegen Landes' Tour de Force durch ein Jahrtausend globaler Wirtschaftsgeschichte zugrunde. Der Anspruch seiner Untersuchung beschränkt sich dabei nicht auf die Klärung der historischen Wahrheit. Sie dient vielmehr der eigentlichen Aufgabe, „den armen Ländern dabei zu helfen, gesünder und wohlhabender zu werden - im eigenen Interesse nicht weniger als in ihrem.“
Die Lehren, die Landes am Ende seines Buchs herausdestilliert, stellt er selbst unter Klischee- und Plattitüdenverdacht. Sie entpuppen sich als neu formulierte protestantische Arbeitsethik. „Zu viele von uns arbeiten, um zu leben, und leben, um glücklich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Nur fördert es nicht unbedingt eine hohe Produktivität. Wenn man allerdings eine hohe Produktivität will, dann sollte man leben, um zu arbeiten, und das Glück als einen Nebeneffekt nehmen.“
Allerdings wirken diese nach Einschätzung des Autors „simplen“ Weisheiten gar nicht mehr so schlicht, wenn man sie in Krisenzeiten liest, in denen das Missverhältnis von Spekulationsgewinnen und echter Wertschöpfung beklagt wird und die Unterscheidung von Finanz- und Realwirtschaft Eingang in die Alltagssprache gefunden hat. Nicht nur für diejenigen, die angesichts der aktuellen Weltfinanz- und -wirtschaftskrise den Wunsch nach historischer Fundierung ihres ökonomischen Wissens verspüren, ist Landes umfangreiches, aber stets gut lesbares Werk eine echte Empfehlung.

Stefan Schulze
November 2009

Wohlstand und Armut der Nationen

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