»Das also war ihr Reich: ein achteckiges Haus, ein Zimmer voller Bücher und ein Bär.« Geradezu paradiesisch klang das für mich, als ich den Roman das erste Mal las, im Dezember des Jahres 2020. Mehr als acht Monate Pandemie waren vergangen, Wohnungen und Häuser waren zu Höhlen geworden, in denen alles seinen Platz finden musste, die Tage und die Nächte, die Arbeit der Erwachsenen, das Lernen der Kinder, der Streit, die Versöhnung, die Erschöpfung, die Unordnung der Gefühle und der Dinge. Wer das Zuhause mit anderen teilte, sehnte sich nach dem Alleinsein. Wer allein lebte, sehnte sich nach einer Berührung.
Eine Frau, ein großes Haus, viele Bücher, ein Bär. Ah ja? Ich glaube, dieses Buch brauche ich jetzt, so meine Reaktion, als ich durch eine Empfehlung auf Marian Engels Roman aufmerksam geworden war. Ich besorgte mir eine alte Ausgabe in einem Online-Antiquariat und war nach den ersten Seiten wie elektrisiert, der Text zog mich in seine Welt, wurde zu einer Zuflucht, zu einem seltsamen, aufregenden Ort.
Wenige Tage nach der ersten Lektüre las ich ihn ein zweites Mal, aufs Neue erstaunt und fasziniert, mit welcher Leichtigkeit die Autorin auf 190 Seiten so vielfältige Deutungsräume öffnete. Scheinbar mühelos verhandelte sie inmitten der Magie eines Sommers in Kanada große, komplizierte Fragen, die sich um Freiheit und Begehren, um Macht und Gewalt drehen, um Männer und Frauen. Um kanadische Geschichte, um europäische Kultur und Kolonisierung. Und um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Was für ein Buch. Bär war 1976 erschienen, fast fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, doch der Roman kommt mir ungemein zeitgemäß vor. Der Text scheint mit den sich verändernden Zeiten zu wachsen, ein Kunstwerk, das immer wieder neu gelesen werden kann - das jetzt gelesen werden muss!, dachte ich.
In Kanada und USA war das Buch Mitte der Siebziger Jahre ein Bestseller und wurde mit dem renommierten Governor General's Literary Award ausgezeichnet, den unter anderen auch Alice Munro und Margaret Atwood mehrmals erhalten haben. Im Februar 1985, mit gerade erst 51 Jahren, starb Marian Engel, und Bär hat seitdem abwechselnd Phasen des Vergessens und der Wiederentdeckung erlebt.
Nun war das Buch auch mir begegnet, wie stille Post verbreiteten sich die Empfehlungen, etwas war an dem Roman, das gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt berührte und neugierig machte.* Vielleicht lag es daran, dass während dieses Pandemiewinters der Frühling und das Licht am Ende des Tunnels so weit weg schienen, dass da ein diffuses Verlangen war, das auf einmal einen Resonanzraum bekam, das zu einem Verlangen nach einer Insel, einem Sommer, einem Haus und einem Bären wurde; doch nicht nur das, vielleicht hing es auch damit zusammen, dass sich während dieser Zeit so vieles hinterfragen ließ: unsere Gewohnheiten und Ansprüche, unser Miteinander und unsere Perspektive auf die Zukunft dieses Planeten, die Fragen von Verzicht, Vernunft und Solidarität, die sich im Umgang mit Pandemie und Erderwärmung gleichermaßen stellten.
Ich konnte den Bären nicht vergessen und recherchierte, ob womöglich schon längst eine Neuauflage geplant war, aber es sah nicht danach aus. Ich sprach mit meiner Lektorin über das Buch, die stille Post setzte ihren Weg fort, die Faszination wurde weitergetragen, und es dauerte nicht lange, da war klar:
Der Bär kommt zurück!
Virginia Woolf forderte in ihrem viel zitierten Essay über weibliche Schaffenskraft und Freiheit ein Zimmer für sich allein. Marian Engel schenkte ihrer Heldin gleich eine Flussinsel mit einem großen Haus darauf. Darin die historische Bibliothek, die Lou über Monate hinweg katalogisieren soll. Und in der Nähe nur dieser Bär, der nichts von ihr fordert oder erwartet, der keine Fragen stellt oder Kommentare abgibt. Lous einzige Aufgabe besteht darin, sich an diesem Ort einzurichten, den Bären zu versorgen und sich mit dem Bestand der Bücher zu beschäftigen. Die Geschichte einer Frau, die in aller Ruhe den schönsten Job ihres Lebens erledigen und sich ausschließlich um sich selbst kümmern darf. Die Ankunft auf der Insel nach einem langen Winter, einem höhlenartigen Dasein, »wie ein Maulwurf, tief vergraben in ihren Papieren«, erscheint wie ein Erwachen. Lou wird in einem Boot vom Festland zur Insel gebracht, der Sommer kündigt sich an, es ist zwar noch kühl, doch die Natur ist schon voll da. Lou verbringt die erste Nacht im Haus, beginnt den ersten Morgen, bereitet sich ein erstes Frühstück zu, Schritt für Schritt ein Ankommen im Neuen. Die Entdeckerin sein, einmal die Entdeckerin sein, doch Lous Euphorie ist auch verbunden mit der Befürchtung, diese Möglichkeit wieder verlieren zu können, sie entzogen zu bekommen, als wäre alles ein Irrtum gewesen. Denn eine Entdeckerin zu sein, das ist ein Glücksfall, nicht die Normalität, so zumindest scheint es Lou vom Leben und von der Gesellschaft gelernt zu haben. »Wenn mir die Erfahrung nicht wieder weggenommen werden soll«, dachte sie, »muss ich sofort damit anfangen, sie zu machen.« Zugleich, das entfaltet sich im Laufe des Romans, ist die Rolle der Entdeckerin auch ambivalent; entdecken, die Welt erobern, sich das Land erschließen - die postkoloniale Aufarbeitung hat uns ins Bewusstsein gerufen, dass diese Begriffe und Bilder immer auch mit Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung verbunden sein können, und das ist das Besondere an diesem Roman, er geht diesen Fragen nicht aus dem Weg. Der Bär, der an einer langen Kette in der Blockhütte neben dem Haus lebt, macht auf Lou einen traurigen Eindruck. Sie vergleicht ihn mit einer Frau, die zu lange herumgesessen und auf ihren Mann gewartet hat. Sie stellt sich vor, ihn zu befreien, und während wir weiterlesen, verstehen wir, dass Lou ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle auf den Bären überträgt. Lou, die von einem Mann für eine andere, jüngere, wie der Mann fand: fürsorglichere Frau verlassen worden war, Lou, die um dieses mittelmäßige Leben auch noch getrauert hat und die zuletzt mit ihrem Institutsdirektor eine halbherzige, unerfüllte sexuelle Beziehung geführt hat. Lou hält für sich fest: Sie wird sich nie wieder mit etwas so Dürftigem zufriedengeben. Lou beginnt den Bären ergründen zu wollen, »wer und was bist du?«, fragt sie sich, fragt sie ihn, und diese Frage zieht sich durch den gesamten Roman, weil sie irgendwann aus Liebe gestellt wird. Sie lässt ihn von der Kette, geht mit ihm zum Fluss, beobachtet kleine Anzeichen von Rebellion und Lebensfreude an ihm, sie schwimmen zusammen, sie spürt die Gefahr, die von der Masse und der Kraft des Bären ausgeht. Eines Abends dann kommt er ins Haus. Offenbar kennt er sich dort aus. Sie beginnt den Bären zu begehren, sein Fell, seinen Geruch und seine unergründliche Seele.
Der Bär bleibt bis zum Schluss ein Bär und ein Geheimnis, und Lou macht sich nichts vor, am Ende weiß sie, dass all ihre Interpretationen seines Verhaltens und seines Ausdrucks nichts als die eigenen Projektionen sind und dass ihr Verlangen auch einen Übergriff darstellt.
(...) Der Bär sei schon deshalb realistisch erzählt, weil sie die Nase voll habe von kanadischem Nature Writing, sagte Engel 1976 in einem Interview. Nebenbei, die Ironie, die Komik auch, ich musste beim Lesen an das Bild des Bärenfells vor dem Kaminfeuer denken, das oft in klischeehaften, meist aus männlicher Perspektive erzählten Sexszenen in Film, Fernsehen oder Fotografie vorgekommen ist. (…) Ein Poster aus der Cosmopolitan, das erste Male Centerpiece des Magazins, das als weibliche Antwort auf das Playmate des Monats gedacht war. Ein damals bekannter Schauspieler (Burt Reynolds) liegt nackt auf einem Bärenfell (offenbar da schon ironisch gemeint, dieses Fell). Dieses Poster hatte damals für Aufsehen und Diskussion gesorgt, es wurde als Statement gelesen, als Forderung an die Unterhaltungsbranche oder überhaupt an die Gesellschaft, weibliche Sexualität nicht länger mit Scham oder Schuld zu belegen, zu ignorieren, klein zu halten. Männer, die Frauen anschauen, das ist die Norm - das Poster kehrte das Verhältnis um, female gaze statt male gaze; selbst jetzt noch, fünfzig Jahre später, gilt der weibliche Blick in Film und Fotografie als außergewöhnlich und subversiv.
Lou formuliert es so: »Denn was ihr an Männern missfiel, war nicht deren Erotik, sondern ihre Unterstellung, Frauen hätten keine.«
Wahrscheinlich kannte Marian Engel das Cosmopolitan-Poster, viele Zeitungen, unter anderem The New York Times, berichteten darüber. Ob die Diskussion für den Roman überhaupt eine Rolle spielte, darauf gibt es keinen Hinweis, es ist nicht wichtig, der Kontext ist da - Marian Engel hat Lou kein Bärenfell beschert, auf das sie sich legen soll, nicht einmal den Mann auf dem Fell, sondern den lebendigen Bären. (…)
Erfahrungen mit übergriffigen Männern werden im Text mehrmals angedeutet, sie haben sich in Lous Bewusstsein eingeschrieben. Ein Bär macht Lou nicht mehr Angst als ein Mann. Warum sollte er auch?, würde Lou vielleicht heute noch sagen. Das größte Risiko für eine Frau bleibt ihr - menschlicher, männlicher - Partner oder Expartner. Wenn es um Gewaltverbrechen geht, ist statistisch gesehen das Zuhause der gefährlichste Ort für sie. Warum also sollte sich Lou vor einem Bären fürchten, dessen Selbstgewissheit nicht von Zurückweisung oder Widerspruch erschüttert wird, der keine Wut aus verletztem Stolz oder tiefer Verunsicherung heraus empfindet, der Lou weder beurteilen noch kontrollieren will. Oder wie Marian Engel im Interview sagt: Frauen hätten sich auch so schon oft genug in Lebenslagen befunden, in denen sie herausfanden, dass die Menschen, mit denen sie sich eingelassen hatten, nicht gut für sie waren. Lou sitzt am Kamin, in der Hand ein Glas Whisky, die nackten Füße im Fell des Bären, den Blick auf das Gemälde des Colonel Cary gerichtet, und erkennt auf einmal, welche Symbolkraft diese Situation in sich trägt. Sie und der Bär, hier, zusammen, geben ein Bild ab, das sich weit außerhalb der Vorstellungskraft von Männern wie dem Colonel befunden hätte. (…)
Alice Munro sagte über Engel, sie sei eine der ersten Autorinnen in Kanada gewesen, die das Leben von Frauen und Müttern, »at their most muddled«, sprich, mit dem Geflecht aus Problemen und Sehnsüchten, mit all den Widersprüchen erforschte. (…)