Mit der Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, habe ich lange gerungen. Viele Menschen haben mir im Laufe der Jahre, die vergangen sind, seitdem ich die Satmarer Gemeinschaft verlassen habe, gesagt, dass ich meine Geschichte zu Papier bringen sollte. Ich hatte aber das Gefühl, meinen Weg noch nicht zu Ende gegangen und meinen neuen Platz noch nicht gefunden zu haben. Es war wahr, ich hatte die ultraorthodoxe Welt verlassen, aber würde die Welt, in der ich jetzt lebte, die sein, in der ich bleiben würde? Hatte ich schon alle Antworten auf all die Fragen, die ich mir gestellt hatte, gefunden?
Dann besuchte mich der Programmleiter des Gütersloher Verlagshauses in Dresden. Ich erzählte ihm von meinen Zweifeln. Er ermutigte mich: Das Leben in der Satmarer Gemeinschaft, der Ausstieg und der Neubeginn, das seien Etappen auf einem Weg, denen noch weitere folgen würden. Aber es seien Etappen, die es wert seien, erzählt und mit anderen geteilt zu werden. − Ich beschloss, dass es jetzt an der Zeit sei, es einfach zu tun.
Entstanden ist ein Buch, in dem ich aus meinem Leben erzähle und das, was ich berichte, auf den Hintergrund der Traditionen und der Texte, der Kultur und der Bräuche stelle, mit denen ich aufgewachsen bin, in denen ich gelebt habe und zum Teil heute noch lebe. Eine umfassende Biografie will dieses Buch nicht sein. Einzelne Abläufe, Namen, Dialoge und Begebenheiten habe ich aus erzählerischen Gründen behutsam angepasst und ver8 dichtet. Einige wenige Geschichten wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen auch fiktionalisiert. [...]
Ich weiß, dass ich damit auch einige meiner persönlichen Unzulänglichkeiten und Fehler offenlege. Aber ich bin nicht perfekt. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, und würde manches heute anders machen. Ich habe mich entschlossen, nichts zu beschönigen und meinen Leserinnen und Lesern gegenüber so aufrichtig zu sein, wie ich es mir selbst gegenüber zu sein versuche. Ich hoffe, ihnen so die Komplexität und Wechselwirkungen meiner Geschichte, der Welt, in der ich aufgewachsen bin, und meiner eigenen, sich entwickelnden Persönlichkeit darin näherzubringen.
Ich habe meine Eltern in diesem Buch nicht immer in der positivsten Art und Weise darstellen können. Auch sie sind nicht perfekt. Sie haben das Manuskript aber gelesen und sind mit dem, was ich hier über sie schreibe, einverstanden. Ich bin ihnen dankbar dafür, dass sie zu mir gehalten haben, als ich die Gemeinschaft verließ. Das war nicht selbstverständlich und hat mir sehr viel Kraft auf meinem Weg gegeben. Ich bin dankbar für die Ehrlichkeit und den gegenseitigen Respekt, mit denen wir uns heute begegnen können. Wir sind zusammen einen langen und harten Weg gegangen, auf dem wir lernen mussten, unsere Verschiedenheit anzuerkennen und gegenseitig auszuhalten. Ich liebe sie aufrichtig und von ganzem Herzen.
Nach wie vor lebt der größte Teil meiner Familie ultraorthodox und nach wie vor habe ich viele Freunde in der ultraorthodoxen Welt. Wir halten es aus, dass wir verschiedener Meinung sind. Mal mehr, mal weniger gut. Manche Orthodoxe halten mich für einen Ketzer, der schwere Sünden begeht und ohne Zweifel in die Hölle kommt. Ich halte manche von diesen für Menschen, die den ganzen Tag mit Unsinn beschäftigt sind und das Wohl ihrer Kinder in einer Weise gefährden, die die Aufsicht des Staates auf den Plan rufen sollte.
Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, dass das Leben kompliziert ist, dass Menschen kompliziert sind, dass es in der Welt nicht nur Schwarz und Weiß, die Guten und die Bösen gibt. Der Weg, den Menschen gehen, verläuft für alle im Dazwischen. So nehme ich durchaus auch wahr, dass es Menschen gibt, die sich in der ultraorthodoxen Welt glücklich und beheimatet fühlen.
Ich habe dieses Buch einerseits für Menschen geschrieben, die die ultraorthodoxe Welt nicht von innen kennen. Diese sollen wissen, wie es darin zugeht und was die durchmachen, die diese Welt verlassen wollen. Sie sollen um die Schwierigkeiten wissen, die Aussteiger haben, Teil einer nicht orthodoxen Gesellschaft zu werden, wenn sie es denn jemals sein können. Denn auch, wenn man die Gemeinschaft verlassen hat, verliert man viele Prägungen nicht. Zwar halten sich meisten Ausgestiegenen nicht mehr an die Regeln und Vorschriften und verstehen sich nicht mehr als religiös. Aber wir genießen es nach wie vor, den Schabbat zu feiern. Unser Denken, unsere Sprache und der Wortschatz, den wir benutzen, sind sehr stark von rabbinischer Literatur geprägt, und wir haben Geschichten und Witze, die nur wir verstehen können, weil niemand, der nicht in der Gemeinschaft war, die Pointe oder Komik des Erzählten verstehen kann. So bleiben die Ausgestiegenen doch immer irgendwie auch eine Gemeinschaft für sich.
Ich habe dieses Buch andererseits für diese Ausgestiegenen und für die, die in den ultraorthodoxen Gemeinschaften über einen Ausstieg nachdenken, geschrieben. Ich weiß, dass es viele wie mich gibt, die immer noch in der Situation sind, in der ich war, und das Wagnis des Neuanfangs nicht eingehen, aus Angst, ihren Job oder den Kontakt zu ihren Kindern zu verlieren, aus Angst vor dem hohen Preis, den sie zahlen müssen, wenn sie mit einem Mal ganz allein auf der Welt sind und nicht nur ein neues Leben, sondern eine neue Identität finden müssen.
Ich weiß, wie das ist. Als ich die ultraorthodoxe Welt verließ, war ich mir sicher, dass ich kein Jude mehr sein wollte, dass ich nie wieder Kontakt zu allem Jüdischen haben wollte. Ich wollte als ein nicht-jüdischer Arzt in Europa leben und meine ganze Vergangenheit vergessen. Als meine Füße aber den Boden Deutschlands berührt hatten, war ich mir nicht mehr sicher. Ich war voller Zweifel, sehr frustriert. Schließlich und zu meiner eigenen Verblüffung habe ich mein Judentum an unerwarteten Orten und durch unerwartete Begegnungen wieder entdeckt. Es ist ein anderes Judentum und heute versuche ich, es mit anderen Ausgestiegenen an der Besht Yeshiva in Dresden zu leben.
Es ist ein Judentum, in dem niemand mehr in seinem Denken und in der Weise, sein Leben zu führen, so von Regeln und Vorschriften bedrängt wird, dass er oder sie sich vergewaltigt fühlt.
Ich habe mich entschieden, als Rabbiner zu arbeiten, weil ich jüdische Menschen ermutigen möchte, ihren Kontakt mit der Geschichte unseres Volkes, mit unseren Traditionen, Feiertagen und Texten zu stärken. Ich glaube an ein lebendiges Judentum, das nicht von der Ultraorthodoxie kontrolliert wird. Ich glaube, dass wir anders leben können. Habe ich gesagt: Ich glaube? Das stimmt nicht, denn: Ich weiß es! Ich weiß es, weil ich heute mein Leben anders lebe und es für mich viel lebenswerter geworden ist. [...]
Akiva Weingarten