Ihr seid also an mein Feuer zurückgekehrt.
Hell und warm brennt es, während die Abenddämmerung den Himmel mit tiefem Blau überzieht und die Bäume und den Pfad schwärzt, auf dem ihr zu mir gekommen seid. Ihr habt euch nicht in den Tiefen der Wälder verirrt. Ihr habt euch nicht schrecken lassen von den Narben in meinem Gesicht und den Blutflecken auf meinem Mantel. Ihr sitzt wieder an meinem Feuer, hier in der Abenddämmerung.
Seid ihr im Zwielicht gekommen, weil ihr befürchtet habt, ihr könntet euch des Nachts zwischen den Bäumen verlieren?
Denn das geschieht nur allzu leicht. Ihr verlasst den Weg, eure Füße tragen euch fort von eurem Pfad, einen Moment lang gebt ihr nicht acht und bemerkt euren Fehler erst, wenn ihr schon tief im Wald steht.
Oder seid ihr im Zwielicht gekommen, weil ihr es gehört habt?
Habt ihr mein Lied gehört?
Denn die Abenddämmerung ist die Stunde, in der die Geschichten erwachen.
Wenn der erste Stern am Himmel erscheint, hell und silbern schimmernd, beginnen sie zu flüstern.
Sie wispern.
Sie singen.
Sie erwarten euch.
Rückt dichter ans Feuer heran. Schert euch nicht um meine Tränen, um mein Lächeln. Rückt dichter heran, dann singe ich euch ein Lied, erzähle euch eine Geschichte. Sie beginnt an einer alten Straße, im schwindenden Zwielicht. Sie beginnt in der Stadt, die der Finsternis der Nacht anheimfällt, der Finsternis des Krieges. Sie beginnt mit Reisenden, leise singenden Reisenden, guten Freunden, denen noch nicht bewusst ist, wie leicht man vom Weg abkommen kann. Vor allem in der Dämmerung, wenn die Geschichten locken, wenn die Lieder rufen, wenn ein Raunen in der Luft liegt, ohne dass man wüsste, wer dort spricht.
Rückt dichter heran.
Und hört mir zu.
Wer ist das?
Wer wispert dort?
1
Reiter
Ein Fremder kam den Grauen Pfad entlang.
Es war ein Mann, entschieden die meisten, die ihn vorbeiziehen sahen. Heutzutage wagte sich niemand mehr nach Anbruch der Dämmerung auf die Straße, denn eigentümlich waren die Tage und schrecklich die Nächte, seit die Schatten sich erhoben hatten. Des Nachts waren sie erschienen, mit ihren Schwertern aus Feuer, grellweiß und so kalt. Abgeschlachtet hatten sie alles, was lebte – kleine Kinder, alte Frauen, stolze Rösser. Die Ziegen, die den Menschen brav ihre Milch gaben. Manche behaupteten, man könne sich schützen gegen die Schatten, indem man sich hinter Mauern aus Stein und Toren aus Eisen verschanzte. Wieder andere erzählten, es gebe ein Lied, das als Schild diene, aber wer hatte schon jemals gesehen, dass ein Lied gegen eine Klinge schützte, eine strahlende, tödliche Klinge?
Lieber machten sich die Menschen hinter steinernen Mauern und eisernen Toren zu Gefangenen, in den Städten, Dörfern und Burgen, und so waren die Tage fremd und die Nächte finster. Denn des Nachts wisperte die Furcht, kroch in ihre Häuser und Hütten, schob ihre langen, dürren Tentakel in jede Schlafkammer. Sie raunte und flüsterte, wie sie es schon immer getan hatte in den ach so finsteren Nächten, die weder Mond noch Sterne erhellten. Legenden besagten, dass die Nächte einst hell gewesen waren, geleuchtet hatten durch den Mond und die Sterne, als die Feuer noch brannten in den Türmen des Lichts, als die Glocken noch sangen. Als Feuer und Glockenklang die Finsternis und die Stille vertrieben, überall auf dem Kontinent Erebu.
Aber niemand wusste, ob er diesen Legenden Glauben schen-ken sollte, wo die Nächte doch so finster waren und die Schatten so tödlich.
Deshalb war es umso merkwürdiger, nun diesen Fremden auf der Straße zu sehen. Einst hatte man sie den Westlichen Weg genannt, als sie sich noch breit und stolz durch die Lande erstreckt hatte, als ihr weißer Stein noch gepflegt und instand gehalten worden war. Heute nannte man sie den Grauen Pfad, oder einfach nur den Pfad, denn es war kaum noch etwas geblieben von den vielen Wegen und Handelsrouten, die einst den gesamten Kontinent durchzogen hatten.
Nahe der kleinen Stadt Ricoldinchuson sah man den Fremden zum ersten Mal, bei einem Bauernhof, dessen Bewohner hinausgingen aufs Feld, sobald das erste Licht durch den Morgennebel drang. Sie beackerten die Scholle, hofften eine Ernte einfahren zu können, auch wenn Nacht für Nacht die Schatten über sie herfielen. Jemand musste ja das Land bestellen und Nahrung für Ricoldinchuson anbauen, hinter dessen Stadtmauern sich auch die Bewohner jenes Hofes versteckten, nachts, wenn die Schatten erschienen. Sie mussten es zumindest versuchen, sonst würde der Hunger sie während der Belagerung durch die Schatten ebenso sicher töten wie die Klingen aus Feuer, so weiß und kalt.
Der älteste und der jüngste Bewohner des Hofes waren im Obstgarten und spazierten zwischen den Apfelbäumen einher. Großvater und Enkelsohn waren sie, und sie unterhielten sich in der Sprache des südlichen Königreiches Sapaudia, aus dem der Großvater als Kind mit seinen Eltern geflohen war, die auf der Suche nach Arbeit mit ihm nach Norden zogen.
Der Enkel sah den Fremden als Erster.
»Guarda, nonnus!«
Er zeigte zur Straße, und sein Großvater hob den Kopf und erblickte ihn. Sah den Fremden, der in der Morgendämmerung unterwegs war.
Zu Pferde reiste er. Einen Mantel trug er, einen langen grauen Mantel. Sein Pferd war groß und prächtig.
Und er schien zu singen.
Sofort atmeten die beiden auf, denn das war keine Armee. Die Eiserne Armee sei auf dem Vormarsch, erzählten die Leute, doch das hier war nicht die Eiserne Armee, unter deren Ansturm Ricol-dinchuson innerhalb eines halben Tages fallen würde. Nicht die Armee von Lurin, dem Eisernen Baron.
Nein, das war sie nicht.
Nur ein einzelner Reiter. Ein Reiter, der sang. Auch wenn der Großvater die Worte des Liedes nicht ausmachen konnte. Sein Enkelsohn ebenfalls nicht. Leise schlichen sie bis zu der Hecke, die den Obstgarten von der Straße trennte. Traurig klang das Lied. Als würde der Reisende von längst vergangenen Zeiten singen, einer längst verlorenen Liebe, einer Heimat, die nicht mehr aufzufinden war. Und während sie heranschlichen, um dem Lied des einsamen Reiters zu lauschen, marschierte viele Meilen weiter südlich eine Armee über den Grauen Pfad.
Eine Armee, ganz in Eisen gewandet, die Rüstungen geschmiedet aus schwarzem, starkem Metall. Fackeln trugen die Männer, und wenn sie abends ihr Lager aufschlugen, sangen sie das Lied der Nacht. Im Licht des Tages marschierten sie über die Straße, brannten die Felder nieder, die von den Schatten verschont worden waren, überließen Gärten und Höfe und Mühlen den Flammen. Den Kopf der Königin von Allaith hatten sie auf einen Spieß gesteckt, und gelacht hatten sie, als sie durch ihr Königreich mar-schierten, denn für sie war es so klein, dass es nicht einmal als richtiges Land zählte. Im Winter wären sie wieder daheim, glaubten diese Soldaten, die dort über den Grauen Pfad marschierten. Eine Frau war unter ihnen, eine Frau, die am lautesten von allen gelacht hatte, als sie den Kopf der Königin auf den Spieß steckte. Lauter als alle anderen hatte sie gelacht, denn sie wusste, dass sie stark erscheinen musste, sollte ihr Kopf nicht der Nächste sein. Bigna war ihr Name. Bis sie den Kopf einer Königin aufgespießt hatte, war sie einfacher Soldat gewesen, doch als der Baron das sah, befahl er, ihr ein Pferd und einen Rang zu geben, der ihrem Eifer entsprach. Und so ritt nun Leutnant Bigna über den Grauen Pfad, den Blick starr nach vorn gerichtet, wo der Baron und sein Hauptmann mit ihren eisernen Helmen ritten. Eine lange graue Feder trug der Hauptmann an seinem Helm, und diese Feder wollte Bigna unbedingt haben. Denn eines stand für sie fest: Niemand würde es wagen, den Hauptmann der Eisernen gegen seinen Willen anzufassen. Die Armee steuerte auf ein Dorf zu. Hell leuchteten ihre Fackeln in der Dämmerung. Bigna reckte ihre in die Höhe, während sie das Tempo beschleunigte. Während sie auf das Dorf zugaloppierte.
Sie würde dafür sorgen, dass Schur stolz auf sie war.
Viele Meilen weiter nördlich lauschten Großvater und Enkel darauf, wie der Fremde sich auf dem Grauen Pfad näherte. Viel-leicht brachte er Neuigkeiten. Neuigkeiten, die von Frieden kündeten. Von dem Lied, das ein Schutzschild sein sollte. Neuigkeiten aus der Stadt Briva. Briva der Blauen, so stolz und so schön. Briva, der Stadt der Brücken. Briva, der Stadt der Schiffe. Briva, der Stadt des Brotes, des köstlichsten Brotes, das je gebacken wurde. Der Großvater kannte ein Lied darüber. Eine Bardin hatte es in Ricol-dinchuson zum Besten gegeben, mit dieser wundervollen Stimme, als sein Enkel noch ein kleiner Wurm gewesen war. Nun zählte der Junge bereits fünf Lenze, und er kannte das Lied auswendig, weil sein Großvater es ihm so oft vorgesungen hatte.
Der Reiter allerdings sang ein anderes Lied.
Warum dröhnt der Hufschlag laut, so laut
aus dem Tale zu mir herauf?
Das sind nur die Bauern und Tölpel, mein Kind,
nur die Bauern kommen herauf.Es klang wie ein Klagelied.
»Nonnus«, sagte der Enkel und zeigte auf seine Füße. Dünn und fahl klang seine Stimme, so fahl wie der Umhang des Reiters. Der Großvater blickte zu Boden.
Mit einem Mal krochen unzählige Spinnen über die Erde, mit langen, dünnen Beinen, und graue, zuckende Kellerasseln. Über ihre Schuhspitzen krochen sie, über ihre Füße.
Durch die Hecke kamen sie.
In den Garten hinein liefen sie.
Warum dringt Lärmen laut, so laut
über die Straße zu mir heran?
Das sind nur die Boten und Herolde, Kind,
nur die Herolde kommen heran.Und dann hörten sie das Rauschen unzähliger Flügel, ein lautes Tosen, als wäre plötzlich ein Sturm losgebrochen. Großvater und Enkel hoben den Kopf. Überall stiegen Vögel aus den Bäumen auf und schwangen sich in die Lüfte. Hektisch flatterten sie, flogen davon so schnell sie konnten, schossen über den Garten hinweg.
»Sind das die Schatten, nonnus?«, fragte der Enkel.
Der Großvater sah sich um. Der Morgen war angebrochen. Es konnten nicht die Schatten sein, die erhoben sich nur des Nachts.
Welch Gestalt seh ich vor mir, klar, so klar,
welch Gestalt kommt im Zwielicht heran?
Das ist nur ein einsamer Reiter, mein Kind,
ein grauer Reiter trabet heran.»Komm.« Der Großvater nahm seinen Enkelsohn an die Hand. »Komm, wir müssen nach Ricoldinchuson zurück.«
Und auch dem Fremden auf dem Grauen Pfad rief er es zu. In der Gemeinen Sprache rief er: »Guter Mann! Komm mit uns, zurück in die Stadt!«
Und der Fremde hielt an.
Tief in seinem Inneren begann der Großvater zu zittern.
Der Reiter sang noch immer.
Warum fühl ich in mir die Furcht so stark,
wenn im Zwielicht er trabet heran?
Schließ die Augen nun, schließ die Augen, mein Kind,
der Fahle Reiter trabet heran.Sehr lange schon lebte der Großvater in dieser Welt. Sehr lange war er selbst ein Fremder gewesen, hatte viel Freundlichkeit er-fahren von Menschen, die ihn aufgenommen hatten, auch hier in Ricoldinchuson, wo er zunächst in den Minen gearbeitet hatte, bevor er sein eigenes Gehöft bezog. Fremdes machte ihm keine Angst.
Aber nun, nun regte sich Furcht in ihm, ohne dass er gewusst hätte warum.
Denn dieser Reiter, er klang doch nur traurig. Falls es ein Er war. Die Stimme hätte ebenso zu einem Mann wie zu einer Frau gehören können, und sie klang schrecklich einsam.
Viele Meilen weiter südlich trieb Bigna ihr Pferd voran. Sie überholte ihre Kameraden. Sie wollte die Erste sein. Selbst den Hauptmann und den Baron überholte sie.
»Für Schur!«, brüllte sie, als sie in das Dorf preschte. In dem noch Menschen waren.
Sie zog ihren Pallasch.
Viele Meilen weiter im Norden packte der Großvater seinen Enkelsohn an den Schultern. »Komm, guter Reisender! Es könnten die Schatten sein, von denen du gewiss schon gehört hast. Komm mit nach Ricoldinchuson! Der Bürgermeister wird dich sicher dort aufnehmen.«
Der Reiter setzte sich wieder in Bewegung. Langsam und schweigend ritt er zu dem Tor in der Hecke.
Und als der Reiter sich dem Tor näherte, sahen sie ihn zum ersten Mal ganz deutlich.
Der Großvater wich einen Schritt zurück, hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
Das war kein Reiter. Es hatte den Anschein, aber nun sah er keinen Mann vor sich. Auch keine Frau verbarg sich in dem fahlen grauen Mantel. Nein, er sah seinen Enkel vor sich.
Seinen Enkel, mit leerem Blick, mit getrocknetem Blut im Ge-sicht, das Genick gebrochen wie ein trockener Zweig.
Er sah seinen Enkel vor sich, und sein Enkel war tot.
Und dann sah er nicht mehr seinen Enkelsohn vor sich, sondern seine Enkeltochter.
Seine Älteste, deren Haar so dunkel war, deren Blick so grimmig. Und dann die Zweitälteste mit dem kräftigen Kinn und der Vorliebe für Äpfel.
Und dann kamen die dritte, die vierte, die fünfte Enkeltochter, dann die sechste und die siebte.
Und dann sah er sich selbst.
Sich selbst, wie er tot und leblos lag.
Er stieß ein ersticktes Geräusch aus, ein Keuchen, bevor er sich abwandte und floh, seinen Enkel hinter sich herschleifend. Seinen Enkel, in dessen weit aufgerissenen Augen die blanke Furcht flackerte. Denn er hatte eine Gestalt gesehen,
so finster,
so entsetzlich,
dass der bloße Anblick
ihm das Augenlicht geraubt hatte.
»Lauft!«
In der Gemeinen Sprache rief der Großvater es, damit alle Menschen auf dem Hof – von denen einige zu seiner Familie ge-hörten, andere seine Freunde waren – es verstehen konnten. Retten, er wollte sie alle retten. Und in der Sprache seiner Kindheit rief er es, laut und schrill: »Correre!«
Auf den Feldern hörten sie ihn. Sie legten ihre Hacken und Gabeln und Harken und Schaufeln weg. Sie blickten hoch und sahen die Vögel. Sie sahen, wie Vögel die Flucht ergriffen.
Die älteste Enkeltochter mit dem dunklen Haar und dem grim-migen Blick ließ alles fallen und rannte los, rief den anderen zu, dass sie ihr folgen sollten. Zurück in die Stadt.
Die Zweitälteste mit dem kräftigen Kinn und der Vorliebe für Äpfel blickte zum Garten hinüber, wandte sich um und lief zu ihrem Großvater und ihrem kleinen veter.
Wie gejagt stürmte sie los und rief: »Veter! Ahn!«
Der Großvater hatte seinen Enkelsohn hinter sich hergezogen. Nun hörte der Junge die Stimme und antwortete: »Muhme!«
Hufschlag dröhnte hinter dem Großvater. Hufschlag, der näher und näher kam.
Hastig schob er seinen Enkel vor sich her.
»Lauf, mein Junge!«
Aber der Junge konnte nicht weglaufen. Ängstlich klammerte er sich an die Hand des Großvaters. »Ich kann nicht,
ahn! Ich kann nichts sehen!«
Nun erreichte die Enkeltochter den Garten.
Sah es.
Sah, wie
ahn und
veter auf sie zurannten.
Sah, wie hinter ihnen ein Reiter auftauchte.
Zumindest für einen Moment.
Dann sah sie keinen Reiter mehr. Sie sah einen Mann mit übermütigem Lächeln und Augen, die Alkohol und Lust mit einem glasigen Film überzogen hatten. Einen Mann mit einem eleganten Hut und ach so weichen Handschuhen.
Diesen Mann hatte sie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen.
Sie wusste, dass er tot war. Sie selbst hatte den Stein genommen und damit auf seinen Schädel eingeschlagen, bis er aufgeplatzt war.
Und nun war er zurück, der Mann mit den starken Händen, die doch so weich waren. Er war zurück, und er wollte sie holen.
Wollte sich noch mehr holen.
Also hob sie noch einmal einen Stein vom Boden auf. Ging da-mit auf ihn zu.
Ahn und
veter hielten weiter auf sie zu. Der Mann hatte sie fast eingeholt. Und trotzdem war sein Blick starr auf sie gerichtet. Gier brannte in seinen Augen. Nun hörte sie auch seine Stimme. Ganz leise flüsterte sie, dicht an ihrem Ohr.
Wenn du schreist, wenn du nur einen Mucks machst, werde ich dich töten.Ja, sie hörte ihn. Neben sich, über sich. Spürte ihn in sich, wie er ihr Innerstes zu zerfetzen drohte.
Er lächelte.
Du kannst mir nicht entkommen.Sie warf den Stein nach ihm.
Er blieb stehen. Stöhnte. Als er den Kopf hob, zog sich eine große Platzwunde über sein Gesicht.
Jetzt lächelte er nicht mehr. Jetzt war er wütend. So wütend wie damals, als er beide Hände um ihre Kehle geschlungen und sie gewürgt hatte. Als er ihr ins Gesicht gespuckt hatte, nachdem er sie vergewaltigt hatte.
Als wollte er sie umbringen.
Die Furcht durchfuhr sie so heftig, dass sie zurückwich.
»Lauf!«, rief ihr Großvater. »Kein Stein wird uns retten!«
Sie gehorchte. Sie alle flohen.
Und hinter ihnen dröhnte der Hufschlag.
Der Reiter war schneller als sie.
Schnell war der Reiter, und schnell war die Armee, die viele, viele Meilen weiter südlich über den Grauen Pfad marschierte. Die Armee, in der Bigna, einst Fußsoldat und nun Leutnant, ritt. Singend ließ sie vom Pferderücken herab ihren Pallasch tanzen. Direkt vor ihr rannte ein Mann auf den Dorfplatz. Sie ritt ihn einfach nieder. »Für Schur!«, brüllte sie, unterstützt von vielen Stimmen. So vielen Stimmen. Und nun gellten auch die
drimbas. Viele, viele
drimbas erklangen laut und schrill in der Morgendämmerung.
Und während die Armee das Dorf stürmte und alles nieder-machte, was noch nicht geflohen war, hielt der Reiter auf den Großvater zu, den Enkelsohn, die Enkeltochter. In donnerndem Galopp verfolgte er die Bauern von Ricoldinchuson.
Furcht packte den Großvater. Eine so schreckliche Furcht, dass sie sein Herz erzittern ließ. Erzittern, dann innehalten. Sein Körper verkrampfte sich.
Er stürzte.
Stürzte und zog seinen Enkelsohn mit sich.
Fünf Jahre war sein Enkelsohn alt. Der Junge beugte sich über den Großvater. Zerrte an ihm. Schüttelte ihn. »Komm, ahn! Wir müssen weiterlaufen!« Mit aller Kraft zog der Junge an seinem Ohr. Diesem zerbrechlichen Ohr, aus dem weiße Haare herauswuchsen. Er versuchte, sich den Alten auf die Schultern zu laden, aber er war nicht stark genug. Schließlich drehte er sich um.
Der Reiter kam heran.
Wieder spürte der Junge diese schreckliche Gestalt vor sich. Diese vollkommen unbegreifliche Gestalt.
So
unfassbar
schrecklich.
Der Junge brach zusammen. Auch sein Herz hörte auf zu schlagen.
Und die Enkeltochter sah es voller Grauen.
Nun wandte sich der Reiter ihr zu. Nun kam der Reiter zu ihr hinüber.
Er kam zu ihr.
Hastig wich sie zurück, wirbelte herum und rannte weiter.
Dreh dich nicht um, befahl sie sich.
Dreh dich nicht um!Schnell rannte sie, und schnell galoppierte viele Meilen südlich Bigna, der Eiserne Leutnant, durch das Dorf. Im gestreckten Galopp schwang sie ihren Pallasch, tötete, setzte mit ihrer Fackel jedes Haus in Brand, das sie passierte.
»Verschont die Bäume!«, rief Lurin, der Eiserne Baron. »Denkt daran: Wir lieben unsere Bäume in Schur, wir lieben unsere Erde. Also verschont die Bäume!«
Und sie verschonte die Bäume. Stattdessen hielt sie ihre brennende Fackel an einen Mann, der sich keuchend auf der Erde wand und versuchte, vor ihr davonzukriechen.
Sie lachte, als die Flammen ihn verzehrten.
Sie lachte und sorgte dafür, dass der Baron es sah.
Im Norden, viele Meilen weiter im Norden, hatte der Reiter die Enkeltochter fast eingeholt. Und als sie seinen Atem im Nacken spürte, konnte sie nicht anders.
Sie drehte sich um.
Und wieder sah sie den Mann mit dem eleganten Hut und den feinen Handschuhen.
Mörderische Wut spiegelte sich in seinen Zügen.
Geilheit und Gier spiegelten sich in seinen Augen.
Ihr Herz raste,
raste,
und dann blieb es stehen.
Und auch sie stürzte.
Und der Reiter zügelte sein Pferd.
Der Reiter in dem grauen, fahlen Mantel. Der Reiter, der keine Waffe bei sich trug.
Nur dieses Lied.
Das Lied, das er mit so trauriger Stimme gesungen hatte.
Ganz allein stand der Reiter da.
Ganz allein stand er da und sah zu, wie die verbliebenen Bauern vor ihm flohen. Ganz allein stand er da und musterte die drei Toten auf der Erde.
Der Fahle Reiter trabet heran, heran,
der Fahle Reiter, er kommt zu dir.
Nun ist es bald vorüber, mein Kind,
denn der Tod, er trabet heran.
Der Tod, er kommt zu dir.Reglos sah der Reiter zu, wie die Bauern sich nach Ricoldinchuson flüchteten.
Er folgte ihnen. Jeder Einzelne von ihnen fiel leblos zu Boden, noch bevor sie das Stadttor erreichten.
Der Reiter kehrte zurück auf den Grauen Pfad und setzte seinen Weg nach Süden fort.
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