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António Lobo Antunes Roman »Der Archipel der Schlaflosigkeit« bei Luchterhand

"ICH WÄRE GERN SCHRIFTSTELLER WIE SIE GEWORDEN"

GEORGE STEINER im Gespräch mit ANTÓNIO LOBO ANTUNES

Vor sieben Monaten hatte George Steiner in einem Interview für LER [portugiesische Literaturzeitschrift] bekannt, er empfinde eine gewisse Scheu, wenn er an eine Begegnung mit dem portugiesischen „Giganten“ denke, doch „es würde ihn begeistern, António Lobo Antunes kennenzulernen“. Jetzt hat er ihn in seinem Haus empfangen. Dieses liegt in einem Vorort von Cambridge, und Jorge Luis Borges oder Arthur Koestler waren dort schon zu Gast. Der 9. Oktober 2011 bleibt beiden endgültig in Erinnerung. Und auch uns. Ein einzigartiger Augenblick.

SCHRITTE BEI EINER BEGEGNUNG


Wie vereinbart, wartete George Steiner um 10.30 Uhr an seiner Haustür auf António Lobo Antunes. Die ersten Momente eines Morgens, an dem „der Funke übersprang“. Bis zum Ende.

Als António Lobo Antunes später – noch ohne Zigarette – im Wohnzimmer saß, sollte er gestehen, was er vorher in Lissabon gedacht hatte. „Ich hatte große Angst, dass der Funke bei diesem Treffen nicht überspringen würde.“ Eine vorsichtige Angst, die er jedoch dann überwand. Seit den ersten Sekunden an diesem nebelfreien Morgen des 9. Oktober, als George Steiner den portugiesischen Schriftsteller an der Tür seines Hauses in einem ruhigen Vorortviertel von Cambridge empfing, herrschte unübersehbar eine einfühlsame Stimmung zwischen diesen beiden herausragenden Vertretern der europäischen Gegenwartskultur. Ein treffendes Wort: einfühlsam. Man könnte sagen, dass sie sich seit langer Zeit kannten. Vielleicht wäre so etwas wahr, wenn wir annehmen, dass ein Werk stets seine Autoren widerspiegelt, selbst wenn man sie in räumlichem Abstand und in einer Übersetzung liest. Es sprang nicht nur der Funke über, sondern es verstärkten sich auch die gegenseitige Hochachtung und Bewunderung.

George Steiner Cambridge ist ein Wunder. Zur Zeit befinden sich elf Nobelpreisträger in dieser Kleinstadt.
António Lobo Antunes Auf welchen Gebieten?
G.S. Astrophysik, Genetik, Chemie. Das hier ist ein wunderbarer Ort, der sich jedoch mit großen Schwierigkeiten auseinandersetzen muss.
A.L.A. Was für Schwierigkeiten? Finanzielle?
G.S. Und wie! China kauft alles und schickt Hunderte und Aberhunderte Studenten. Kann ich Ihre Jacke mitnehmen?
A.L.A. Nicht nötig, so fühle ich mich wohl. Mir ist es nie zu warm.
G.S. Dann kommen Sie. Treten Sie bitte ein.

George Steiner (geb. 1929) empfängt nicht zum ersten Mal Schriftsteller in seinem Haus. In seinem großen Zimmer waren Ikonen der Weltliteratur zu Gast, wie zum Beispiel Jorge Luis Borges (1899-1986) oder Arthur Koestler (1905-1983). Von dem argentinischen Schriftsteller hat er die eigenhändige Widmung in einem Exemplar von Aleph aufgehoben, von dem ungarischen Autor bewahrt er Erinnerungen, die er in dem Gespräch mit Lobo Antunes ausführlich schildern wird. Dieses (durchgehend auf Französisch geführte) Gespräch wird unmittelbar im Anschluss aufgezeichnet. Tausende von Büchern stehen an den Wänden (nichts Überraschendes), seine und die seiner Frau, der Historikerin Zara Steiner, dazu viel klassische Musik. In die amerikanischen Buchhandlungen kommt bald, wie er ankündigt, The Poetry of Thought: From Hellenism to Celan (im Verlag New Directions).

G.S. Für Bücher braucht man viel Alleinsein. Immer mehr. Aber mit Musik sind wir nie allein.
A.L.A. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Sonett von Francisco de Quevedo ein. Der erste Vierzeiler daraus: „Retirado en la paz de estos desiertos,/ Con pocos, pero doctos, libros juntos,/ Vivo en conversación con los difuntos,/ Y escucho con mis ojos a los muertos.“
G.S. Die Zwiesprache mit den alten Büchern ...
A.L.A. Wie er habe auch ich manchmal den Eindruck, dass – vor allem mitten in der Nacht, wenn ich Durst habe und in die Küche gehe, um Wasser zu trinken – alle Bücher dort eingeschlafen sind. Und die guten Bücher finden keinen Schlaf und beobachten uns.

Steiner wollte die einleitenden Minuten nutzen, um einige seiner Reliquien und Kostbarkeiten zu zeigen. Erstausgaben von Heinrich Heine (sie haben aus der Bibliothek seines Vaters überlebt, nachdem die Pariser Wohnung im Jahre 1940 geplündert wurde), die zwölf Schachtische (beiden ist die Freude an diesem Spiel gemeinsam), ein kleines Klavier, das Darwin gehört hatte („als die Ururenkelin die letzten Möbel verkaufte, konnten wir es erwerben“), die Karte, die Freud an Steiner – den Vater – zu dessen Hochzeit schickte, oder die Neptun-Statue.

G.S. Dieser Neptun stammt aus Neapel. Er hat meinem Vater gehört. Wir besitzen ganz wenige Dinge, die aus unserer Pariser Wohnung überlebt haben. Die Deutschen haben alles mitgenommen. Manches war versteckt.
A.L.A. Also kam er aus Paris?
G.S. Ja, von meinem Vater, der ihn in seiner Jugend in Neapel gekauft hatte. Damals, vor 1914, konnte jeder ohne Pass und Visum reisen. Es gab Freiheit. Das hat der Erste Weltkrieg zerstört. Er hat die ganze Welt zerstört. Nicht der Zweite, das war der Erste. Danach gab es Grenzen.

Alle Tage (oder beinahe) geht Steiner durch den Garten, um zu arbeiten. Das erklärt er, als er Lobo Antunes einlädt, sein kleines schöpferisches Heiligtum kennen zu lernen.

G.S. Abgesehen vom Telefon, arbeite ich hier ohne jede Störung. Den ersten Entwurf schreibe ich zunächst mit der Hand. Dann tippe ich ihn mit der Maschine ab. Aber ich schreibe Briefe, Hunderte Briefe, beinahe immer mit der Hand. So ist es viel höflicher. La cortesía.
A.L.A. Ich habe mir gerade Ihre Bücher mit Gedichten Michelangelos angesehen.
G.S. Sie sind sehr schwierig.
A.L.A. Sie haben mehrere Übersetzungen, wie ich. Er ist ein glänzender Dichter!
G.S. Michelangelos Italienisch ist sehr schwierig. All diese Bücher behandeln Übersetzungsfragen, die hier Übersetzungstheorie und Geschichte des Übersetzens. Da stehen Hegel, Nietzsche, Richter, der ganze Adorno, und hier sind Heidegger und Bücher über Heidegger, ein gewaltiger Riese des Bösen. Die dort stammen aus der Zeit, als ich in Ostdeutschland war. Hier: die Werke von Lukács, die Briefe von Marx, alle marxistischen Texte, der komplette Ernst Bloch und dann Celan, alle Briefe und Tagebücher Celans ... Dort oben stehen die vierzig Bände Coleridges. In meiner Jugend gab es so etwas nicht, es gab keine guten Texte von Coleridge. All das wurde uns im 20. Jahrhundert zugänglich. Die Amerikaner haben diese Ausgabe finanziert. Wussten Sie das?
A.L.A. Das wusste ich nicht. Ich kenne diesen Autor nicht. Aber ich denke oft und lange über etwas anderes nach: Was wird aus meinen Büchern, wenn ich nicht mehr da bin?
G.S. Ich habe Glück. Meine Fakultät in Cambridge wird ein großes Steiner-Archiv für alle meine Bücher, Tausende von Manuskripten und Briefen, anlegen. Ich habe großes Glück. Alle Ausgaben meiner Bücher werden in diesem Archiv meiner Fakultät bleiben. Das ist eine der seltenen postumen Vergünstigungen, wenn man ein alter Akademiker ist.
A.L.A. Mehr oder weniger arbeite ich genauso: mit solchen Büchern, mit einem solchen Tisch, aber ohne Telefon.
G.S. Darum sind Sie der große Schriftsteller. Ich bin nur der kleine Kritiker: Ich habe ein Telefon. Und das macht den ganzen metaphysischen Unterschied aus.

Die Gesprächsstunde kam näher. Und dieses Gespräch folgt ohne Unterbrechungen auf den nächsten Seiten.

George Steiner
António Lobo Antunes
Der Tag der Begegnung
Cambridge, 9. Oktober

TSCHECHOW UND LOBO ANTUNES
SIND ZWEI GENIES
DER MEDIZINISCHEN SEITE DER VERGEBUNG


Die Klassiker, die Dichtung, die Meister, doch auch die Kriege, die Politik des Hasses, das „Zeitalter der Frau“, die Sprache, die gegenwärtige Krise, die Perspektivlosigkeit der jungen Leute und sogar die Momente großer Enttäuschungen, die George Steiner und António Lobo Antunes erlebt haben. Ein zweistündiges Gespräch ohne Kürzungen, ohne vorherige Regieanweisungen oder irgendeine Einmischung. Ein einzigartiges Dokument.


GEORGE STEINER Es ist mir eine große Freude und eine große Ehre, Sie in Cambridge willkommen zu heißen. Seit vielen Jahren lese ich Ihre Bücher, leider nicht auf Portugiesisch, wofür ich mich schäme, glauben Sie mir, aber Portugiesisch ist eine sehr schwierige Sprache, und darum lese ich Sie auf Französisch, auf Deutsch und immer öfter auf Englisch, in einer Sprache, in der Ihr Werk endlich umfangreicher und besser bekannt wird. Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen für Ihren Besuch danke.
ANTÓNIO LOBO ANTUNES Ich habe Ihnen zu danken, wissen Sie. So etwas tue ich zum ersten Mal. Ich habe nie jemanden besucht, nie bin ich in das Haus eines anderen gegangen, ich lehne alle Einladungen ab, meine kleine Straße zu verlassen. Doch Ihre Einladung hätte ich nicht ablehnen können. Ich glaube, ich habe all Ihre Bücher oder beinahe alle, auf Spanisch, auf Französisch, auf Englisch. Ich habe viel von Ihnen gelernt, und ich lerne immer noch viel von Ihnen. Sie sind ein Meister im höchsten Sinn des Wortes, das heißt jemand, der mit mir zusammen lernt. Das ist der schönste Titel, so meine ich, den ich jemandem geben kann. Jemand, der mich unterrichtet und dabei lernt. Ich hatte große Angst, dass bei dieser Begegnung – da ich ein großer Einzelgänger bin und wenig rede – der Funke nicht überspringt. Doch der Funke springt über, und das erfüllt mich mit unermesslicher Freude. Es ist immer gut, einem Autor zu begegnen, den wir seit langem bewundern und von dem wir alle Bücher lesen, weil sich Bücher oft vollständig verändern. Wenn wir den Autor kennenlernen, verändern sich die Bücher, und man gewinnt, wenigstens gilt das für mich, ein organischeres Verständnis des Textes, wenn man dem Autor in die Augen blickt.
G.S. Nun, manchmal ist es sehr gefährlich, einem Autor zu begegnen, den wir bewundern, denn dies kann zu einer großen persönlichen Enttäuschung führen. Um Ihnen ein eindeutiges Beispiel zu geben: Ich hätte Borges aufsuchen können, den ich seit meiner Kindheit lese. Er war in Europa, er war in England und kam hier ins Haus, um uns zu begrüßen. Und da geschah etwas Ungewöhnliches: Er, der vollständig blind war, nähert sich unserer Tür und sagt: „Es wird regnen.“ Ich frage: „Wirklich? Woher wissen Sie das?“ Darauf antwortet er: „Können Sie nicht riechen, dass der Regen kommt?“ Er hatte einen ungewöhnlich feinen Geruchssinn, wie übrigens viele Blinde. Das war nun für mich ein großes Glück und eine große Freude. In anderen Fällen, die ich gewiss nicht namentlich anführen muss, kann die Begegnung tatsächlich eine riesige Enttäuschung sein. Vielleicht ist der Autor beschäftigt, man darf Autoren niemals langweilen, sie haben immer viel zu tun. Darum zögere ich stets, die Zeit eines großen Schriftstellers zu beanspruchen. Bei den Wissenschaftlern ist das anders: Sie erklären gern Dinge, es gefällt ihnen, wenn sie versuchen, die Wunder der modernen Wissenschaft verständlich zu machen. Wenn jemand sie fragt: „Können Sie mich aufklären?“, antworten sie: „Nur ein kleines bisschen, denn man würde fünfzig Jahre Mathematik brauchen, aber wir werden es versuchen.“ Haben Sie Ärzte oder Wissenschaftler unter Ihren Freunden?
A.L.A. Ja, habe ich. Ich komme aus einer Medizinerfamilie. Mein Vater war Professor für Medizin an der Fakultät [der Medizinischen Fakultät der Universität Lissabon], und meine Brüder sind es immer noch. Ich studierte Medizin, weil ich der älteste Sohn eines Arztes war. Schließlich gab es so etwas wie eine Familientradition. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war, hatte ich allerdings meinem Vater schon gesagt, dass ich das Schreiben als meine Lebensaufgabe ansah. Darauf antwortete er mir: „Dann ist es gut für dich, dass du Medizin studierst, denn das wird dir helfen, sagen wir, deine Gedankengänge zu disziplinieren.“ Und so kam es, dass ich mich zu dem entsprechenden Zeitpunkt an der Medizinischen Fakultät immatrikuliert habe. Aber ich wollte immerzu schreiben. Und lesen. Zu Hause hatten wir eine gute Bibliothek. Damals begann ich, die Bücher meines Vaters zu lesen. Das war recht lustig, wissen Sie, denn wir sind sechs Jungen, und meine Mutter bekam in den ersten fünf Ehejahren vier Kinder. Dann wurden wir alle gleichzeitig krank, Grippe, Pocken ... Und mein Vater setzte sich auf eines der Betten meiner Geschwister oder auf meines und las uns laut seine Lieblingsautoren vor, Flaubert, die Lyriker usw. Das ist bemerkenswert, denn als er vor sieben Jahren im Sterben lag und ihn einer meiner Brüder fragte, was er seinen Söhnen gern hinterlassen würde, antwortete er, der Neuropathologe war: „Die Liebe zu den schönen Dingen.“
G.S. Hoffentlich sage ich keine Dummheit, aber das macht auch nichts. Ich sehe Sie und Tschechow als zwei Genies an, in deren Vorstellungswelt die Medizin eine wichtige Rolle spielt. In Ihrem Roman über die Schreckensjahre des Despotismus und der Bedrohung in Lissabon gibt es wie bei Tschechow so etwas wie Vergebung, die dem Menschen gewährt wird. Sie vergeben dem Menschen viel, Sie sind kein Meister des Hasses. Es gibt große Schriftsteller, die Meister des Hasses sind. Sie und Tschechow, und das habe ich immer gesagt, haben eine Seite, die die eines vergebenden Arztes ist, eine Seite, die die Krankheit des Menschen vergibt. Und in Ihren Schriften aus Angola, in den Briefen an Ihre Frau, ist diese ärztliche Seite sehr bedeutsam. Kennen Sie das Werk Tschechows über die Insel Sachalin?
A.L.A. Ja, sehr gut.
G.S. Das ist einer der Texte, die ich gern mit Lobo Antunes vergleiche. Nein, das ist wichtig. Der Blick des Arztes ist etwas, das ...
A.L.A. Merkwürdig, als Sie gerade über die Meister des Hasses sprachen, fiel mir auf der Stelle Céline ein.
G.S. Auf der Stelle. Aber auch Juvenal. Und Swift.
A.L.A. Swift ist schrecklich.
G.S. Ja, bei Swift ist der Hass schrecklich. Es gibt tatsächlich große Meister des Hasses, und das kann große Bücher ergeben, doch so etwas ist selten. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass Sie in Ihren Büchern dem Menschen viel vergeben.
A.L.A. Das Problem ist, dass wir uns selbst nicht vergeben.
G.S. Nein, und wir haben auch nicht das Recht dazu. Aber man muss dem anderen vergeben. Wir befinden uns wieder in einem Zeitalter, in dem es unermesslichen Hass gibt. In Amerika, diesem großen Land, war die Politik nie zuvor von so viel Hass geprägt. Man sagt nicht: „Ich bin nicht mit Ihnen einverstanden.“ Man sagt: „Ich verabscheue Sie.“ Das ist sehr gefährlich. In den Vereinigten Staaten und in anderen Teilen der Welt schlagen die Wellen des Hasses hoch. Ganz zu schweigen vom Nahen Osten, wo es durch die Gründung des Staates Israel völlig neue Friedensmöglichkeiten gegeben hatte und sich dies in einen unauslöschlichen, nicht zu überwindenden Hass verwandelt hat, genau wie bei einigen Ihrer Schilderungen, Ihren Untersuchungen über die Salazar-Zeit in Portugal, als der Hass herrschte. Sind Sie jetzt optimistischer?
A.L.A. Ich weiß nicht. Ich finde, dass ich animalische Reaktionen oder eine animalische Neigung, so etwas wie eine animalische Neigung habe. Das ist sehr sonderbar, etwas, wobei mir Ihre Bücher viel geholfen haben, weil es darin ein stilles Nachdenken über das Menschsein gibt. Das ist ein sehr unruhiges und zuweilen sogar sehr beunruhigendes Nachdenken, und doch lässt sich dabei die Fähigkeit feststellen, die Welt gelassen zu betrachten. Sie besitzen eine gewisse Gelassenheit und Weisheit. Diese ermöglichen es Ihnen, die verschiedenen Themen mit einer unparteiischen Haltung – ganz abgesehen von all den anderen Qualitäten, die ich in Ihrem Werk entdecke – anzusprechen, die jemanden wie mich, der sehr parteiisch ist, einigermaßen neidisch macht. Ich beneide Ihre tiefe Fähigkeit, die nicht darin besteht, zu urteilen – es geht nicht um ein Urteil -, sondern darin, anzuregen. Sie regen eher an und urteilen weniger. Das ist sehr wichtig, denn es wirkt weitaus eindringlicher auf den Leser.
G.S. In Angola machten Sie persönlich furchtbare Erfahrungen. Sie haben gewiss mit eigenen Augen Gewalttaten und Leiden gesehen, die ich Gott sei Dank nur vom Hörensagen kenne und die ich in Ihrem Werk wiederfinde, das uns hilft, diese ungeheure Ungerechtigkeit zu verstehen: Die ganze Politik ist eine Ungerechtigkeit. Sie haben uns sehr geholfen, das zu verstehen.
A.L.A. Aber was können wir dann nach Ihrer Meinung tun, damit die Politik weniger ungerecht wird?
G.S. Hierauf hat seit Platon niemand eine Antwort. Doch wir erleben jetzt sehr bedeutsame Wandlungen. Das Zeitalter der Frau beginnt. Der Frau, die bisher auf schreckliche Weise von allem ferngehalten wurde. Aber langsam, ganz langsam, selbst in der Dritten Welt, bekommen die Frauen endlich das Recht auf Bildung, auf Teilnahme am öffentlichen Leben. Das wird eine grundlegende Wandlung, eine gewaltige Wandlung sein. Und das andere Paradox ist das folgende: Lokale Kriege, Kleinkriege sind eine Möglichkeit; die großen Kriege sind wahrscheinlich unmöglich. Wenn wir eine Atombombe in einem bestimmten Land abwerfen, können wir uns selbst nicht retten. Nach dem Tod Mao Tse-tungs gibt es niemanden, meine ich, der bereit ist, 300 Millionen Menschen zu verlieren. (Das war Mao Tse-tungs Rechnung: „Wir verlieren 300 Millionen, aber am letzten Tag gehört der Sieg uns.“) So etwas ist Wahnsinn, schrecklicher Wahnsinn. Ich glaube, dass nicht einmal Herr Putin irgendwann so etwas gedacht hat. Was schrecklich gefährlich werden kann, sind die kleinen Kriege. Sie und die Bürgerkriege im Innern der Länder. Zweihunderttausend Tote in Mexiko, einem Land, das ich verehre. Die Drogenhändler, das tägliche Blutbad auf den Straßen der mexikanischen Städte ... Die Menschen, die durch den gewalttätigen Hass in Indien sterben, die toten Hindus und Muslime, das ist Hass, der im Innern der Länder wirkt. Am meisten erschreckt mich der Fundamentalismus, das Wiedererstarken der ursprünglichen Religionen. Malraux hat gesagt: „Das 21. Jahrhundert wird das der größten Religionskriege werden.“ Das ist gut möglich, ja.
A.L.A. Nun, es ist möglich, und es ist wahrscheinlich. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie überaus grausam die Bürgerkriege, die inneren Kriege sind. Die Bürgerkriege in Spanien, die verschiedenen Bürgerkriege in Portugal. Was in den afrikanischen Ländern, zum Beispiel 1977 in Angola, geschehen ist. Man weiß nicht genau, wie viele getötet wurden, doch man schätzt – manche Spezialisten schätzen -, dass die Zahl der Toten ungefähr achtzigtausend betragen muss. Das heißt: mehr, als Pinochet in zehn Jahren umgebracht hat, mehr als das in drei Monaten. Doch es hat auch damit zu tun, meine ich, wie die Afrikaner Leben und Tod ansehen, eine Sichtweise, die sich grundlegend von der unsrigen unterscheidet, wie sich auch ihr Zeitbegriff grundlegend vom unsrigen unterscheidet.
G.S. Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden. Ebenso unterscheidet sich die japanische Vorstellung von der unsrigen. Ich war Gastprofessor in China und Japan. In China entdeckte ich die Ironie, ein Denken, das unseres verstehen konnte, doch in Japan ergab sich nicht das Gleiche. Japan ist eine andere Welt. Auf den Straßen kam ich mit japanischen Kollegen zusammen, die, wenn es jemand wagte, von den Gräueltaten zu sprechen, die die Japaner während des Kriegs verübt hatten, mir in die Augen sahen und – es waren Universitätsprofessoren! – erklärten: „Aber, was verstehen Sie eigentlich nicht, Herr Kollege? Sie haben kapituliert, sich ergeben. Und wenn wir uns ergeben, verlieren wir jedes menschliche Recht.“
A.L.A. Wenn ich das höre, erinnere ich mich an Diderots Brief über die Blinden [Zum Gebrauch für die Sehenden]. Wenn er sagt: „Ach, Madame! Wie sehr ist die Moral der Blinden von der unsrigen verschieden!” Und ich frage mich, ob all das nichts weiter als ein Problem ist, wie wir unser Sehvermögen anregen.
G.S. In Edgar Allan Poes berühmter Erzählung Der entwendete Brief befindet sich das Objekt direkt vor unseren Augen, und wir sehen es nicht ...
A.L.A. Wir sehen es nicht.
G.S. Zwischen Frankreich und England liegen zwanzigtausend Seemeilen und der kleine Ärmelkanal, das sage ich mit einigem Humor, und die trennen zwei zutiefst unterschiedliche Konzeptionen des Menschen, der Geschichte und des Rechts. Der Rechtsstaat hat in England eine Konzeption, die sich vollständig von der Politik unterscheidet. Nie hätten wir gedacht, dass der Abstand nach so vielen Jahrhunderten der Nachbarschaft noch so groß wäre. De Gaulle zum Beispiel verabscheute England. Ganz unterschiedliche Kollegen von mir aus Oxford, aus Cambridge sagen manchmal, halb im Ernst und halb im Scherz – und diese letztgenannte Art des Auftretens ist am gefährlichsten -, dass „der einzige volkstümliche Krieg, wenn es einen geben sollte, gegen Frankreich geführt würde. In diesem Krieg würden wir uns alle als Freiwillige melden“. Natürlich ist das ein Scherz, aber einer, der semantisch vielsagend ist. Ich glaube nicht, dass so etwas von heute auf morgen geschieht. Man denke an die Wirtschaftskrise in Europa und daran, dass die Mittelmeerländer so weit von den nördlichen Ländern entfernt sind. Millionen englischer Touristen besuchen Portugal, Spanien, Italien und Griechenland. Für sie sind diese Länder eine andere Welt, ein fremdartiger Sonnenplanet. Sie haben ihre Meinung nicht geändert. Ich hatte angenommen, dass der Tourismus der grundlegende Bildungsweg sein würde. Das glaube ich nicht mehr.
A.L.A. Das ist tatsächlich nicht der grundlegende Bildungsweg. So etwas ist sehr sonderbar, weil ich ganz unterschiedliche Vorfahren habe: Brasilianer, Deutsche, Portugiesen usw. Ich sehe überhaupt nicht wie ein Portugiese aus. Als ich die Fakultät abgeschlossen hatte und nach London kam, sagte der Direktor des Krankenhauses zu mir: „You don’t look like a Portuguese.“ Und gleich danach: „But you don’t look like an English either.” Schließlich veränderte sich seine Miene, und er sagte: „You look like a German.“ Weil uns die Leute nach dem Gesicht, nach den oberflächlichsten Erscheinungsformen beurteilen ... Wir haben ja keine Zeit. Alles wendet sich gegen uns, am teuersten ist die Zeit. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich habe den Eindruck, dass ich ständig mit der Zeit verhandele: „Lass mich, lass mich noch ein Buch machen, noch ein Buch, noch ein Buch.“
G.S. Es gibt eine sehr merkwürdige Erscheinung, die schon untersucht worden ist. Wenn wir in einer Stadt, deren Sprache wir nicht kennen, in einem Bus oder einer Straßenbahn sind, haben wir den Eindruck, dass alle Leute schreien. Auf einmal haben wir Angst. Es gibt einen großartigen Film von Ingmar Bergman, Das Schweigen, der mit dieser Vorstellung gespielt hat: mit der Angst, die eine unverstandene Sprache in uns hervorruft. Plötzlich fühlen wir uns in Gefahr. Ich schwärme für Sprachen, alle Sprachen, ich habe Angst vor einer Sprache des „UNESCO“-Typs, ich habe Angst vor dem Angloamerikanischen. Ich verabscheue den Sieg eines gewissen Angloamerikanismus über alle Sprachen. Aber die Sprachen widersetzen sich, es kommt zu einer bedeutsamen Wiedergeburt ... Man denke an das Schicksal des Portugiesischen in Brasilien und des Spanischen in Lateinamerika. Man denke an das großartige Wiedererwachen der Sprachen in Osteuropa: die Neubelebung des Ukrainischen, den Fortbestand des Rumänischen und des Ungarischen. In diesen Ländern ist es nicht zu einem Sieg des Angloamerikanischen gekommen. Andererseits gibt es jedoch einen schrecklichen Chauvinismus, es gibt den Patriotismus des Faschisten, der sich in Ungarn, Rumänien, Polen, der Ukraine besonders erneuert und gestärkt hat. Damit kehrt gerade ein rassenbewusster, rassischer und rassistischer Faschismus zurück, ebenso, wie es ihn gegen die Einwanderer in den Schlafstädten Frankreichs und gegen die Bewohner der Randbezirke der italienischen Großstädte gibt. Die Leute empfinden dem Einwanderer gegenüber allmählich panische Angst. Ich fürchte, dass schwere Zeiten bevorstehen.
A.L.A. Denn auch wir haben Angst vor dem anderen, große Angst vor dem anderen. Doch zugleich denke ich, die gefährlichste Sache der Welt (und das habe ich in der Zeit des Faschismus in Portugal am eigenen Leib gespürt) sind die großen Worte, die abstrakten Substantive: Ehre, Vaterland, Gesetz. Im Namen dieser abstrakten Substantive hat man die jungen Leute in den Krieg geschickt. Das ist merkwürdig: Die Politiker lieben die Menschheit, aber nicht die Menschen.
G.S. Aber wir haben daran geglaubt. 1913 sagten die großen Sozialisten, die Liebknecht, Luxemburg, Jaurès in Frankreich: „Wir marschieren nicht in den Krieg. Wir sind Proletarier, wir sind Sozialisten, unter uns gibt es keinen Streit.“ Anhand der erhaltenen Dokumente wissen wir heute, dass die Armeen große Angst vor der eigenen Bevölkerung hatten, die sie viel mehr als den Feind fürchteten. Und alle sind auf die Straße gegangen und marschiert. Jaurès wurde ermordet, Liebknecht und Luxemburg wurden umgebracht, und trotzdem marschierten die Proletarier in den Tod, Millionen von ihnen. Sie haben nicht „nein“ gesagt. Wer wird es heute wagen, „nein“ zu sagen, wenn die Krise wiederkommt? Ja, es gibt Demonstrationen, selbst auf der Wall Street. Ja, die jungen Leute sagen: „Wir wollen keinen Wehrdienst leisten.“ Ja, es gibt zivilen Widerstand, sogar in Israel, wo viele Jugendliche, junge Männer und Frauen, nicht mehr zur Armee gehen wollen. Aber ach, wenn die Zeit gekommen ist, wirkt der Patriotismus wie eine Droge, wie eine Narkose, eine Massenhypnose. Und ich befürchte, dass die Frauen und auch die Jugendlichen nicht in der Lage sind, die militärischen Wahnsinnsunternehmen aufzuhalten. Was haben wir jetzt in Afghanistan zu tun? Wir sterben jeden Tag, jeden Tag sterben dort englische Jugendliche. Für nichts und wieder nichts. Und alle wissen, dass es für nichts ist. Genug damit! Genug! Und hier gibt es keine einzige Massenbewegung, nicht einmal eine militärische Bewegung, die sagt: „Wir müssen abziehen, wir müssen diesen Krieg beenden.“
A.L.A. Deshalb hat Jaurès gesagt, als er in die Nationalversammlung kam: „Meine Herren, Sie leben schlecht.“
G.S. Genau das, genau.
A.L.A. Und wir leben weiter schlecht. Das ist etwas, was ich im tiefsten Innern nicht verstehen kann. Ich habe schreckliche, ungerechte Dinge gesehen und mich daran beteiligt, und was mich am meisten überrascht, ist das fehlende Schuldbewusstsein, mein eigenes fehlendes Schuldbewusstsein. Darüber habe ich sogar mit einem Hauptmann gesprochen: „Aber warum empfinden wir keine Schuld?“ Und wir haben keine Antwort gefunden. Warum, warum fühlen wir uns nicht schuldig?
G.S. Es gibt extreme Fälle. Ich habe einen französischen Philosophen kennengelernt, mit dem ich immer noch in Verbindung stehe. Er wurde nach Algerien geschickt, um im sogenannten professionellen Kontingent der Armee zu dienen. Er hatte einen Gefangenen, einen algerischen Widerstandskämpfer, in seinem Büro. Man hat meinem Kollegen gesagt: „In der Stadt sind Bomben versteckt. Wenn wir nicht entdecken, wo sie sie versteckt haben, werden die Bomben explodieren, in der Stadt werden Menschen sterben, und deine Kameraden werden umkommen. Du musst den Mann foltern, damit du diese Information herausbekommst. Wenn du es nicht tun willst, geschieht dir nichts. Nichts. Du kannst dein Büro verlassen, aber für die Toten wirst du verantwortlich sein.“ Es gab eine kleine Zahl junger französischer Offiziere, die eine Lösung fanden: Sie haben Selbstmord begangen. Doch als ich das meinen Studenten erzählte, sagten sie: „Nein, das ist keine Lösung, weil der Nächste foltern wird. Wer als Nächster kommt, wird tun, was man von ihm verlangt.“ In moralischer Hinsicht hätte Kant allerdings dieser Lösung zugestimmt. Ich hoffe, auch weil ich jetzt sehr alt bin, dass ich niemals, unter keinen Umständen, fähig sein werde, einen anderen Menschen zu foltern. Andererseits meine ich, dass niemand weiß, wie er sich in einer solchen Extremsituation verhalten wird.
A.L.A. Sie sagen nicht zum ersten Mal, dass Sie älter sind. Und jedes Mal, wenn Sie das sagen, denke ich an Ernst Jünger. Ich konnte ihn in Paris gut kennenlernen, weil wir denselben Verlag hatten. Ich sah ihn, als er hundert Jahre alt war, ich war ungefähr vierundzwanzig, und er sagte zu mir: „Weißt du, Kleiner, je älter ich werde, desto mehr Zukunft habe ich vor mir.“ Ob wir das Recht haben, unser Alter zu verfluchen? Auf mich wirkt das Alter überraschend, diese Falten, die ich gleich am Morgen im Spiegel sehe, wenn ich mich rasiere. Doch manchmal frage ich mich: Ob das wohl meine Falten sind, oder gehören sie zum Spiegel? Denn ich meine, dass wir das Alter haben, mit dem wir geboren werden.
G.S. So weit gehe ich nicht. Ich wage es nicht einmal, so zu denken. Außerdem blickt ein Jude bei seiner Geburt schon auf mehr oder weniger hunderttausend Jahre zurück. Jeder Jude schleppt vom Augenblick seiner Geburt an eine gewaltige Bürde der Zeit mit sich. Das lässt sich schwer erklären, doch es geht nicht um Mystik. Ich gehöre zu einem Volk, einer Kultur, die die Zeit tiefgreifend geprägt hat. Nun glaube ich, dass wir schon alt geboren werden, und zweitens, dass uns das Alter vor manchen Situationen bewahrt.
A.L.A. Ach, das ist sicher richtig.
G.S. Für mich ist dieses Problem der Folter ungeheuer wichtig und entscheidend. Dürfen wir Hand an einen anderen Menschen legen? Ich hoffe, dass ich dazu nie fähig bin. Aber in Angola mussten Sie gewiss eine solche Wahl treffen.
A.L.A. Was mich am meisten überraschte, wissen Sie, ist, dass es sich um hübsche junge Burschen, beinahe schon junge Männer handelte, die fähig waren, grausame Gewalttaten zu begehen, die jedoch in der nächsten Minute versuchten, ein Leben zu retten, das in allem dem wesensgleich war, das sie eine oder zwei Minuten zuvor vernichtet hatten. Vielleicht gibt es ein bestimmtes Gefühl nicht ohne sein Gegenteil. Vielleicht gibt es keinen Mut ohne Feigheit, kein Glück ohne Unglück – ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ich rede von Dingen, die ich gesehen habe, und wir sind so vielseitig, so vielseitig und gleichzeitig so paradox. Als wir zum Beispiel dort angekommen waren, haben wir den Himmel angesehen und gedacht: „Was tun wir hier? Das hier ist etwas ganz anderes!“ Wir fühlten uns als Fremde. Seltsamerweise hatten wir dort einen baskischen Pater, der Spanien wegen Franco hatte verlassen müssen und der Sprichwörter sammelte. Die Sprichwörter in seinen äußerst umfangreichen Sammlungen waren genau die gleichen wie bei uns. Der einzige Unterschied bestand in den Tieren, das waren andere, und in der Art, wie man sie beurteilte. Die Bedeutungen waren ganz genau die gleichen. Jetzt wissen wir, dass es Kulturen gibt, die weitaus fortgeschrittener sind, als wir gedacht hatten. Etwas anderes, was mich bei diesen Menschen, beim Afrikaner, überraschte, war der Zeitbegriff. Das war mir sehr nützlich für meine Arbeit. Sie haben keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt eine unermessliche Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft enthält, die dahingleitet. Und das ist großartig, wenn man Schriftsteller ist und sich mit dem Problem der Zeit auseinandersetzen muss! Nach der Revolution [vom 25. April] haben wir einen portugiesischen Philosophen ersucht, den Vorsitz in der Kommission zur Bekämpfung des Analphabetentums zu übernehmen, das in Portugal äußerst weit verbreitet war, und er hat zu mir gesagt: „Weißt du, Kleiner, das ist eine missliche Lage: Die meisten Gebildeten, die ich kenne, sind Analphabeten.“
G.S. Sokrates und Jesus Christus waren schließlich Analphabeten, das ist nicht schlecht. Das ist eine gute Tradition. Gab es vielleicht unter Ihren Bekannten einen Fall von Selbstmord? Haben Sie schon einen Freund oder eine nahestehende Person unter solchen Umständen verloren?
A.L.A. Wenn man einen Freund verliert, ist das etwas Furchtbares. Selbstmord ... Ja, das hat es gegeben, in meiner Familie. Danach, als ich mit meinem Beruf begann und ein junger Arzt war, habe ich das in einem Buch gestaltet. Was mich immer überraschte, wenn ich mit Leuten arbeitete, die versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, ist das Ewigkeitsgefühl. So etwas ist ganz sonderbar. Einer meiner Urgroßväter, den ich nicht kennengelernt habe, war zum Beispiel Arzt und brachte sich mit 50 Jahren um. Das Ewigkeitsgefühl der Leute, die Selbstmord begehen, hat mich immer überrascht.
G.S. Ich habe mehrere Studenten durch Selbstmord verloren. Das ist etwas Schreckliches für einen Professor. Man fragt sich immer: „Ob ich es hätte verhindern können, ob ich es hätte erraten können?“ Der Selbstmord von Jugendlichen ist eine äußerst schlecht verstandene Erscheinung, aber er ist nicht so selten, wie man denken könnte. Es gibt einen Roman – den niemand liest, aber es ist ein großer Roman – von Paul Bourget, Der Schüler, in dem er dasselbe Problem darstellt. Mir scheint, dass es heute unser größtes Verbrechen ist, den jungen Leuten nicht viel Hoffnung zu lassen. Was hinterlassen wir ihnen gegenwärtig als Vision, als Zukunftsperspektive? Nehmen Sie es nicht übel, wenn ich sage, dass sogar ein überzeugter Faschist eine Vision hatte. Das war eine Höllenvision, aber es waren ein Programm und ein Ziel. Ein Kommunist, ein Zionist, selbst ein Nazi ahnten etwas, das größer war als sie selbst. Sie irrten sich schrecklich, das stimmt, aber das Leben hatte für sie einen Sinn. Was hinterlassen wir den Jugendlichen von heute? Zur Zeit des Krieges der Contras in Nicaragua – erinnern Sie sich daran? – hatte ich sechs Studenten, die hier in Cambridge meine Seminargruppe bildeten, wie wir es nennen. Damals habe ich zu ihnen gesagt: „Eure früheren Kommilitonen hatten Cambridge verlassen, um während des spanischen Bürgerkriegs in Madrid, Huesca und Barcelona zu sterben. Viele junge Leute sind damals gestorben. Wird einer von euch nach Nicaragua gehen?“ Sie haben mir einen sehr höflichen und für mich sehr wichtigen Brief geschrieben: „Lieber Herr, wenn wir uns für die Linke entscheiden, verfallen wir einem abscheulichen Stalinismus. Wenn wir uns der Rechten zuwenden, werden wir eine nicht weniger abscheuliche CIA und ein Pentagon haben.“ Dann der wichtigste Satz: „We will not be had again.“ Sehr schwer zu übersetzen: „Wir lassen uns nicht reinlegen.“ – „Wir gehen nicht wieder in dieselbe Falle.“ „Lieber Meister, wenn man schon mit 18 oder 19 Jahren weiß, dass wir uns nicht reinlegen lassen, ist das schrecklich.“ Sie waren nicht im Geringsten zynisch. Das war Realismus. Wenn man mit 19 Jahren weiß, dass es nichts gibt, nichts, wofür man sterben möchte, ist das sehr traurig.
A.L.A. Finden Sie, dass dies ein Problem der heutigen Generation ist?
G.S. Ja, ein riesiges Problem. Sie wollen Geld verdienen. Unsere begabtesten Studenten wechseln von Cambridge ins Bankfach, zu den Hedgefonds usw. Selbst in der jetzigen Krise kann man an der Börse außerordentlich hohe Einnahmen erzielen. Unsere besten Studenten gehen nicht in die Politik. Die Politik wurde zum Unterschlupf der Mittelmäßigen.
A.L.A. Wissen Sie, vielleicht ist es allzu persönlich, davon zu sprechen, aber der Selbstmord ist etwas, was seit meinem frühesten Alter ständig in mir lauert. Als Kind hatte ich mehrere sehr schwere Krankheiten, doch immer gab es einen starken selbstzerstörerischen Hang in mir. Was mich stets gerettet hat, war das Schreiben, waren die Bücher. Der Drang zu schreiben. Das ganz sonderbare Gefühl, das ich nicht auf rationale Weise erklären kann: „Ich muss schreiben. Man hat mir diese Begabung verliehen, und das muss ich weitergeben. Es gehört nicht mir.“ Das hat mich immer vor dem Tod und den selbstzerstörerischen Gedanken gerettet, die ständig in mir lauern, vor allem zwischen zwei Büchern wie jetzt, wenn mir alles sinnlos vorkommt.
G.S. Hegel, der wie alle großen Denker sehr boshaft sein konnte, erzählte den folgenden Witz: „Warum bringt sich der Jude nie um? Weil er die Zeitung vom nächsten Tag lesen will.“ Eigentlich ist das sehr tiefgründig. Wie jeder Mensch habe ich schon Augenblicke schrecklicher Depression durchgemacht: das Gefühl der Mittelmäßigkeit, die große Enttäuschung – ich hätte Schriftsteller wie Sie werden wollen, und kein Kritiker, kein Professor. Ich habe sehr finstere Momente erlebt, doch tatsächlich wollte ich immer die Zeitung des Tages lesen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der Wirklichkeit, der Bewegung der Wirklichkeit, des Élan, wie Bergson sagen würde, des Elans der Dauer. Sich selbst umzubringen würde nun bedeuten, nie wieder die Zeitung zu lesen. Und das ist zu viel ... Für Sie geht es darum, nicht zu schreiben, etwas weitaus Edleres und Wichtigeres, aber auch die Zeitung hat ihre Bedeutung.
A.L.A. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: Empfinden Sie nicht ein tiefes Schuldgefühl, wenn Sie nicht schreiben?
G.S. Das nicht. Ich bin vor allem Professor. Das war meine Berufung. Meine Schuld wäre es, ein schlechter Professor zu sein. Davor hatte ich immer Angst. Kommt mir das Recht zu, lehren zu dürfen? Wer gibt mir dieses Recht? Das ist ein außergewöhnliches moralisches und psychologisches Recht. Ich habe ein kleines Buch geschrieben, Lessons of the Masters („Der Meister und seine Schüler“), und darin untersuche ich dieses Phänomen. Ständig habe ich zu mir selbst gesagt: „Mit welchem Recht betrittst du einen Saal, um eine Vorlesung zu halten?“ Darum geht es. Das ist so wie für Sie, jeden Tag zu schreiben: Die Lehre war für mich eine Berufung. Selbst das Wort „Rabbin“, „Rabbi“ bedeutet „Lehrer“, nicht mehr und nicht weniger. Sie bedeuten das Gleiche. Der Rabbi ist schlicht und einfach der Herr, der Unterricht erteilt. Und das habe ich nicht ausgesucht, das hat mich ausgesucht, wie die Literatur Sie ausgesucht hat. Das hat mir große Ängste und große Freuden eingebracht. Und als ich die Lehre aufgeben musste, war dies der härteste Schlag in meinem Leben. Ich vermisse meine Studenten sehr.
A.L.A. Mein Vater war Professor, und dann, als er in den Ruhestand treten musste und emeritiert wurde, mit 70 Jahren, bekam ich den Eindruck, dass er gleichzeitig Meister und sein eigener Schüler war.
G.S. Ja, wir versuchen es. Das ist eine wunderschöne Formulierung. Wir versuchen es. Aber ich vermisse den Widerspruch des guten Studenten, der „nein“ sagt. Mir fehlt der Widerstand, die Hand, die Druck gegen einen lebhaften Widerstand ausübt.
A.L.A. Doch jedenfalls gibt es immer einen inneren Widerstand. In Ihren Büchern stellen Sie ständig infrage, was Sie versichern.
G.S. Sie haben recht. Es ist nicht zwingend erforderlich, dass wir mit uns selbst einverstanden sind.
A.L.A. Nun, das ist es eben.
G.S. Aber Sie haben das, was für mich das Wunder des großen Schriftstellers ist: dass man eine Person schafft, dass man ein neues lebendiges Wesen schafft, dass man ein selbstständiges Leben schafft. Und das können nur der große Romancier und Dramatiker erreichen: die Welt bevölkern, etwas Wunderbares. Wissen Sie, als Flaubert dem Tod nahe war, rief er ganz laut, ad alta voce: „Ich sterbe wie ein Hund, und diese Hure Bovary wird immer leben.“ Das ist außerordentlich. Und er hatte recht.
A.L.A. Ich muss oft an diesen Satz denken. Nach meiner Ansicht ist das sehr ungerecht. Und in gewisser Hinsicht hatte er recht.
G.S. Er hat recht.
A.L.A. Denn schließlich gibt es in alldem vielleicht ein Ewigkeitsstreben.
G.S. Auf seinem Sterbebett versucht Balzac, alle imaginären Ärzte der Menschlichen Komödie beim Namen zu rufen.
A.L.A. Nun, das ist es eben.
G.S. Das ist wunderbar.
A.L.A. Das stimmt. Und manchmal scheint es, dass die Personen meiner Lieblingsbücher auf mich bis zu dem Tag warten, an dem ich ihnen an der Straßenecke begegnen werde. Sie sind nämlich dermaßen real ...
G.S. Erasmus geht in einer Winternacht auf der Straße spazieren, während es heftig regnet, als er einen kleinen bedruckten Pergamentstreifen sieht – damals entstand gerade der Buchdruck – und ruft: „Ein Wunder, ein Wunder, ein Wort, ein Wort!“ Ein Wort auf dem Boden, an einer Ecke entdecken, plötzlich ein Buch entdecken, das uns anspricht und das unser Leben verändern kann. Das sind Wunder. Gibt es in diesem Sinne gegenwärtig einen jungen Schriftsteller, der Ihr Interesse findet?
A.L.A. Ich lese viel mehr noch einmal, als ich Neues lese. Deshalb komme ich schließlich immer zu denselben Autoren zurück. Doch vielleicht gibt es manchmal einen gewissen Widerstand gegen Bücher neuer Autoren. Ich weiß nicht. Zum Beispiel habe ich erst vor kurzem Kosztolányi wieder gelesen, einen ungarischen Autor, der mir sehr gefällt, und bei jeder neuen Lektüre kommt mir das wie ein neues, anderes Buch vor, wie ein Buch, das gerade eben in diesem Moment geschrieben wurde. So etwas ist ein Vorzug der großen Literatur. Man findet es leichter in einem Gedicht, aber ...
G.S. Aber wir können ein Gedicht auswendig lernen.
A.L.A. So ist es.
G.S. Und das, was wir auswendig lernen – aprender de cor, apprendre par cœur -, mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand ...
A.L.A. Richtig, dass man etwas mit dem Herzen weiß.
G.S. Par cœur - „mit dem Herzen“ -, das ist ein bedeutsamer Ausdruck. Denn es ist schwer, Prosa auswendig zu lernen. Aber Dichtung, ein Gedicht, das ist möglich, und so behalten wir es. Dies ist das wesentliche Rüstzeug der Seele, der kleine Koffer, den wir bei uns haben, das Gedicht. Meine Frau und ich, wir lesen gerade zum dritten Mal die zwei Bände Grossmans – Leben und Schicksal -, den ich Tolstoi an die Seite stelle, denn ich halte dieses Buch für ebenso groß wie Krieg und Frieden. Bei jeder Lektüre bringt dieser unermessliche Roman ein neues Leben in uns hervor: Jede neue Lektüre ist eine neue Begegnung. Dies, glaube ich, ist die wahre Definition des Klassikers: ein Werk, das mit uns lebt und sich wandelt. Beim mittelmäßigen Werk gilt eher: „Danke, das ist erledigt, addio.“ Der Klassiker bleibt hingegen immer neu. Ezra Pound kommentierte dies mit einem schönen Satz: „Er ist eine Neuigkeit, die neu bleibt.“ Dies bestimmt sehr genau, worüber ich gerade gesprochen habe.
A.L.A. Merkwürdig. Sie haben Krieg und Frieden erwähnt. Das ist ein Roman, über den wir hier sprechen können, weil er ein sehr ungleichmäßiger Roman ist.
G.S. Ja. Wie das Leben selbst!
A.L.A. Er beginnt wie eine Familiensaga und endet wie ein Epos.
G.S. Ja, wie das Leben selbst.
A.L.A. Darin sind alle Einflüsse vorhanden. Tolstoi hat das nicht einmal geleugnet: Er hat Stendhal bestohlen, er hat Richardson bestohlen, und er hat die englischen Autoren des 18. Jahrhunderts bestohlen ...
G.S. Das stimmt, aber er hat vollkommene Werke, Werke, in denen man keine einzige Seite streichen kann. Die Kartause von Parma [Stendhal] ...
A.L.A. Das ist ein vollkommenes Werk.
G.S. Vollkommen. Er hat dieses Buch in 28 Tagen diktiert.
A.L.A. Ich dachte, er hätte dieses Buch eigenhändig geschrieben, doch es stimmt, der größte Teil des Werks wurde diktiert.
G.S. Er hat Rot und Schwarz eigenhändig geschrieben und Die Kartause von Parma diktiert.
A.L.A. In Der Tod des Iwan Iljitsch [Tolstoi] würde ich kein einziges Wort verändern.
G.S. Kein einziges, genau. Vielleicht in anderen Werken. In Auferstehung könnte man vieles streichen, aber nicht in Anna Karenina. Anna Karenina ist beinahe vollkommen.
A.L.A. Das ist ein sehr guter Roman. Und ein sehr schöner. Das gilt auch für Tote Seelen [Gogol] oder für dieses Buch, das nicht einmal ein Buch wird, ich weiß nicht, ob es ein Albdruck oder ein Traum ist: Sturmhöhe, von Emily Brontë. Das ist ein Roman, der mich immer tief rührt.
G.S. Welcher?
A.L.A. Sturmhöhe.
G.S. Ach, Sturmhöhe. Ist das vielleicht nicht ein bisschen hysterisch?
A.L.A. Es gefällt Ihnen nicht? Das hätte ich nie gedacht. Mir gefällt es sehr.
G.S. Es ist ein bisschen hysterisch. Was Ihnen daran gefällt, ist Ihre jugendliche Seite.
A.L.A. Ja, vielleicht ist das so. Aber mir gefällt es sehr.
G.S. Sind Sie sicher, dass es nicht ein wunderbarer Fall von Kitsch ist?
A.L.A. Ja, bestimmt. Was macht das aus?
G.S. Richtig. Was macht das aus? Sie haben recht. Jane Eyre ist ein viel erwachseneres Buch.
A.L.A. Aber am Ende komme ich immer zurück ...
G.S. ... zu Sturmhöhe?
A.L.A. Nein, nein, zu den Lateinern: zu Ovid, Horaz, Vergil.
G.S. Das merkt man an Ihrem Stil. Es heißt, dass er Latinismen enthält. Außerdem wurde ja das Portugiesische selbst von der römischen und lateinischen Literatur beeinflusst.
A.L.A. Ja, ich versuche, die römischen Dichter zu übersetzen: diesen Finger für das Substantiv, diesen für das Verb ...
G.S. Gut.
A.L.A. Das ist erstaunlich: Diese Männer waren sich schon der Arbeit des Schriftstellers (auf Portugiesisch nennen wir sie ofício) bewusst. Horaz zum Beispiel sagte: „Jeder Autor muss zehn Stunden am Tag schreiben und davon zwei für die Niederschrift und acht für die Verbesserungen benutzen.“
G.S. Die Situation des Autors ist eine Art „Aufstieg zum Berge Karmel“, das Problem der Übersetzung eines Autors, der in einer Sprache wie dem Portugiesischen schreibt. Wer wird mich übersetzen, damit mich meine Leser entdecken können? Ich denke gerade an Camões, an Die Lusiaden. Es gab einen großen, sehr großen Dichter, der das Portugiesische vollkommen beherrschte, Roy Campbell, und der Die Lusiaden übertragen wollte. Er blieb beim Dritten Gesang stecken, glaube ich. Er starb, bevor er sein Werk abschließen konnte, und darum haben wir keine gute Übertragung, keine einzige. Die Lusiaden bleiben ein der angelsächsischen Welt und der ganzen Welt unbekanntes Epos.
A.L.A. Aber es gab angelsächsische Schriftsteller, die dieses Werk sehr gut kannten. Zum Beispiel Melville.
G.S. Ja, aber nicht viele.
A.L.A. Er soll in gewisser Hinsicht von den Lusiaden ausgegangen sein, als er Moby Dick schrieb. Das Problem des Portugiesischen ist, dass ... Wissen Sie, was Cervantes über die portugiesische Sprache gesagt hat? Er hat gesagt, das Spanische sei Portugiesisch mit Knochen.
G.S. Es gibt keine kleineren Sprachen. So etwas gibt es nicht. Jede Sprache ist unendlich. Doch in der Welt, in der Ökonomie der Verlage, des Bildungswesens, der Publikationen kann für diejenigen, die in einer Minderheitssprache schreiben, diese Tätigkeit sehr, sehr schwierig werden.
A.L.A. Sehr schwierig.
G.S. Sehen Sie den Fall Pessoa.
A.L.A. Außerdem gibt es das Problem der Übersetzer. Manchmal sind sich die Verleger nicht im Klaren, dass es nicht bedeutsam ist, zum Beispiel direkt aus dem Ungarischen zu übersetzen. Das Problem ist, dass man die Zielsprache beherrscht, dass der Übersetzer seine eigene Sprache gut gestalten kann. Das ist sehr bedeutsam.
G.S. Sie haben mir schon gesagt, dass Sie mit Ihrem deutschen Übersetzer zufrieden sind. Aber Deutsch ist eine Sprache, die sehr weit vom Portugiesischen entfernt ist ...
A.L.A. Ja. Es handelt sich um eine Übersetzerin, die einen portugiesischen Großvater hat und deren Vater Portugiesisch-Professor in Hamburg ist. Sie spricht Portugiesisch wie ich und hat Geschwister, die in Portugal leben. Sie kennt die Sprache sehr gut. Aber jede Übersetzung ist sehr schwierig. Zum Beispiel habe ich bis heute nie eine gute Übertragung Gottfried Benns gefunden.
G.S. Tatsächlich.
A.L.A. Jedes Mal ist es etwas vollständig anderes. Das hängt vom Übersetzer ab.
G.S. Sie bewundern Gottfried Benn?
A.L.A. Ja, sehr.
G.S. Ein Arzt, wieder ein Arzt.
A.L.A. Ein Pathologe.
G.S. Ein Pathologe. Als Sie Faulkner gelesen haben, lasen Sie ihn damals zuerst auf Englisch oder auf Portugiesisch? A.L.A. Nein, nein. Ich habe ihn zuerst auf Französisch und dann auf Englisch gelesen. Faulkner ist sehr wichtig für einen Anfänger. Sehr, sehr wichtig.
G.S. Sie und Faulkner sind beide Meister der Zeit, wenn die vergangene Zeit in die Gegenwart eingeht. Die schreckenerregende Macht der geschichtlichen Erinnerungen findet sich bei Ihnen und bei Faulkner. Für mich sind Sie beide Meister der aktiven Reminiszenz (im Englischen haben wir hierfür kein richtiges Wort).
A.L.A. Noch ein anderer Autor, von dem Sie auch gesprochen haben und der für mich sehr wichtig war, obwohl ich ihn sehr spät kennengelernt habe: Conrad. Welch ein Schriftsteller, mein Gott!
G.S. Ja.
A.L.A. Ein Mann, der mit 22 Jahren nicht einmal Englisch sprach!
G.S. Aber Nabokov hat das Amerikanische neu gestaltet.
A.L.A. Ja.
G.S. Er hat die angloamerikanische Sprache erfunden. Und es gibt auch großartige englische Texte und Gedichte von Borges. Großartige!
A.L.A. Ja, tatsächlich. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Stört es Sie nicht, wenn Sie Nabokov lesen? Denn mir kommt es so vor, als wollte er jeden Augenblick sagen: „Sehen Sie, wie intelligent ich bin, sehen Sie, wie intelligent ich bin.“
G.S. Nun, Sie haben ganz recht. Mea culpa, ich spiele nämlich leidenschaftlich gern Schach. Aber The Luzhin Defense („Lushins Verteidigung“) ist der beste Roman über das Schachspiel, das Meisterwerk, großartiger als das Stefan Zweigs. Es ist der Roman über das Schachspiel, der schönste – und ihn hat Nabokov geschrieben. Deshalb bin ich nun von vornherein geneigt, ihn zu verteidigen. Zweitens gibt es in Pnin, in Einladung zur Enthauptung, in den kürzeren Romanen einen einzigartigen Humor, so etwas wie ein einzigartiges boshaftes Lächeln.
A.L.A. Das bestreite ich nicht. Das Problem ist, so etwas jederzeit zu entdecken.
G.S. Lolita, entschuldigen Sie, Lolita ist ein Wunder. Vor Lolita gab es diese Mädchen nicht; nach dem Buch stehen sie an jeder Ecke. Er hat etwas geschaffen, was schon da war. Und etwas zu schaffen, was es schon gibt, ist ein seltenes Wunder. Auf einmal sehen wir sie überall, in ihren Miniröcken, doch er hat als Erster etwas gesehen, was wir ohne ihn nicht hätten sehen können. Das ist ein phantastisches Buch. Die Verfolgungsjagd durch Amerika, von Motel zu Motel ...
A.L.A. Das ist großartig.
G.S. Großartig.
A.L.A. Selbst die Namen der Mädchen ...
G.S. Selbst Humbert Humbert ... Der Name Humbert Humbert ist ein Geniestreich. Diese Forschungsarbeit steht noch aus: die über die Erfindung der Namen. Vorhin habe ich von Paul Bourget gesprochen: Sein Adrien Sixte, der Philosoph, sein Name, war auch ein Geniestreich. Valérys Monsieur Teste, dieser Monsieur Teste ist ein großartiger Name.
A.L.A. Selbst Célines Bardamu.
G.S. Ja, selbst Célines Bardamu. Was dies betrifft, so hat Sartre, der Céline nie gelobt hatte, kurz vor seinem Tod zu Benny Lévy gesagt: „Halt den Mund! Dies ist nicht das Jahrhundert Sartres. Nur einer von uns wird überleben: Céline.“
A.L.A. Céline und Proust.
G.S. Ja, das meine ich auch, Céline und Proust. Schließlich haben sie die französische Sprache geteilt.
A.L.A. Und Proust ist ein sehr eigenartiger Autor, weil sein Alter Ego, der Autor, mit dem er wetteifern wollte, Saint-Simon war. Er dachte an Saint-Simon, wenn er schrieb. Und Saint-Simon ist großartig!
G.S. Er kannte Balzac gründlich, die Technik war für ihn sehr wichtig. Doch selbst wenn er ein alle überragender Gigant war, war er keineswegs jemand, der uns gefallen hätte. Er ließ Tiere quälen, wissen Sie? Es gab schreckliche Dinge in seinem Bordell, er war ein Bordell-Voyeur. Und Céline war dann der übelste Lump. Aber sie haben uns so viel gegeben, alles recht bedacht. Wir sind die Empfänger ihrer Gaben. Sie haben uns neue Welten geschenkt. Ich schwärme für die drei letzten Romane Célines: Von einem Schloss zum andern, Norden und Rigodon. Seine Flucht durch Deutschland, durch das in Flammen stehende Deutschland: In diesen drei Büchern gibt es Szenen, die Shakespeares würdig sind.
A.L.A. Ich habe ihm geschrieben, damals war ich vielleicht 14 Jahre alt. Ich habe Céline geschrieben. Und er hat mir geantwortet, sehr einfühlsam, auf gelbem Papier. Ich habe schließlich ganze Jahre den Umschlag bei mir gehabt, auf den er meinen Namen geschrieben hatte. Ich war ein Kind, und das war die Freude meines Lebens.
G.S. Wie haben Sie ihn entdeckt?
A.L.A. Ich habe ihn entdeckt, weil mein Vater seine Neuropathologie-Ausbildung in Deutschland erhielt. Das geschah durch die Vermittlung eines berühmten Professors, Wolf, der von den Nazis verfolgt wurde. Sie verhafteten ihn nicht, aber sie stahlen seine ganze umfangreiche Gehirnsammlung. Er und seine Frau flohen ganz allein in den Schwarzwald. Nun, dieser Professor hatte viele Kontakte zu Juden und allen Schriftstellern der damaligen Zeit. Er hatte auch eine Erstausgabe von Tod auf Kredit. Ja noch mehr: Als ich 14 Jahre alt war, gab er sie mir und sagte dazu: „Lies das.“
G.S. Nein, nein, Bagatelles pour un Massacre („Die Judenverschwörung in Frankreich“) und Tod auf Kredit, nein.
A.L.A. Bagatelles pour un Massacre ist schlecht, aber ...
G.S. Tod auf Kredit ist nicht viel besser.
A.L.A. Aber es hat einen wunderbaren, ganz wunderbaren Anfang.
G.S. Hören Sie, besser gesagt, ich begreife nicht, wie man solche Dummheiten erzählen kann. Herr Céline sagt am Morgen in aller Öffentlichkeit: „Man muss alle Juden töten.“ Und am Nachmittag nimmt er Juden auf, die er völlig uneigennützig als Arzt behandelt. Das ist unbegreiflich.
A.L.A. Manchmal frage ich mich, ob er nicht diesen ganzen Hass erfunden hat, damit er schaffen konnte. Das hat er sogar selbst gesagt.
G.S. Deshalb beginne ich mit meinen Studenten immer damit: „Wie kann derselbe Mensch abends Schubert spielen und am nächsten Morgen Juden foltern?“
A.L.A. Wie es Frank getan hat, der Gouverneur ...
G.S. ... Polens. Selbst jetzt, da ich am Ende meines Lebens stehe, habe ich keine Antwort. Aber das werden Sie gern erfahren: Auf dieses Sofa [er zeigt nach rechts] hat sich Koestler gesetzt. Koestler hat uns besucht. Er war ein unglaublich heftiger und arroganter Mann.
A.L.A. Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
G.S. Auf meine Frage hat er geantwortet: „Du stellst idiotische Fragen. Die Antwort ist ganz einfach. Wir haben zwei Gehirne: den Hypothalamus, das ist der Vorläufer eines moralischen, ästhetischen Gehirns, und ein riesiges, sadistisches und territoriales Tiergehirn. Eine halbe Million Jahre mussten vergehen, damit das Gehirn seine menschliche Einheit fand.“ Wir hatten nicht das Recht, ihm zu widersprechen, niemals. Wenn wir es gewagt hätten, würde er auf der Stelle unser Haus verlassen haben.
A.L.A. Einfach so?
G.S. Ja, und darum habe ich nichts zu ihm gesagt. Das ist eine Spekulation. Wir besitzen keinen Beweis, dass es sich so verhält. Aber er war mit seiner Theorie zufrieden, die nach seiner Meinung die Frage beantwortete. Im Übrigen war er großartig. Er kam zur Tür und erklärte mir, noch bevor er mir guten Tag sagte: „George, weißt du, warum deine Bücher so mittelmäßig sind?“ Ich antwortete: „Nein, Arthur, aber du wirst es mir sagen.“ – „Ja: weil du nie im Gefängnis gewesen bist.“ Und er entwickelte auf brillante Art die Vorstellung, dass man nicht ernsthaft gelebt habe, wenn man im 20. Jahrhundert nicht im Gefängnis gewesen sei. Er kannte das Gefängnis gut – was für ein Buch ist Ein Spanisches Testament! -, und das ermöglichte ihm, Sonnenfinsternis zu schreiben, das die Geschichte verändert hat. Meine Antwort: „Aber, was wollt Ihr, lieber Meister, mit Euch zusammen zu sein ist ein Privileg der Menschlichkeit und Toleranz.“ Die großen Schriftsteller sind überall so, glauben Sie mir.
A.L.A. Was wollen Sie damit sagen? Wie sind sie?
G.S. Böse, jähzornig, arrogant.
A.L.A. Glauben Sie wirklich daran?
G.S. Ja, und wie! Sehen Sie sich Gide an!
A.L.A. Ich wusste nicht, dass Koestler so war.
G.S. Aber er war so, und das hat ihm wohl die Kraft zum Überleben gegeben. Ich verzeihe ihm alles, außer dass er am Morgen seines Selbstmords, als er seine junge Frau zwang, sich zusammen mit ihm umzubringen, zum Tierarzt gegangen war – er hatte zwei prächtige Hunde – und ihm gesagt hatte: „Gib ihnen irgendeine Spritze, töte sie.“ Und der Tierarzt hat gesagt: „Nein, ich behalte sie.“ Koestler hingegen bestand darauf, dass die zwei Hunde getötet wurden, bevor er sich das Leben nahm. Er wollte nicht, dass sie ihn überlebten.
A.L.A. Wie die Männer des Altertums, die sich zusammen mit ihren Pferden töteten.
G.S. Den Pferden, den Hunden, den Frauen, den Sklaven, den Verlegern ...
A.L.A. [Lacht.] Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Verlegern?
G.S. Sehr, sehr gut mit Gallimard. Sehr gut mit New Directions. Ich halte enge Freundschaft mit meinem Verleger bei Suhrkamp, einem wunderbaren Mann. Ebenfalls bin ich freundschaftlich mit Garzanti verbunden. Ich bin bei Siruela in Madrid ...
A.L.A. Ich war auch mehrere Jahre bei Siruela.
G.S. ... ich habe mich auch schon mit meinen portugiesischen Verlegern getroffen. Es gibt große Unterschiede, aber alle verlieren Geld mit mir.
A.L.A. Das glaube ich nicht. Auch, weil Sie ein berühmter Name sind.
G.S. Ich habe ein kleines Pamphlet mit dem Titel Ten (Possible) Reasons for the Sadness of Thought („Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe“) geschrieben. Davon wurden fünfundvierzigtausend Exemplare in Deutschland verkauft, weil es ein sehr deutsches Buch ist, es ist beinahe auf Deutsch gedacht, denn es ging von der deutschen Philosophie aus. Jetzt habe ich ein neues Buch, das am 10. November herauskommen soll. Wir werden sehen, was geschieht.
A.L.A. In Deutschland?
G.S. Nein, in Deutschland kommt es später heraus. Es wird als englisch-amerikanische und als französische Ausgabe am 10. November in New York und Paris herauskommen. Auf Spanisch soll es später erscheinen.
A.L.A. Was dies betrifft, so denke ich wie Graham Greene, der in seinem Tagebuch fragte: „Wie kann jemand, der nicht schreibt, mit der Absurdität des Alltäglichen leben?“ Ob man leben kann, ohne zu schreiben?
G.S. Wenn ich wieder lehren könnte, wenn ich meine Studenten in diesem Raum hätte, ja. Vor kurzem hat man ein Bild von mir in der Londoner Universität aufgehängt, ein Bild, das auf meinen Wunsch den Namen Il Postino erhalten hat. Kennen Sie den Film über Neruda, Il Postino [Der Postmann]? Er beschreibt ganz genau mein Wesen. Ich bin der Postino: Ich bringe die Briefe der großen Schriftsteller, und man muss sie in die richtigen Briefkästen werfen. Das ist nicht immer leicht. Wenn man den neuen Studenten der Londoner Universität erklärt, warum es ein Bild dieses Herrn gibt, finden sie alle, dass Il Postino mein Name ist. Dazu sage ich: „Erklären Sie es nicht, lassen Sie uns so denken.“ Das ist ein großes Privileg, dessen Krönung in eurer Anwesenheit hier besteht. Es ist wunderbar, Briefe austragen zu können! Ich war kein Bankier, ich habe keine Pelzmäntel verkauft. Von allen möglichen Missgeschicken hat es mich getroffen, Postino zu werden. Das bedeutet es, Professor zu sein. Ein guter Professor macht anderen Bücher zugänglich, ermöglicht anderen glückliche Momente. Ich hatte sehr hochbegabte Studenten. Das war ein großes Privileg: zu wissen, dass sie begabter als ich selbst sind.
A.L.A. Gerade das hat mein Vater gesagt. Ich habe nie ganz genau verstanden, warum er sich leidenschaftlich für die Lehre begeisterte. Das war für ihn eine große Leidenschaft.
G.S. Auch für mich.
A.L.A. Er verwirklichte sich selbst in seinen Vorlesungen an der Medizinischen Fakultät. Für ihn war das eine außerordentlich große Freude. Und nach seiner Emeritierung unterrichtete er seine Enkel. Ich erinnere mich, als ich sieben Jahre alt war, haben wir eine Busreise nach Paris gemacht. Wir sind nach Spanien und Frankreich, in die Schweiz und nach Italien gefahren, und ich erinnere mich noch an seinen halbstündigen Vortrag vor einem Tintoretto, über die Perspektiven der Sterne bei Tintoretto, vor einem Rembrandt, und für mich, ein Kind, war das sehr langweilig.
G.S. Aber das haben Sie nie wieder vergessen.
A.L.A. Nein.
G.S. So ist das. Also war er ein guter Professor. Gestatten Sie mir eine letzte Frage: Was ist Ihr nächstes Buch?
A.L.A. Das weiß ich nicht. Vor kurzem habe ich ein Buch abgeschlossen, und ich weiß nie, ob es ein nächstes gibt. Das ist meine große Angst: Werde ich noch in der Lage sein, ein weiteres zu schreiben? Ob es mir gelingt, es zu beenden?
G.S. Aber ist es ein Roman?
A.L.A. Ich weiß nicht, ob es ein Roman ist. Das Problem der Literaturgattungen kommt mir immer mehr wie eine willkürliche Frage vor. Was sind Lyrik, Roman, Erzählung? Vorhin haben Sie von Tschechow gesprochen. Am meisten überrascht mich bei ihm, wie es ihm gelingt, mit fast nichts eine ganze Welt zu gestalten: „Ich friere.“ „Morgen wird es regnen.“ „Es gibt Blumen in ...“ Und mit solchen Äußerungen, mit diesen kleinen Nichtigkeiten kann er alles sagen.
G.S. Am Ende von Platons Gastmahl beweist Sokrates, dass der große Komödiendichter, der Komiker, und der große Tragödiendichter gleich sind. Doch wie Sie ja wissen, waren alle betrunken, und Platon hält nicht an dem Beweis fest. Das ist nach meiner Ansicht genial. Tschechow ist der Beweis. Nichts ist zugleich heiterer und trauriger als alles bei Tschechow. Die traurige Heiterkeit, die heitere Traurigkeit. Das ist wunderbar, wie das Ende von Mozarts Hochzeit des Figaro.
A.L.A. Und seine außerordentliche Güte, seine außerordentliche Güte.
G.S. Auch wegen all dem Leid ...
A.L.A. Ja.
G.S. Tschechow stirbt sehr jung.
A.L.A. Mit 44 Jahren. Auch er ist von einer körperlichen Schönheit ...
G.S. Ja, die Augen ... Wissen Sie, wenigstens zehnmal am Tag frage ich mich: „Wie konnten wir es zulassen, dass Schubert in Vergessenheit geriet?“
A.L.A. Starb er mit 30 Jahren ...? Mit neunundzwanzig!
G.S. Mit neunundzwanzig Jahren. Und in seinem letzten Lebensjahr hat er mehr als hundert große Werke komponiert. Mehr als hundert ...
A.L.A. Ja, aber jetzt, als ich das sagte, habe ich mich an einen Satz Saint-Exupérys erinnert: „In jedem dieser Menschen steckt etwas von einem ermordeten Mozart.“
G.S. Nun, gestatten Sie, dass ich Ihnen von ganzem Herzen danke.
A.L.A. Ich habe zu danken. Das war für mich sehr, sehr bewegend. So etwas tut man sonst nicht mehr.
G.S. Jetzt möchte ich betonen, dass wir Wein anzubieten haben. Trinken Sie ein Glas Wein?
A.L.A. Nur ein bisschen.
G.S. Roten oder weißen?
A.L.A. Weißen.

© 2011 TAP. Aus dem Portugiesischen von Ulrich Kunzmann

Der Archipel der Schlaflosigkeit

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