· Faunichoux-Wald bei Leyder, September 1993 ·
Kurz und schmerzlos
Ich hatte den Hirsch nichts gefragt, im Gegenteil, ich hatte die Luft angehalten und ihn gerade ins Visier genommen, da teilte er mir mit:
Wer mir etwas antut, wird leiden, so wie ich leiden werde.
Ich nahm das Auge vom Zielfernrohr.
Mein Opa, der neben mir stand und filmte, konnte den Hirsch offenbar nicht hören.
»Drück ab!«, flüsterte er, heftig vom Bockfieber geschüttelt.
Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Hirsch mit mir kommunizierte. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Ich hatte allerdings noch nie versucht zu antworten.
Also fragte ich ihn, in Gedanken:
Ich mache es kurz und schmerzlos, okay?
Es ging ganz einfach. Die Antwort kam prompt:
Wer mich tötet, wird sterben, so wie ich sterben werde.
Mein Opa begann bereits leise zu schnaufen.
Ihm den Schuss zu überlassen, kam aber nicht in Frage, ich glaubte dem Hirsch.
Die Zeiten, in welchen ich den Tod meines Opas herbeigesehnt hatte, lagen lange zurück. Auf die letzten Meter waren wir doch noch Gefährten geworden.
Also schoss ich.
Irgendetwas mit dem Echo stimmte nicht.
Helmut
Am Vormittag war ich angekommen.
Als ich vor dem Forsthaus den Helm abnahm, hauchte mir der Wald seinen Atem entgegen. Zu der salzigen Luft, die mir die Nordsee in den letzten Tagen um die Nase geweht hatte, war das ein schöner Gegensatz: Fäulnis und Harz, Hirschurin und Androsteron. Hier gingen Tod und Geilheit Hand in Hand spazieren.
Das letzte Mal war ich zur Magnolienblüte bei Opa zu Besuch gewesen. Jetzt war September, und die Brunftzeit des Rotwildes hatte gerade begonnen.
Einen Moment lang blieb ich mit geschlossenen Augen auf der Vespa sitzen und inhalierte die Waldluft, bis Opa auf die kleine Terrasse vor dem Haus trat. Monochrom gekleidet wie üblich,
sagte er, was er immer sagte, wenn ich unangemeldet bei ihm auftauchte: »Charlie Berg.«
»Bardo Aust Kratzer«, erwiderte ich standardmäßig. Mit einem Lächeln.
Seine steinerne Pranke packte immer noch fest zu. Handcreme war immer noch weibisch.
Dann kam Helmut mich begrüßen, und mein Lächeln verschwand. Ein taubeneigroßes Geschwür saß an seinem Kopf und hatte offensichtlich die Kontrolle übernommen. So schnell er konnte – und das war nicht sehr schnell –, bewegte er sich durch die Wohnung in Richtung der offen stehenden Haustür. Er verlor mehrmals die Orientierung, lief gegen Wände und Stühle. Bei den besonders heftigen Zusammenstößen gab er leise Schmerzenslaute von sich. Er trug eine Windel. Als er endlich bei uns auf der Terrasse angekommen war, drohte sein Hinterteil wegzufliegen, so heftig wedelte er mit dem Schwanz. Man konnte seine Rippen zählen. Ich beugte mich hinunter, um ihn zu kraulen, und betastete dabei die Ausbuchtung. Sie fühlte sich unerwartet prall und fest an. Nichts an ihm roch mehr nach Dachsbau oder Killerinstinkt, aus seinem Maul überrollte mich der Zerfall, als hätte die Verwesung heimlich schon eingesetzt. Seine Augen, die bei meinem letzten Besuch nur eingetrübt gewesen waren – sie waren nahezu vollständig weiß.
Mit Dackelwelpe Helmi unter dem Weihnachtsbaum beginnt meine Erinnerung.
»Opa! Seit wann hat er das?«
Opa wich meinem Blick aus.
»Komm erst mal rein«, sagte er und ging voraus.
Ich nahm Helmut auf den Arm und trug ihn hinterher, in der Küche setzte ich ihn wieder ab und blieb in der Hocke.
»So ist er nur manchmal. Ansonsten ganz der Alte. Hat keine Schmerzen.«
Hast du ihn quieken gehört?
Ich sagte nichts.
Immerhin hatte Opa bereits das Eutha-Narcodorm besorgt, zwei kleine Flaschen standen auf der Fensterbank, jeweils eine verpackte Einwegspritze war mit einem Gummiband daran befestigt.
Er goss uns beiden ein Glas Milch ein.
»Opa. Er quält sich. Du musst ihm das Zeug geben.«
»Nein.«
Mein Großvater versuchte sich am ehemaligen Alphamännchen, das so viele Jahre keinen Widerspruch zugelassen hatte.
»Noch nicht.«
Mit geschlossenen Augen leerte er das Glas Milch in sich hinein, kleine, alte Schlucke im Stehen.
»Soll ich es machen?«, fragte ich, noch immer in der Hocke, Helmuts Bauch streichelnd. Opa starrte aus dem Fenster und knetete seine Nase. Sie hatte sich in den Schnapsjahren zu einem lilafleckigen Gnubbel verformt. Nach Omas Abgang hatte er das Trinken aufgegeben, die Nase mit den Mondkratern war geblieben.
»Nachher«, sagte er leise.
Er sah mich an, nahm die Hand aus dem Gesicht und grinste schief.
»Erst musst du den Riesen schießen.«
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