"BÄR ist ein seltsames Buch ...

Bewundert von großen Autorinnen wie Margaret Atwood oder Lauren Groff geht eine geheimnisvolle Faszination von dem Text aus, der bei Erscheinen in den 70ern in Kanada genauso wirkte, wie er es heute auf uns tut. BÄR trägt ein Geheimnis, BÄR ist ein sensationeller Text, so vielschichtig und fein wie unverschämt und irgendwie skandalös. Wenn man BÄR gelesen hat und ihn unbedingt weiterempfehlen möchte, muss man erst einmal lernen über BÄR zu sprechen. Und über Lou. Darüber, was ihr da widerfährt – und darüber, was das alles mit uns zu tun hat. Dieser Text bringt einen aus der Fassung, und das macht wirklich großen Spaß."
Die Lektorin Madlen über BÄR

»Bär«, rief sie. »Ich liebe dich. Reiß mir den Kopf ab.«

Lou ist eine schüchterne, fleißige Bibliothekarin. Sie lebt eine maulwurfartige Existenz, begraben zwischen vergilbten Karten und Manuskripten in ihrem staubigen Kellerbüro. Da sie nichts und niemanden hat, zu dem sie nach Hause gehen kann, gibt sie sich dem leidenschaftslosen Sex mit dem Direktor des Instituts auf ihrem Schreibtisch hin. Den Sommer soll sie auf einer abgelegenen Flussinsel im Norden Kanadas verbringen, um den Nachlass eines Colonels aus dem 19. Jahrhundert zu katalogisieren. Dass sie nicht allein in der Einsamkeit der kleinen, wuchernden Insel lebt, sondern sich auch um einen halbzahmen Bären kümmern muss, hat ihr vorher niemand erzählt.
Als der Sommer über der Flussinsel blüht und Lou die Stadt von sich abschüttelt, verfliegt der erste Schreck über dieses hungrige, undurchschaubare Wesen und weicht einer unergründlichen Faszination.

Hardcover
eBook
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"Bär – definitiv ein Buch, welches nicht nur zum Nachdenken ...

sondern auch zum Diskutieren anregt. Während man im ersten Moment einfach perplex ist, von dem, was man da gerade liest, schafft das Nachwort von Kristine Bilkau noch einmal einen ganz neuen Blickwinkel auf die Dinge. Der anfängliche Nebel verzieht sich und man beginnt zu verstehen. Das Buch, welches 1976 in Kanada erschien, ist auch heute noch hochaktuell und spricht Themen wie Feminismus, Nachhaltigkeit und Selbstbestimmung an. Eine klare Empfehlung für alle Literatur-Liebhaber- und -Entdecker:innen! "
Unsere Auszubildende Josephine über BÄR

Kristine Bilkau über BÄR - Eine Einordnung und die Geschichte einer Wiederentdeckung

Auszug aus dem Nachwort "Verwandlungen"

»Das also war ihr Reich: ein achteckiges Haus, ein Zimmer voller Bücher und ein Bär.« Geradezu paradiesisch klang das für mich, als ich den Roman das erste Mal las, im Dezember des Jahres 2020. Mehr als acht Monate Pandemie waren vergangen, Wohnungen und Häuser waren zu Höhlen geworden, in denen alles seinen Platz finden musste, die Tage und die Nächte, die Arbeit der Erwachsenen, das Lernen der Kinder, der Streit, die Versöhnung, die Erschöpfung, die Unordnung der Gefühle und der Dinge. Wer das Zuhause mit anderen teilte, sehnte sich nach dem Alleinsein. Wer allein lebte, sehnte sich nach einer Berührung.
Eine Frau, ein großes Haus, viele Bücher, ein Bär. Ah ja? Ich glaube, dieses Buch brauche ich jetzt, so meine Reaktion, als ich durch eine Empfehlung auf Marian Engels Roman aufmerksam geworden war. Ich besorgte mir eine alte Ausgabe in einem Online-Antiquariat und war nach den ersten Seiten wie elektrisiert, der Text zog mich in seine Welt, wurde zu einer Zuflucht, zu einem seltsamen, aufregenden Ort.

Wenige Tage nach der ersten Lektüre las ich ihn ein zweites Mal, aufs Neue erstaunt und fasziniert, mit welcher Leichtigkeit die Autorin auf 190 Seiten so vielfältige Deutungsräume öffnete. Scheinbar mühelos verhandelte sie inmitten der Magie eines Sommers in Kanada große, komplizierte Fragen, die sich um Freiheit und Begehren, um Macht und Gewalt drehen, um Männer und Frauen. Um kanadische Geschichte, um europäische Kultur und Kolonisierung. Und um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

Was für ein Buch. Bär war 1976 erschienen, fast fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, doch der Roman kommt mir ungemein zeitgemäß vor. Der Text scheint mit den sich verändernden Zeiten zu wachsen, ein Kunstwerk, das immer wieder neu gelesen werden kann - das jetzt gelesen werden muss!, dachte ich.

In Kanada und USA war das Buch Mitte der Siebziger Jahre ein Bestseller und wurde mit dem renommierten Governor General's Literary Award ausgezeichnet, den unter anderen auch Alice Munro und Margaret Atwood mehrmals erhalten haben. Im Februar 1985, mit gerade erst 51 Jahren, starb Marian Engel, und Bär hat seitdem abwechselnd Phasen des Vergessens und der Wiederentdeckung erlebt.

Nun war das Buch auch mir begegnet, wie stille Post verbreiteten sich die Empfehlungen, etwas war an dem Roman, das gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt berührte und neugierig machte.* Vielleicht lag es daran, dass während dieses Pandemiewinters der Frühling und das Licht am Ende des Tunnels so weit weg schienen, dass da ein diffuses Verlangen war, das auf einmal einen Resonanzraum bekam, das zu einem Verlangen nach einer Insel, einem Sommer, einem Haus und einem Bären wurde; doch nicht nur das, vielleicht hing es auch damit zusammen, dass sich während dieser Zeit so vieles hinterfragen ließ: unsere Gewohnheiten und Ansprüche, unser Miteinander und unsere Perspektive auf die Zukunft dieses Planeten, die Fragen von Verzicht, Vernunft und Solidarität, die sich im Umgang mit Pandemie und Erderwärmung gleichermaßen stellten.
Ich konnte den Bären nicht vergessen und recherchierte, ob womöglich schon längst eine Neuauflage geplant war, aber es sah nicht danach aus. Ich sprach mit meiner Lektorin über das Buch, die stille Post setzte ihren Weg fort, die Faszination wurde weitergetragen, und es dauerte nicht lange, da war klar:

Der Bär kommt zurück!

Virginia Woolf forderte in ihrem viel zitierten Essay über weibliche Schaffenskraft und Freiheit ein Zimmer für sich allein. Marian Engel schenkte ihrer Heldin gleich eine Flussinsel mit einem großen Haus darauf. Darin die historische Bibliothek, die Lou über Monate hinweg katalogisieren soll. Und in der Nähe nur dieser Bär, der nichts von ihr fordert oder erwartet, der keine Fragen stellt oder Kommentare abgibt. Lous einzige Aufgabe besteht darin, sich an diesem Ort einzurichten, den Bären zu versorgen und sich mit dem Bestand der Bücher zu beschäftigen. Die Geschichte einer Frau, die in aller Ruhe den schönsten Job ihres Lebens erledigen und sich ausschließlich um sich selbst kümmern darf. Die Ankunft auf der Insel nach einem langen Winter, einem höhlenartigen Dasein, »wie ein Maulwurf, tief vergraben in ihren Papieren«, erscheint wie ein Erwachen. Lou wird in einem Boot vom Festland zur Insel gebracht, der Sommer kündigt sich an, es ist zwar noch kühl, doch die Natur ist schon voll da. Lou verbringt die erste Nacht im Haus, beginnt den ersten Morgen, bereitet sich ein erstes Frühstück zu, Schritt für Schritt ein Ankommen im Neuen. Die Entdeckerin sein, einmal die Entdeckerin sein, doch Lous Euphorie ist auch verbunden mit der Befürchtung, diese Möglichkeit wieder verlieren zu können, sie entzogen zu bekommen, als wäre alles ein Irrtum gewesen. Denn eine Entdeckerin zu sein, das ist ein Glücksfall, nicht die Normalität, so zumindest scheint es Lou vom Leben und von der Gesellschaft gelernt zu haben. »Wenn mir die Erfahrung nicht wieder weggenommen werden soll«, dachte sie, »muss ich sofort damit anfangen, sie zu machen.« Zugleich, das entfaltet sich im Laufe des Romans, ist die Rolle der Entdeckerin auch ambivalent; entdecken, die Welt erobern, sich das Land erschließen - die postkoloniale Aufarbeitung hat uns ins Bewusstsein gerufen, dass diese Begriffe und Bilder immer auch mit Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung verbunden sein können, und das ist das Besondere an diesem Roman, er geht diesen Fragen nicht aus dem Weg. Der Bär, der an einer langen Kette in der Blockhütte neben dem Haus lebt, macht auf Lou einen traurigen Eindruck. Sie vergleicht ihn mit einer Frau, die zu lange herumgesessen und auf ihren Mann gewartet hat. Sie stellt sich vor, ihn zu befreien, und während wir weiterlesen, verstehen wir, dass Lou ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle auf den Bären überträgt. Lou, die von einem Mann für eine andere, jüngere, wie der Mann fand: fürsorglichere Frau verlassen worden war, Lou, die um dieses mittelmäßige Leben auch noch getrauert hat und die zuletzt mit ihrem Institutsdirektor eine halbherzige, unerfüllte sexuelle Beziehung geführt hat. Lou hält für sich fest: Sie wird sich nie wieder mit etwas so Dürftigem zufriedengeben. Lou beginnt den Bären ergründen zu wollen, »wer und was bist du?«, fragt sie sich, fragt sie ihn, und diese Frage zieht sich durch den gesamten Roman, weil sie irgendwann aus Liebe gestellt wird. Sie lässt ihn von der Kette, geht mit ihm zum Fluss, beobachtet kleine Anzeichen von Rebellion und Lebensfreude an ihm, sie schwimmen zusammen, sie spürt die Gefahr, die von der Masse und der Kraft des Bären ausgeht. Eines Abends dann kommt er ins Haus. Offenbar kennt er sich dort aus. Sie beginnt den Bären zu begehren, sein Fell, seinen Geruch und seine unergründliche Seele.

Der Bär bleibt bis zum Schluss ein Bär und ein Geheimnis, und Lou macht sich nichts vor, am Ende weiß sie, dass all ihre Interpretationen seines Verhaltens und seines Ausdrucks nichts als die eigenen Projektionen sind und dass ihr Verlangen auch einen Übergriff darstellt.

(...) Der Bär sei schon deshalb realistisch erzählt, weil sie die Nase voll habe von kanadischem Nature Writing, sagte Engel 1976 in einem Interview. Nebenbei, die Ironie, die Komik auch, ich musste beim Lesen an das Bild des Bärenfells vor dem Kaminfeuer denken, das oft in klischeehaften, meist aus männlicher Perspektive erzählten Sexszenen in Film, Fernsehen oder Fotografie vorgekommen ist. (…) Ein Poster aus der Cosmopolitan, das erste Male Centerpiece des Magazins, das als weibliche Antwort auf das Playmate des Monats gedacht war. Ein damals bekannter Schauspieler (Burt Reynolds) liegt nackt auf einem Bärenfell (offenbar da schon ironisch gemeint, dieses Fell). Dieses Poster hatte damals für Aufsehen und Diskussion gesorgt, es wurde als Statement gelesen, als Forderung an die Unterhaltungsbranche oder überhaupt an die Gesellschaft, weibliche Sexualität nicht länger mit Scham oder Schuld zu belegen, zu ignorieren, klein zu halten. Männer, die Frauen anschauen, das ist die Norm - das Poster kehrte das Verhältnis um, female gaze statt male gaze; selbst jetzt noch, fünfzig Jahre später, gilt der weibliche Blick in Film und Fotografie als außergewöhnlich und subversiv.

Lou formuliert es so: »Denn was ihr an Männern missfiel, war nicht deren Erotik, sondern ihre Unterstellung, Frauen hätten keine.«

Wahrscheinlich kannte Marian Engel das Cosmopolitan-Poster, viele Zeitungen, unter anderem The New York Times, berichteten darüber. Ob die Diskussion für den Roman überhaupt eine Rolle spielte, darauf gibt es keinen Hinweis, es ist nicht wichtig, der Kontext ist da - Marian Engel hat Lou kein Bärenfell beschert, auf das sie sich legen soll, nicht einmal den Mann auf dem Fell, sondern den lebendigen Bären. (…)
Erfahrungen mit übergriffigen Männern werden im Text mehrmals angedeutet, sie haben sich in Lous Bewusstsein eingeschrieben. Ein Bär macht Lou nicht mehr Angst als ein Mann. Warum sollte er auch?, würde Lou vielleicht heute noch sagen. Das größte Risiko für eine Frau bleibt ihr - menschlicher, männlicher - Partner oder Expartner. Wenn es um Gewaltverbrechen geht, ist statistisch gesehen das Zuhause der gefährlichste Ort für sie. Warum also sollte sich Lou vor einem Bären fürchten, dessen Selbstgewissheit nicht von Zurückweisung oder Widerspruch erschüttert wird, der keine Wut aus verletztem Stolz oder tiefer Verunsicherung heraus empfindet, der Lou weder beurteilen noch kontrollieren will. Oder wie Marian Engel im Interview sagt: Frauen hätten sich auch so schon oft genug in Lebenslagen befunden, in denen sie herausfanden, dass die Menschen, mit denen sie sich eingelassen hatten, nicht gut für sie waren. Lou sitzt am Kamin, in der Hand ein Glas Whisky, die nackten Füße im Fell des Bären, den Blick auf das Gemälde des Colonel Cary gerichtet, und erkennt auf einmal, welche Symbolkraft diese Situation in sich trägt. Sie und der Bär, hier, zusammen, geben ein Bild ab, das sich weit außerhalb der Vorstellungskraft von Männern wie dem Colonel befunden hätte. (…)

Alice Munro sagte über Engel, sie sei eine der ersten Autorinnen in Kanada gewesen, die das Leben von Frauen und Müttern, »at their most muddled«, sprich, mit dem Geflecht aus Problemen und Sehnsüchten, mit all den Widersprüchen erforschte. (…)

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Leserstimmen

ein literarisches Kaleidoskop

29.05.2022

Bereits vor einiger Zeit hat die Buchhändlerin meines Vertrauens Marian Engels „Bär“ im Original gelesen und dann davon geschwärmt. Damals hat mich nicht nur ihre Rezension angesprochen, sondern auch der The Guardian-Artikel, den sie in dieser erwähnt und empfiehlt. Jedenfalls – ein Aspekt, auf den das Buch leider zu gerne reduziert wird, hat mich sehr abgeschreckt: der erotische. Sex mit einem Bären – Fantasy gepaart mit einem Erotik-Roman? Nein, danke!
Meine Neugier war dann doch stärker. Und ich gebe zu, das lag am Beruf der Protagonistin, die ist nämlich (so wie ich) Bibliothekarin. Sie, Lou, führt ein eintöniges, ereignisarmes Leben – und doch liebt sie ihren Beruf. Engel schafft es, Lou’s Leben in all seinen Ambivalenzen und dadurch sehr plastisch darzustellen. Als sich Lou nun die Chance bietet aus beruflichen Gründen die Stadt zu verlassen und so aus ihrem tristen Leben auszubrechen, nutzt sie diese. Statt ihres staubigen Kellerbüros lebt sie nun für einige Zeit auf einer abgelegenen Flussinsel im Norden Kanadas, um einen Nachlass zu katalogisieren. Auch dieses Sommer-Inselleben und vor allem dessen Auswirkungen auf Lou’s Wohlbefinden, ihre damit einhergehende Entwicklung – ja, fast möchte man sagen: ihr Aufblühen, Aufleben, ihre Befreiung – stellt Engel äußerst anschaulich dar. Lou lebt jedoch nicht ganz allein auf dieser wuchernden Insel, sondern muss sich auch um einen halbzahmen Bären kümmern – das erfährt sie aber direkt vor Ort. Dass Lou’s Erwachen auch ein sexuelles Erwachen ist und dass es tatsächlich so einige Sexszenen zwischen Lou und dem Bären gibt, wirkt beim Lesen wie eine natürliche Entwicklung oder um Maria-Christina Piwowarski zu zitieren: „Und dass eine Autorin es schafft, dass das im Laufe der Geschichte nicht mal im Ansatz absurd wirkt und trotzdem nicht in billiger Metaphorik aufgelöst wird, ist eine der großen Stärken dieses Buches.“
Ja, es geht viel um Sexualität, aber eben nicht nur – und deshalb ist es so schade, wenn dieses Buch auf diesen Aspekt reduziert wird. Für mich stand vor allem Lou’s Veränderung in Anbetracht des Ortswechsels und des Alleinseins im Zentrum und das übergeordnete Thema der Beziehung zwischen Natur und Mensch. Engel öffnet in „Bär“ jedoch „vielfältige Deutungsräume“, wie auch Kristine Bilkau in ihrem großartigen Nachwort schreibt, denn sie verhandelt auf nicht einmal 200 Seiten scheinbar spielerisch auch große Fragen rund um die Themen Macht und Gewalt, um kanadische Geschichte und Kolonisierung und vermutlich noch zig andere, die sich mir erst bei einer wiederholten Lektüre erschließen werden. „Bär“ – ein literarisches Kaleidoskop also.

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Tierische Nähe

09.05.2022

Raus aus der Stadt, rein in die Natur. Lou steht ein vermeintlich entspannter Sommer auf einer kleinen Insel im Norden Kanadas bevor. In ihrer Funktion als Bibliothekarin soll sie dort für ihr Institut den Nachlass eines Colonels ordnen und katalogisieren, eine Arbeit, die sich schon nach kurzer Zeit als gar nicht so langwierige Angelegenheit herausstellen soll. Auf der Flussinsel angekommen wird Lou jedoch mit einem „Mitbewohner“ konfrontiert: ein Bär, der dort vom Colonel als Quasi-Haus-und-Hof-Tier gehalten wurde. Die zunächst einsetzende Skepsis weicht schnell einer Bewunderung für das beeindruckende Tier, schließlich einer Zuneigung und final einer besonderen Form der Liebe und des Sich-Angezogen-Fühlens. Lous Leben beginnt sich zu verändern, und sie spürt, dass sie die Insel anders verlassen wird, als sie sie betreten hat...

„Bär, ich kann dir nicht befehlen, mich zu lieben, aber ich glaube, du liebst mich. Ich will, dass du nicht aufhörst, zu sein und für mich da zu sein. Nichts weiter. Bär.“ (S. 151)

Bereits vor über vierzig Jahren erschien „Bär“ von Marian Engel 1976 und gilt als einer der wichtigsten kanadischen Romane der neueren Zeit. Die Faszination, die von diesem Werk ausgeht, ist während der Lektüre gepaart mit vielen widerstreitenden Emotionen: Da sind Abscheu und Belustigung, Hingabe und Irritation, Empathie und Abwehrhaltung. Marian Engel nimmt uns als Leser*innen mit in die Isolation dieser Insel und schafft einen Gegenentwurf zum Nature Writing. Die Natur wird hier vielmehr zur Kulisse für die Persönlichkeitsentwicklung einer Frau kurz vor dem Bruch, einer Frau, die sich über ihre Geschichte mit einem Bären entwickelt, aus sich herauskommt, ja nahezu aufblüht und an Stärke gewinnt.

Doch kommen wir zum Punkt, der in den Diskussionen zu diesem Buch wahrscheinlich den wohl auch zurecht größten Raum einnimmt: die sehr direkten Schilderungen von körperlicher Liebe zwischen der Protagonistin und dem Bären. Im von Kristine Bilkau verfassten, sehr hilfreichen Nachwort wird klar, dass es hier keineswegs um eine symbolhafte Vielleicht-Fabel geht. Engel sieht den Bären per se nicht als Stellvertreter, sondern möchte eins zu eins erzählen. Ausgelöst durch die sexuellen Erfahrungen mit dem Bären durchlebt Lou die Erlebnisse der Vergangenheit, ruft sich Beziehungen emotionaler und körperlicher Art mit anderen Menschen in Erinnerung, macht sich Gedanken über ihr Frau-Sein – innerhalb der Gesellschaft und auch ganz individuell für sich selbst. Der Text wird somit zu einer feministischen Selbstreflexion und zeigt somit induktiv Chancen und Wege auf. Das Explizite der sodomistischen Akte verstört selbstverständlich dennoch, lässt uns sprachlos und auch kopfschüttelnd zurück. Und trotzdem übte „Bär“ auf mich auch schon ohne die Lektüre des Nachworts eine seltsame Faszination aus, hinterließ einen Glanz und Firniss, der mit Sicherheit auch der Direktheit im Ton, der Unverstelltheit der Sprache geschuldet ist, die komplett ohne metaphorische Poesie auskommt. Lous Tätigkeit als Archivarin und ihre selbstgewählte Isolation erfahren über ihre Nähe zum Bären ein In-Klausur-Gehen der besonderen, nicht immer gesellschaftsfähigen Art. Und das hinterlässt Grübelei – auf eine gute Art!

Dass „Bär“ nach vielen Jahrzehnten der Absenz nun wiederentdeckt und seinen Weg auch in die deutschsprachige Literatur geschafft hat, erachte ich als durchaus große Bereicherung. Vielleicht würde ich ihn nicht unbedingt als „einen der wichtigsten Romane Kanadas“ bezeichnen; mit Sicherheit liefert er aber einen essentiellen Beitrag zum feministischen Diskurs, der sich nur nicht auf den ersten Blick erschließen mag. Ich bin den Weg gerne mitgegangen und werde mich auch in den nächsten Tagen noch ein wenig der Grübelei hingeben.

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Stimmen aus der Presse über BÄR

»Ein bizarres, aber seltsam erhebendes Buch über das Streben einer Frau nach Freiheit.«
The Times

»Pure Magie.« The New York Times

»Dieses bezaubernde, einzigartige Buch fühlt sich heute noch so frisch und aufregend an wie vor fast einem halben Jahrhundert… Ein sexy Meisterwerk.«
The Telegraph

»Die Geschichte hat die Form einer Fabel, aber die Seele einer echten Begegnung.«
Patricia Lockwood

»Völlig verrückt, aber seltsam betörend ... Was für ein brillantes kleines Juwel.«
Evening Standard

Marian Engel
© Estate of Marian Engel

Die Autorin: Marian Engel

Marian Engel (1933-1985) wurde in Toronto, Kanada, geboren. Sie studierte Französisch in Aix-en Provence und arbeitete als Übersetzerin in England. Für ihr Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Toronto Book Award. »Bär« ist ihr bekanntester Roman, den sie 1976 veröffentlichte und für den sie mit dem General Gouverneurs Award, dem wichtigsten literarischen Preis Kanadas, ausgezeichnet wurde. Marian Engel war 1973 Gründungsmitglied und erste Vorsitzende der Writer‘s Union of Canada.

»Ich liebe dich, Bär«, sagte sie.