Komm mit nach Emberfall!

Der Fluch von Emberfall ist gebrochen. Doch die Gerüchte, dass Prinz Rhen gar nicht der legitime Thronerbe ist, wollen nicht verstummen. Nur Rhens engster Vertrauter, der schweigsame Grey, kennt die gefährliche Wahrheit. Er versucht sich zu verstecken, wird von Rhen aber gewaltsam an den Hof zurückgeholt. Die skrupellose Herrscherin des Nachbarreichs will die Wirren nutzen, um die Macht an sich zu reißen. Und ausgerechnet deren Tochter Lia Mara bittet plötzlich Grey um Hilfe. Kann er dem ebenso schönen wie mutigen Mädchen wirklich vertrauen? Kann er mit ihr Emberfall retten – indem er sich gegen Rhen stellt?


»Ein Herz so dunkel und schön«:
der zweite Band der Emberfall-Trilogie, erscheint am 21. Juni 2021.

Die Emberfall-Trilogie:

Brigid Kemmerer
© Kimberly Dean

Brigid Kemmerer

ist eine New-York-Times-Bestsellerautorin. Sie hat bereits mehrere Jugendbücher veröffentlicht. »Ein Fluch so ewig und kalt« ist der Auftakt zu ihrer neuen Bestseller-Trilogie aus der magischen Welt von Emberfall. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren vier Jungen in der Nähe von Baltimore.

In Band 2 reinlesen:

Leseprobe: HARPER

Es fehlt mir, die genaue Uhrzeit zu kennen.

Nicht vieles von dem, was ich in Washington, D.C. zurückgelassen habe, fehlt mir hier. Aber wenn es dunkel wird, das Abendessen nur noch eine verblassende Erinnerung zu sein scheint und Rhen noch immer nicht aufgetaucht ist, wüsste ich wirklich gerne, wie spät es eigentlich ist. Für mich ist es nichts Neues, in der Dunkelheit zu warten, aber auf der Straße hatte ich zumindest immer das Handy meines Bruders und konnte jede Sekunde zählen.

Jetzt bin ich Prinzessin Harper von Disi, und Emberfall ist noch nicht im Zeitalter der Elektrizität angekommen.

Rhen und ich bewohnen getrennte Gemächer, wie es sich für den Kronprinzen und die Dame, mit der er ein staatliches Bündnis besiegeln will, geziemt, aber er kommt immer noch einmal bei mir vorbei, bevor er sich zum Schlafen zurückzieht.

Und dabei ist es noch nie so spät geworden. Zumindest glaube ich das.

Die Hitze des Tages ist abgeklungen, und nun strömt kühlere Luft durch das offene Fenster; im Kamin liegen nur noch ein paar glühende Kohlen. Draußen zeigen flackernde Fackeln die Wachposten rund um Schloss Ironrose an, gleichmäßig verteilte Lichtflecken, durch die es auf dem Gelände niemals richtig dunkel wird. Was für ein Unterschied zu der Zeit, als Ironrose noch verflucht war und die Nischen der Wachleute kalt und leer dalagen, als das Schloss keine anderen Bewohner hatte als Rhen, Grey und mich.

Jetzt wimmelt es hier nur so von Adeligen, Dienstboten und Wachen, und wir sind nie wirklich allein.

Und Grey ist nicht mehr da. Schon seit Monaten nicht mehr.Ich nehme die Kerze vom Nachttisch und entzünde sie an der Glut im Kamin. Inzwischen tue ich das ebenso selbstverständlich, wie ich früher zu Hause auf den Lichtschalter gedrückt habe. Heute hat Zo, meine persönliche Leibwache und engste Freundin hier, Dienst, und sie hat auch ein Recht auf ein wenig Schlaf. Genau wie Freya, meine Kammerzofe. Bei ihr brennt schon seit Stunden kein Licht mehr, obwohl ich mir egoistischerweise wünsche, es wäre anders. Im Moment könnte ich eine Freundin gebrauchen.

Als es leise klopft, laufe ich schnell zur Tür.

Doch es ist nicht Rhen, bei dem ich auch gar nicht mit einem Klopfen gerechnet hätte. Nein, es ist Jake.

Als ich noch jünger war, hatte ich in Jake den perfekten großen Bruder, er war immer sanft und lieb. Dann wurdenwir Teenager, unsere Mutter war plötzlich todkrank, und unser Vater fuhr unser aller Leben so richtig vor die Wand. Jake ist gebaut wie ein Linebacker, und damit wir irgendwie über die Runden kamen, übernahm er diverse Jobs für die Kredithaie, die immer wieder vor unserer Tür auftauchten. So wurde Jake für jeden, der nicht zur Familie gehört, schnell vom lieben Kerl zu jemandem, vor dem man sich besser in Acht nahm.

Dass er nun in Emberfall festsitzt, einem Land, das ebenso schön wie wild und gefährlich ist, hat nicht viel am Temperament meines Bruders geändert. Nach unserer Ankunft war er etwas verunsichert und fühlte sich fehl am Platz, aber inzwischen ist er in seine Rolle als Prinz Jacob aus dem fiktiven Land Disi hineingewachsen. Seine dunklen Haare sind länger geworden, und er trägt so selbstverständlich ein Schwert an der Hüfte, als wäre es nie anders gewesen. In D.C. hat sich niemand mit ihm angelegt, und auch hier trauen sich das nur wenige.

Heute wirkt er sehr ernst.

»Hi«, begrüße ich ihn leise. »Komm rein.«

Sobald er drin ist, schließe ich die Tür hinter ihm.

»Es wundert mich, dass du noch wach bist«, stellt er fest.

»Ich warte auf Rhen.« Nach kurzem Schweigen füge ich hinzu: »Erstaunlich, dass du noch wach bist.«

Jake zögert. »Noah und ich packen gerade.«

Noah ist sein Freund – einst Assistenzarzt in einer überfüllten Notaufnahme in D.C., jetzt der »Heiler« des Schlosses.

Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen hoch. »Wie, ihr packt?«

Ohne eine Miene zu verziehen, erklärt mein Bruder: »Wir brechen morgen früh auf.«

Das kommt so überraschend, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrete.

Ein schmales Lächeln huscht über Jakes Gesicht. »Nicht für immer, Harp. So schlimm ist es nicht.«

»Aber … was soll das heißen: Ihr brecht auf?«

Mit einem Achselzucken geht er zum Fenster hinüber.

»Wir hängen jetzt seit Monaten hier rum. Du spielst gerne die höfische Prinzessin, ich weiß, aber ich fühle mich hier wie in einem Käfig.« Er wirft mir einen Blick zu. »Es ist nur für ein paar Wochen. Höchstens einen Monat.«

Schockiert stoße ich den Atem aus. »Einen Monat.«

In einem Monat kann eine Menge geschehen. Gerade ich weiß das nur allzu gut.

»Ich hätte keinerlei Möglichkeit, mich um dich zu kümmern«, sage ich. »Was, wenn etwas passiert? Es dauert Tage, manchmal sogar Wochen, eine Nachricht zu schicken. Wir wissen noch immer nicht, wie sich das Problem mit Syhl Shallow entwickelt oder was aus Rhens Krönung wird oder …«

Jake sieht mich ruhig an. »Du musst dich nicht um mich kümmern, Harper.«

»Aber Sorgen machen darf ich mir ja wohl noch.« Wir waren schon einmal voneinander getrennt, als Grey mich aus D.C. entführt hat, und es war grauenhaft für mich, nicht zu wissen, was mit Jake geschehen war. So etwas will ich nie wieder durchmachen.

»Hast du Rhen gefragt? Möglicherweise hält er das ja für keine gute Idee.«

Plötzlich ist Jakes Blick hart wie Stein. »Er ist nicht mein Aufpasser.«

»Ich weiß, aber …«

»Und er weiß Bescheid. Ich habe schon mit ihm gesprochen.«

Das trifft mich unvorbereitet.

»Ich habe ihn gebeten, dir nichts zu sagen«, fügt Jake erklärend hinzu. »Ich wollte das selbst mit dir besprechen.«

Gereizt presse ich die Lippen zusammen. »Offenbar hast du schon alles organisiert.«

»Nein, Harp, habe ich nicht.« Er unterbricht sich kurz. »Ich möchte, dass du mitkommst.«

»Das kann ich nicht, Jake. Du weißt, dass ich das nicht kann.«

»Doch, du kannst. Du kannst ebenso von hier verschwinden wie ich.« Er wendet sich vom Fenster ab, stellt sich direkt vor mich hin und fährt mit gedämpfter Stimme fort:

»Er ist auch nicht dein Aufpasser. Du musst deine Abende nicht damit zubringen, auf ihn zu warten.«

»Er hat ein Land zu regieren«, protestiere ich. »Es ist ja nicht so, als wäre er mit seinen Kumpels beim Saufen.«

»Er ist achtzehn Jahre alt, genau wie du.« Wieder zögert Jake, bevor er fragt: »Willst du ihn heiraten?«

Bei dieser Frage bleibt mir die Luft weg.

Mein Bruder sieht mich durchdringend an. »Harp … du weißt doch, dass es genau darauf hinauslaufen wird, wenn du hierbleibst. Er hat sich eine Allianz mit einem erfundenen Land ausgedacht, die allein davon abhängt, dass ihr beide heiratet.«

Das weiß ich. Natürlich weiß ich das.

Mein Schweigen dauert bereits zu lange. Jake geht zum Kamin. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Heiraten. »Ich … ich habe keine Ahnung.«

Er wirft ein Holzscheit auf die Glut und stochert mit dem Schürhaken in den Kohlestücken herum.

»Du solltest es nicht wissen müssen. Genau darauf will ich hinaus.«

Erste Flämmchen lecken an dem Holz, und Jake schaut über die Schulter zu mir herüber.

»Du solltest nicht in einer Situation feststecken, in der dein Freund gezwungen ist, dich zu heiraten, damit sein Land nicht im Chaosversinkt.«

Ich gehe zum Sofa und lasse mich in die Polster sinken.

»Mann, Jake, was bin ich froh, dass du gekommen bist.«

Inzwischen blickt er wieder ins Feuer, das nun richtig aufflackert und sein braunes Haar mit einem rötlich-goldenen Glanz überzieht. »Ich weiß, dass unser Leben in D.C. nicht einfach war, aber irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre es hier auch nicht besser.«

»Wir wurden von einem Bewaffneten bedroht, als wir Washington verlassen haben«, betone ich.

»Ich weiß, ich weiß.« Als er nichts weiter sagt, ist mir klar, dass dies nichts an seiner Meinung ändert. Und ich weiß nicht, was ich ihm noch sagen soll. »Ich kann nicht weg, Jake.«

»Du liebst ihn.«

»Ja.«

Mit einem tiefen Seufzer setzt er sich zu mir auf das Sofa. Ich lege den Kopf an seine Schulter, und wir starren gemeinsamin die Flammen.

»Die Gerüchteküche brodelt«, sagt Jake irgendwann. »Dass er nicht der rechtmäßige Erbe ist. Dass Karis Luranwieder angreifen wird.«

»Das erzählen sich die Leute doch schon seit Monaten.«

»Inzwischen wundern sie sich aber auch darüber, dass die Truppen aus Disi noch nicht eingetroffen sind. Man munkelt, eure Allianz sei nur Fake.« Er wirft mir einen stechenden Blick zu. »Ich gehe nicht nur, um hier rauszukommen. Ich will auch herausfinden,was außerhalb des Schlosses tatsächlich vorgeht.«

»Rhen würde uns niemals anlügen.«

Nun mustert mich Jake eine ganze Weile, bevor er sagt:

»Rhen belügt das gesamte Land. Wenn du wirklich glaubst, er wäre nicht dazu fähig, uns ebenfalls zu belügen, solltestdu genauer hinsehen.«

Ich schlucke schwer. Nein, so ist Rhen nicht. »Du brauchst jetzt keinen Streit vom Zaun zu brechen, Jake.«

»Tue ich nicht. Ich bitte dich einfach nur darum, selbstständig zu denken.« Verbittert schüttelt er den Kopf. »Noah hat nicht darangeglaubt, dass du mitkommst. Ich hatte gehofft, du würdest es dir zumindest überlegen.«

Mein rastloser Bruder, der so viele schreckliche Dinge getan hat, um mich zu beschützen. Tief in seinem Inneren ist er eben doch liebevoll und mitfühlend. Das weiß ich genau.

»Es tut mir leid.«

Frustriert knirscht Jake mit den Zähnen. »Wenn wir wenigstens wüssten, ob Grey tot ist oder noch lebt.«

»Ja, das wüsste ich auch gern«, nicke ich mit einem schweren Seufzer.

»Allerdings aus anderen Gründen«, stellt Jake fest. »Er war es schließlich, der uns hierhergeschleppt hat.« Kopfschüttelnd reibt er sich das Kinn. Plötzlich wirkt er angespannt.

»Falls er jemals wieder auftaucht, werde ich dafür sorgen, dass er das bitter bereut.«

Keine sonderlich schlimme Drohung. Grey ist vermutlich tot oder sitzt auf der anderen Seite fest, was fast genauso schlimm wäre.

»Warum bist du eigentlich so wütend?«

Sein Blick erinnert mich an einen Gewittersturm kurz vor dem Ausbruch. »Ich sehe jetzt seit Monaten dabei zu, wie sie dich für ihre Zwecke ausnutzen, Harper.«

»Niemand hier nutzt mich aus …«

»Oh doch, das tun sie. Grey hat dich hergebracht, damit du einen Fluch brichst, mit dem du rein gar nichts zu tun hattest. Dann bist du entkommen, und er hat dich wieder her geschleift.«

»Ich wollte zurückkommen.« Wirklich. Und ich bereue diese Entscheidung absolut nicht. Doch erst in diesem Moment, als ich Jake in die Augen sehe, begreife ich, dass er meine Entscheidung bereut. Auch wenn sie ihm vermutlich das Leben gerettet hat, sitzt er nunhier fest und kann nicht wieder nach Hause.

Der Türriegel klickt, und als ich mich umdrehe, steht – wenig überraschend – Rhen in der Tür.

Der Prinz ist noch immer formell gekleidet, die blaue Jacke bis zum Hals geschlossen, mit Schwert an der Hüfte. Das Kaminfeuer lässt seine Haare wie Gold schimmern, kann aber nicht verbergen, wie müde sein Blick ist. Als er mich mit Jake auf dem Sofa entdeckt, bleibt er stehen. Die Spannung hier drin ist so greifbar, dass er sie vermutlich sofort spürt.

»Verzeihung«, sagt Rhen langsam. »Es ist spät. Ich dachte, du wärst allein.«

Jake seufzt hörbar. »Du solltest allein sein. Ich werde gehen.« Er beugt sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf dich auf, Harper. Das meine ich ernst.«

Damit nimmt er seinen bisherigen Worten die Schärfe.

»Danke, großer Bruder.«

Jake wendet sich noch einmal Rhen zu, bevor er nach der Türklinke greift. »Ich breche trotzdem morgen auf«, betont er.

»Eigentlich sogar heute«, stellt Rhen ebenso ruhig fest.

»Mitternacht ist längst vorüber.« Sein Blick wandert zu der Dunkelheit hinter dem Fenster. »Dustan wird euch mit einer kleinen Wachmannschaft begleiten. Wenn ihr wollt, könnt ihr bei Tagesanbruch losreiten.« Das scheint Jake kurz aus dem Konzept zu bringen, aber er erholt sich schnell. »Gut.«

Fragend zieht Rhen eine Augenbraue hoch. »Dachtest du etwa, ich würde nicht zu meinem Wort stehen?«

»Ich dachte, andere Dinge wären für dich von größerer Wichtigkeit.«

»So ist es.« Rhen zieht die Tür weiter auf und hält sie fest. Ein eindeutiger Rausschmiss. Jake setzt zu einem Protest an. Wenn er will, kann Rhen äußerst geduldig sein, doch ich spüre, dass jetzt keiner dieser Momente ist. »Jake«, mahne ich deshalb. »Du hast bekommen, was du willst.«

»Nicht einmal annähernd.« Doch es reicht, um meinem Bruder den Trotz zu nehmen, denn er geht.

Sobald er weg ist, kommt Rhen zu mir herüber. Mit jedem Tag scheinen die Schatten unter seinen Augen tiefer zu werden. Eine finstere, verhaltene Wachsamkeit hat Besitz von ihm ergriffen und lässt ihn nicht mehr los.

»Geht es dir gut?«, frage ich ihn. Wenn er von den Sitzungen mit seinen Ratgebern kommt, ist er immer sehr verschlossen, aber heute ist das noch stärker als sonst. Er wirkt richtig distanziert. Hart. Würde ich ihn nicht kennen, würde ich vor ihm zurückschrecken.

»Was ist denn los? Es ist schon wahnsinnig spät. Ich dachte …«

Er schlingt einen Arm um meine Taille, und ich schnappe nach Luft. Dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Rhen ist so stark und tüchtig, dass es mich immer noch überrascht, wenn er plötzlich sanft wird. Gerade ist er noch durch das Zimmer marschiert, als wäre er auf einem Kriegszug, und dann küsst er mich, als wäre ich die zerbrechlichste Kostbarkeit des ganzen Schlosses. Ich spüre die Wärme seiner Finger durch mein Nachthemd, ihren leichten Druck an meinem Bauch. Schnell lege ich meine Hände an seine Jacke und sauge seinen Duft in mich auf, lasse die Nähe zu ihm die leise Sorge vertreiben, die Jake in mir geweckt hat.

Als Rhen sich von mir löst, zieht er sich gerade mal so weit zurück, dass er sprechen kann. Ich spüre seinen Atem an meinen Lippen, als er mit einem durchdringenden Blick sagt: »Selbst am anderen Ende des Schlosses habe ich gespürt, wie besorgt du bist.«

Sanft streicht er mit dem Daumen über meine Wange. »Und ich spüre das jetzt noch.«

Röte steigt in meine Wangen, und ich weiche seinem Blick aus. Nervös spiele ich mit den Schnallen an seiner Jacke, als müssten sie zurechtgerückt werden. Was natürlich nicht der Fall ist. »Ich bin okay.«

»Harper«, mahnt er leise. Er legt seine Hand auf meine Finger, zwingt sie zur Ruhe.

Ich liebe es, wie er meinen Namen ausspricht. Durch seinen Akzent werden die Rs so betont, dass es beinahe wie ein Schnurren klingt. Oft ist er so förmlich, dass mein Vorname beinahe eine Art geheime Kostbarkeit für uns ist.

Jetzt hebt er mit einem Finger mein Kinn an, damit ich ihm ins Gesicht sehe. »Sag mir, was dich bedrückt.«

»Jake hat mir gerade gesagt, dass er fortgeht.«

»Ah.« Rhen seufzt verstehend. »Dein Bruder ist waghalsig, es fehlt ihm an Geduld, und der Zeitpunkt könnte besser sein – aber auch schlechter. Lieber schicke ich ihn mit meinem Segen los, als dass ich später erfahre, dass er irgendwo im Reich Unruhe gestiftet hat. Dustan wird zu verhindern wissen, dass er in größere Schwierigkeiten gerät.«

»Es überrascht mich schon, dass du ihm den Kommandanten deiner Garde mitgibst.«

»Mir wäre es anders auch lieber, aber ich habe nicht viele Männer, denen ich eine solche Mission anvertrauen könnte. Die Königliche Garde ist noch unerprobt, doch dein Bruder beharrt ja darauf, jetzt zu gehen, ob es mir nun gefällt oder nicht.«

Ja, das klingt definitiv nach Jake.

Rhen mustert mich aufmerksam. »Wäre es dir lieber, wenn ich Zo mitschicke?«

»Nein.« Wenn mein Bruder geht, kann ich nicht auch noch meine Freundin verlieren. »Hat Jake dir erzählt, dass er möchte, dass ich ihn begleite?«

Rhen erstarrt kurz. »Nein. Und wie lautet deine Entscheidung?«

Das gefällt mir mit am besten an ihm: Er ist gebieterisch und entschlossen und gerät nie ins Wanken, aber meine Entscheidungenüberlässt er ausnahmslos mir selbst. »Ich habe abgelehnt.«

Er atmet auf, dann küsst er mich wieder. »Ich habe so lange auf dich gewartet, dass ich nun befürchte, das Schicksal könnte dich mir wieder nehmen.«

Ich drücke die Stirn an seinen Hals und atme seinen warmen Duft ein. »Ich werde nirgendwo hingehen.«

Schweigend drückt er mich an sich, doch ich spüre, dass er noch immer besorgt ist. Unentschlossen beiße ich mir auf die Lippe; eigentlich will ich nicht, dass seine Anspannung sich noch weiter verschlimmert.

»Jake meinte, die Gerüchte um den zweiten Erben hätten zugenommen.«

»Das stimmt.«

Ich lege eine Hand an seine Brust, während ich mir Jakes Worte noch einmal durch den Kopf gehen lasse. »Sprich mit mir, Rhen.«

Er stößt einen gereizten Seufzer aus. »Dieser Erbe existiert. Es gibt Aufzeichnungen darüber, mit dem Siegel meines Vaters. Eigentlich wollte ich die Krönung so bald wie möglich ansetzen, aber viele der Adeligen verlangen einen Beweis dafür, dass die Erbfolge korrekt ist. Also werde ich nun alles tun, um ihnen einen solchen zu liefern.«

»Und wie willst du diesen Erben aufspüren?«

»Das könnte sich als unmöglich erweisen. Vielleicht ist er schon gar nicht mehr am Leben. Wir haben sehr wenige Ausgangspunkte für unsere Suche. Falls seine Mutter – wie die Dokumente es andeuten – eine Magierin war, müsste er über magische Fähigkeiten verfügen, wie die Zauberin Lilith. Sie hat mir einmal gesagt, das Netz der Magie ende nicht bei ihr, dass sie die Existenz eines anderen spüre, der ebenfalls diese Kräfte in sich trage. Zwar ist die Magie bereits seit vielen Jahren aus Emberfallverbannt, aber wenn wir verbreiten lassen, dass es jemanden mit diesen Kräften gibt, dürften sie sich nur schwer verbergen lassen.«

Lilith. Schon wenn ich nur ihren Namen höre, überläuft es mich kalt. »Und was wirst du tun, wenn du ihn findest?«

»Sollte er tatsächlich magische Kräfte haben, wird er vernichtet.«

Mit einem Ruck löse ich mich von ihm. »Rhen!«

Doch er erwidert nichts. Muss er auch gar nicht. Der Ausdruck in seinen Augen verrät schon alles. Ich weiche noch einen Schritt zurück. »Dieser Mann ist dein Bruder.«

»Nein. Er ist ein Fremder«, erwidert er unerbittlich. »Ich war eine Ewigkeit in den Klauen einer Magierin gefangen, und es hat mein Land an den Rand des Untergangs getrieben. Ich werde nicht riskieren, dass Emberfall von einem zweiten Magier vernichtet wird.«

Vollkommen starr stehe ich da. Obwohl direkt neben mir ein Feuer brennt, hat sich eisige Kälte in mir ausgebreitet. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Schon einmal habe ich miterlebt, wie er den Tod eines Menschen befohlen hat, aber dieser Mann hatte einen unserer Wachleute getötet, hätte auch uns getötet, wenn er die Chance dazu gehabt hätte. Das hier ist etwas anderes. Es geschieht aus Berechnung.

Mit Vorsatz.

Rhen kommt näher und will eine Hand an meine Wange legen, doch ich weiche zurück. Mit ausdrucksloser Miene sagt er: »Ich wollte dich nicht aufregen.« Das meint er aufrichtig.

»Mir war nicht klar, dass es für dich so unerwartet kommt. Schließlich hast du mit eigenen Augen gesehen, was Lilith angerichtet hat.«

Ja, das habe ich. Wieder und wieder habe ich miterlebt, wie sie Rhen gefoltert hat. Wie er ihr vollkommen hilflos ausgeliefert war.

»Du hast sicherlich recht«, nicke ich, obwohl ich mir da überhaupt nicht sicher bin. Schaudernd hole ich Luft und drücke zur Beruhigung eine Hand auf meinen Bauch.

Rhen hat schon oft bewiesen, dass er tun wird, was nötig ist, um Emberfall zusammenzuhalten. Und nun beweist er es wieder.

»Du darfst dich nicht von mir zurückziehen«, sagt er leise. Ein ungewohnter Ton hat sich in seine Stimme geschlichen. Es ist nicht wirklich Verletzlichkeit – das niemals –, aber etwas sehr Ähnliches.

»Bitte. Das könnte ich nicht ertragen.«

Er wirkt so erschöpft, ist so angespannt. Wann er wohl das letzte Mal geschlafen hat? Mit einem tiefen Atemzug vertreibe ich das Zittern aus meinen Händen und schlinge ihm die Arme um den Bauch.

»Sag mir, was dich bedrückt«, flüstere ich.

»Wir wissen nicht einmal, ob Lilith tot ist«, beginnt Rhen. »Sollte sie diesen Erben aufspüren, sollten die beiden sichgegen mich verbünden …«

»Es ist jetzt Monate her. Entweder ist sie auf der anderen Seite gefangen oder Grey ist es.«

»Oder er hat ihr seinen Eid geleistet, wie wir es ja gesehen haben, und sie wartet nur auf den richtigen Moment.«

Grey hat Lilith Treue geschworen, um mich zu retten – um ihr dann sein Schwert an die Kehle zu drücken und mit ihr auf die andere Seite zu verschwinden, nach Washington, D.C.

»Er würde ihr niemals helfen«, betone ich. »Rhen. Das würde er nie tun.«

»Ich muss mein Volk beschützen, Harper.«

Rhen lehnt sich an mich, und ich höre, wie sein Atem sich verlangsamt. Als ich eine Hand an seine Wange lege, schließt er die Augen. Vor einigen Monaten gab es einen Moment, als er das Monster war … da hat er seinen Kopf an meine Hand gedrückt und ist auch ganz ruhig geworden, so wie jetzt. Damals konnte ich seine Angst spüren. Genau wie jetzt.

»Du bist kein Monster mehr«, flüstere ich.

»Ich habe einige Wachen zum Haus von Greys Mutter geschickt, ins Wildthorne-Tal«, sagt er langsam.

Meine Hand erstarrt an seiner Wange. »Was? Wann?«

»Letzte Woche. Nur um sicherzugehen.« Er unterbricht sich kurz. »Heute sind sie zurückgekehrt.«

Grey hat mir einmal erzählt, dass Lilith seine gesamte Familie getötet hat, nur seine Mutter ließ sie am Leben. »Und, was haben sie gefunden?«

»Seine Mutter war fort. Im Ort sagten sie, sie hätte schon vor Monaten ihr Vieh verkauft und sei weggezogen. Niemand wusste, wo sie hin ist.« Wieder zögert er. »Angeblich war für eine Weile ein Verwundeter bei ihr untergekommen, aber niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen.«

Mir stockt der Atem. »Grey könnte also noch leben«, flüstere ich.

»Ja.« Trotz seines unerbittlichen Tonfalls höre ich die Sorge und die Unsicherheit heraus, die Rhen zu verbergen versucht.

»Nach allem, was mir berichtet wurde, gehe ich davon aus, dass Grey quicklebendig ist.«

Ich schaue zu ihm hoch. »Grey würde ihr niemals Gefolgschaft schwören, Rhen.«

»Falls das wirklich so ist, warum ist er dann nicht nach Ironrose zurückgekehrt?«

Ich versuche, eine Antwort zu finden. Vergeblich. »Karis Luran könnte jederzeit angreifen«, fährt Rhen fort.

»Dieser Erbe könnte jederzeit in Erscheinung treten.« Nach einer kurzen Pause ergänzt er: »Und Lilith könnte nur auf den perfekten Moment lauern, um zuzuschlagen.«

Wieder lege ich meinen Kopf an Rhens Brust und sehe zum Fenster hinüber, hinter dem der Sternenhimmel funkelt.

»Ach, Grey«, sage ich leise. »Wo steckst du nur?«

»Das ist die Frage«, seufzt Rhen. In jedem Wort schwingen Sehnsucht, Trauer und Sorge mit. Sanft haucht er einen Kuss auf mein Haar. »Das ist die Frage.«

In Band 1 reinlesen:

Leseprobe: RHEN

Da ist Blut unter meinen Fingernägeln. Ich frage mich, wie viele von meinen Leuten ich dieses Mal getötet habe.

Entschlossen tauche ich die Hände in das Fass neben den Ställen. Das eiskalte Wasser beißt in meine Haut, aber das Blut geht nicht ab. Das bräuchte mich nicht zu kümmern, weil es in einer Stunde sowieso weg sein wird, aber ich hasse es. Das Blut. Die Ungewissheit.

Irgendwo hinter mir sind Hufschläge auf dem Kopfsteinpflaster zu hören, begleitet vom Klirren eines Zaumzeugs. Ich muss nicht hinsehen. Mein Wachkommandant folgt mir immer in sicherer Entfernung, bis die Verwandlung abgeschlossen ist. Wachkommandant.

Als ob Grey noch Männer zum Kommandieren hätte. Als ob ihm der Titel nicht mangels Konkurrenz selbst zugefallen wäre.Ich streife das Wasser von meinen Händen und drehe mich um. Grey steht ein paar Meter entfernt und hält Ironheart, das schnellste Pferd im Stall, am Zügel. Das Tier atmet schwer, Brust und Flanken sind trotz der frühmorgendlichen Kühle schweißnass.Obwohl wir hier schon lange festsitzen, ist Greys Erscheinung trotzdem eine fortwährende Überraschung: Er sieht noch genauso jung aus wie an dem Tag, als er einen Posten in der elitären Königsgarde erhalten hat. Sein dunkles Haar ist leicht zerzaust, sein Gesicht faltenlos. Die Uniform passt ihm immer noch gut, jede Schnalle, jeder Riemen sitzt perfekt, jede Waffe glänzt in der Dämmerung.

Einst trug er Feuereifer im Blick, glitzerndes Verlangen nach Abenteuer und Herausforderung.

Das alles ist längst verschwunden – aber das ist schon das Einzige an ihm, was der Fluch nicht immer wieder aufs Neue herstellt.

Ich frage mich, ob mein unverändertes Aussehen ihn auch erschreckt.

»Wie viele?«, frage ich.

»Keiner. Alle Eure Leute sind für diesmal in Sicherheit.«

Für diesmal. Ich sollte erleichtert sein und bin es nicht. Die Menschen werden schon bald wieder in Gefahr sein. »Und das Mädchen?«

»Weg. Wie immer.«

Ich schaue erneut auf meine blutbefleckten Hände, und eine vertraute Enge schnürt mir den Brustkorb zu. Dann trete ich noch mal an das Fass und tauche meine Hände ins Wasser. Es ist so kalt, dass es mir beinahe den Atem verschlägt.

»Ich bin über und über mit Blut besudelt, Kommandant.«

Eine schwache Regung von Zorn breitet sich in mir aus. »Ich muss irgendwas getötet haben.«

Als würde es die Gefahr spüren, stampft und tänzelt sein Pferd am Zügel. Grey streckt die Hand aus, um das Tier zu beruhigen.Früher wäre ein Stallbursche herbeigeeilt, um das Pferd zu übernehmen. Einst gab es ein Schloss voller Höflinge und Geschichtsschreiber und Ratgeber, die für ein bisschen Klatsch und Tratsch über Prinz Rhen, den Thronerben von Emberfall, sogar bezahlt hätten. Früher gab es eine Königsfamilie, die über meine Eskapaden die Stirn gerunzelt hätte.

Doch jetzt gibt es nur noch mich und Grey.

»Ich habe eine Spur Menschenblut auf dem Pfad hinterlassen, der aus dem Wald führt«, sagt er, ungerührt von meinem gereizten Ton, der ihm bereits vertraut ist. »Das Pferd hat eine sinnlose Verfolgungsjagd angeführt, bis Ihr im südlichsten Teil Eures Territoriums auf eine Herde Hirsche gestoßen seid. Von den Dörfern haben wir uns ferngehalten.«

Das erklärt den Zustand des Pferds. Wir haben heute Nacht eine weite Strecke zurückgelegt.

»Ich übernehme das Pferd«, sage ich. »Die Sonne wird bald aufgehen.«

Grey gibt mir die Zügel. Diese letzte Stunde ist immer die schwerste. Voller Bedauern über mein erneutes Scheitern. Wie immer wünsche ich mir nur noch, es wäre vorbei.

»Irgendwelche besonderen Wünsche, Mylord?«

Ganz am Anfang war ich leichtfertig genug, darauf mit Ja zu antworten. Ich habe mir Blonde oder Brünette gewünscht. Große Brüste, lange Beine oder eine schmale Taille. Ich habe ihnen Wein eingeschenkt und umwarb sie, und wenn sie mich nicht geliebt haben, war rasch eine andere gefunden. Anfangs war mir der Fluch noch wie ein Spiel erschienen.

Such mir eine, die dir gefällt, Grey, pflegte ich lachend zu sagen, als wäre es ein Privileg, Frauen für seinen Prinzen zu finden.

Dann veränderte ich mich, und das Ungeheuer wütete im Schloss und hinterließ ein Blutbad.

Als all das aber von vorne begann, hatte ich keine Familie mehr. Keine Dienerschaft. Nur noch sechs Wachen, zwei davon schwer verletzt.

Beim dritten Versuch war mir nur noch einer geblieben.

Grey wartet auf eine Antwort. Ich sehe ihm in die Augen. »Nein, Kommandant. Jede ist recht.« Seufzend führe ich das Pferd in Richtung der Stallungen, doch dann bleibe ich noch mal stehen und drehe mich um. »Wessen Blut war das auf dem Pfad?«

Grey hebt einen Arm und schiebt den Ärmel zurück. Aus einer langen Schnittwunde tropft immer noch Blut auf seine Hand. Ein dünnes dunkelrotes Rinnsal.

Ich gebe ihm die Anweisung, sich zu verbinden, aber in einer Stunde, wenn die Sonne aufgegangen ist, wird die Wunde ohnehin verschwunden sein.

Genauso wie das Blut an meinen Händen und der Schweiß auf den Flanken des Pferds. Das Kopfsteinpflaster wird sich von den Strahlen der Morgensonne erwärmen und mein Atem nicht mehr als Wölkchen zu sehen sein.

Grey wird ein neues Mädchen bringen, und das alles wird erneut beginnen.

Es wird wieder Herbst sein. Die Jahreszeit wird von Neuem anfangen – der Beginn eines neuen Versuchs.

Ich werde wieder achtzehn.

Zum 327. Mal.

Erscheint am 21. Juni 2021.

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Erscheint am 16. August 2021.

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