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Bonn, 1974: eine Frau zwischen den politischen Fronten und ein geheimer Auftrag, der alles verändern könnte ...

Schauplätze der Handlung in Bonn

© minkmar

Leseprobe "Die Diplomatenallee"

Teil 1


5. Februar 1974 bis 8. März 1974

Das Taxi kam gegen Mittag. Ein schwerer Mercedes, wie üblich in dieser Gegend, aber Heike spürte sofort, dass etwas anders war als sonst. Der Wagen parkte nicht vor dem Eingang des Schreibwarenladens, sondern rollte am Schaufenster vorbei. Fuhr auffallend langsam und so dicht vor der Scheibe, dass sie, die gerade am Kassentresen stand, das Streusalz draußen knirschen hörte.
Behutsam legte sie den Füllfederhalter zur Seite, einen P476 in Schwarz. Der Mercedes hielt drüben an der Straßenecke. Die Bremslichter glühten. Das Wageninnere war nicht zu erkennen, weil die Heckscheibe spiegelte. Warum stieg denn niemand aus? Sah man etwa zu Heike herüber?
Sie duckte sich hinter den Postkartenständer. Zwischen den Fächern konnte sie hervorragend nach draußen spähen. Vielleicht war einer der Minister gekommen und kontrollierte, ob Kunden im Laden waren, und falls ja, zu welcher Partei sie gehörten. Ab und zu gab es Befindlichkeiten – aber echte Probleme? Nein, nicht bei Schreibwaren Holländer.
Heike wartete und hörte sich atmen. Sie verabscheu­te das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Nicht zu wissen, was als Nächstes geschah.
Das Taxi stand still. Der Auspuff qualmte nicht mehr, der Motor war ausgestellt worden. Die Türen blieben immer noch geschlossen.
Einmal, vor zwei oder drei Wochen, war ein Radfahrer ähnlich seltsam am Schaufenster vorbeigerollt. Ein Abgeordneter, hatte Heike damals gedacht, oder ein Mitarbeiter des Kanzlers, der vor Dienstantritt die Zeitungen überflog, die in der Auslage aufgefächert waren. An jenem Tag hatte sie sich jedenfalls keine Sorgen gemacht.
Bild, FAZ, General-Anzeiger Bonn, Bayerische Staatszeitung, es gab bei Schreibwaren Holländer alles zu lesen. So klein der Laden war, so gut wussten Peter und Heike, was sie der Nähe zum Bundestag schuldig waren. Ihre Regale quollen über. Wer, wenn nicht sie, hielt so viel auf Vorrat? Mappen, Ordner, Umschläge und Papier in Sorten. Büttenpapier, auch teure Varianten, Fabriano, Arches, wildgerippt, die Politik hatte Wünsche. In den Schubladen lagen Tintenroller aus Fernost, Crayons aus Frankreich, Härtegrade B bis H, und in dem Karton auf dem Boden steckten Bänder für Schreibmaschinen, Spulen in jedweder Ausfertigung. Schwarz, blau, rot für Protokolle, Entwürfe, Vertrauliches. Doppelspur für Korrektur.
Ganz oben im Regal neben der Kasse, diskret hinter einem Stapel Bütten, lagerte der gute Cognac. Eine zweite, geöffnete Flasche stand unter dem Tresen bereit, denn es wurde nicht sel-ten nach einem Schluck gefragt, selbst von Leuten, von denen man es nicht unbedingt dachte.
Bloß wenn ein Taxi vorfuhr, aus dem ums Verrecken niemand aussteigen wollte: Wie verhielt man sich dann?
Brüsk schob Heike den Postkartenständer zur Seite. Die Situation hatte möglicherweise gar nichts mit ihr oder dem Laden zu tun.
Bloß war heute alles so zäh. Der Februardienstag hing trüb über der Straße, auch an den Häusern ringsum bewegte sich nichts. Kein Fußgänger, kein weiteres Auto kam vorbei. Mit-tagszeit in Bonn. Im Taxi, auf Fahrer- und Beifahrersitz, aß man wahrscheinlich Leberwurstbrötchen.
Was die Kinder wohl gerade machten? Und ob Peter bald in den Laden zurückkehren würde? Heike vertrat ihn gerne am Kassentresen, aber sie sollten die Termine, zu denen sie einspringen durfte, doch einmal ändern. Seit Jahren fuhr Peter dienstags für zweieinhalb Stunden in den Großhandel, allerdings immer nur um diese Uhrzeit, in der im Geschäft kaum etwas los war.
Das Taxi stand. Und stand. Mehr nicht. Und Heike fing schon wieder an, sich beobachtet zu fühlen.
Oder braute sich in dem Wagen etwas anderes zusammen? Etwas Politisches, eine Störaktion von Linksradikalen? Von Baader-Meinhof etwa? Die Straße rechts hoch ging es zum Kanzlerbungalow und zum Bundeshaus. Links zum Auswärtigen Amt.
Wieder benutzte sie den Postkartenständer, um nach draußen zu spähen, diesmal noch tiefer geduckt. Und da, ein Licht! Im Innenraum des Taxis brannte mit einem Mal eine Lampe, und Heike erkannte die Hinterköpfe zweier Personen. Fahrer und Beifahrer. Männer? Beide gestikulierten, unterhielten sich also. Etwas glomm auf der Beifahrerseite auf, ein Feuerzeug, bestimmt für eine Zigarette, dann erlosch die Innenraumlampe wieder. Das Glimmen auch.
Aber jetzt sollte es wirklich genug sein! Heike hatte zu arbeiten. Sie holte einen der Warenkartons aus dem Hinterzimmer und packte ihn aus. Die neuen Postkarten rochen nach Chemie. Bonn, das Regierungsviertel von oben und Bundeskanzler Brandt. Der Rhein und wie immer sehr viel Loreley. Sie sortierte die Kar-ten in die einzelnen Fächer und kehrte dem Schaufenster dabei den Rücken zu.
War denn gestern etwas über Baader-Meinhof in der Tagesschau gewesen? Ganz sicher hatte Peter am Abend den Fernseher angeschaltet, er konnte jetzt Farbe. Und, na also, Heike erinnerte sich doch: Sie hatte auf dem Sofa gelegen, während Peter am Apparat beschäftigt gewesen war, allerdings hatte sie mit dem Gong der Nachrichten nicht mehr richtig zugehört, sondern nur nach nebenan gelauscht, ob die Kinder schon schliefen. Anne war wie immer still geblieben, sie kam ja bald schon in die Schule, und Michael schlief mit seinen anderthalb Jahren noch immer so fest wie als Baby. Nur, Terroristen? War von denen im Fernsehen die Rede gewesen?
Mit Absicht hatte Peter keine Fahndungsplakate ins Geschäft gehängt. Die schwarz-weißen Fotos sahen schrecklich aus, und ohnehin gehörte es zum Konzept des Ladens, den Politikern beim Einkaufen eine Verschnaufpause von ihren Problemen zu gönnen – oder zumindest so zurückhaltend zu sein, dass jeder Kunde selbst bestimmen konnte, was ihn belastete und was nicht. Dieses Vorgehen kannte Heike noch von früher, denn als ihr Vater an der Kasse gethront und der Laden Schreibwaren Berger geheißen hatte, war Politik bereits ein heikles Thema gewesen. Der Vater hatte jeder Kundin die Tür aufgehalten, auch wenn sie nicht von der CDU gekommen war, aber der SPD hatte er gezielt Gemeinheiten untergejubelt. Ende der Vierziger, vor der ersten Bundestagswahl, hatte Schreibwaren Berger dem SPD-Büro Schumacher einen Waterman-Füller beschaffen sollen, das historische Modell, und unmittelbar vor der Auslieferung hatte der Vater auf die gläsernen Tintenpatronen gerotzt. Heike hatte es selbst gesehen, weil sie auf ihrem Kinderplatz unter dem Tresen gehockt hatte und … Warum dachte sie denn schon wieder daran?
Unwirsch zwängte sie die restlichen Postkarten in die Fächer. Drei verschiedene Motive Willy Brandt. Es wurde wirklich zu eng in diesem Laden.
Und das Taxi stand immer noch am Fleck. Still, mit geschlossenen Türen. Wohingegen sich die Umgebung merklich verschoben hatte: Der Himmel war dunkler geworden, es schien inzwischen auch windig zu sein. Eine Plastiktüte rutschte über die Straße, und dann klatschte plötzlich heftiger Regen gegen das Schaufenster. Also nein. Jetzt würde wirklich niemand mehr aus diesem Auto aussteigen!
Verdrossen knipste sie die Neonröhren an und schlug das Kassenbuch auf. Ein paar Notizen, gern einmal mit dem Stenofüller, warum nicht. Ohne Griffprofil und mit der gewöhnlichen Tinte ging es flott voran. Selten gab es Zahlenkolonnen, meistens summierte Heike im Kopf.
Aber der Füller warf scharfe Schatten auf das Papier, und als sie hochblickte, fiel ihr auf, dass sie in dem Neonlicht wie auf einem Präsentierteller stand. Wer auch immer sich draußen im Taxi versteckte, konnte ganz bequem jede einzelne ihrer Bewegungen hier drinnen am Kassentresen verfolgen.
Ihre Schultern verkrampften sich. Und was war das? Da schlug doch eine Autotür? Ja! Und ach, jetzt rannte jemand über den Gehweg! Im Affekt zog Heike das Telefon näher zu sich heran. Eine große Gestalt stürmte auf den Laden zu, durch das matschige Streusalz, es war ein breiter Mann im Parka, mit wehendem Schal, und … Heikes Herz setzte aus. Es war Professor Buttermann!
Er riss die Tür auf und sprang ins Trockene, die Ladenglocke schepperte wüst. Heike hielt den Telefonhörer mit beiden Händen umklammert, aber wozu, sie wusste gar keine Nummer zu wählen. Was machte der Professor hier?
»Hallöchen!«, sagte er und wischte sich mit bloßen Fingern die Tropfen von der Brille. Die langen grauen Haare trieften, der Schnurrbart glänzte. »Wollen Sie Ihren alten Professor nicht begrüßen?«
Seine Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum. Sie waren senfgelb.
»Darf ich Ihnen ein kleines Handtuch …«, sagte Heike und hörte ihr eigenes Entsetzen. »Oder ein Taschentuch vielleicht?«
Er starrte sie an, diese Augen, sie ließ den Hörer fallen, um ins Hinterzimmer zu stürzen, doch da winkte er schon ab: »Nicht nötig. Und ich freue mich.«
»Ich mich auch«, erwiderte sie automatisch und verfolgte verstört, wie er sich im Laden umsah. Er musste wieder verschwinden. Das war ihm doch klar?
»Sie sind mit dem Taxi gekommen?«, fragte sie, die Stimme kaum unter Kontrolle. »Und Sie sind nicht gleich ausgestiegen?«
»Tja, nach all den Jahren …«
Er blies in seine hohle Faust, offenbar um eine feuchte Zigarette zu beleben, und es würgte sie. Auch als er die Arme ausbreitete und ihm der Parka bis zu den Hüften hochrutschte, Nietengürtel, Jeans, war es fast wie früher. Er kam näher, immer näher, und sie wusste natürlich, dass er es nur antäuschte und sie am Ende nicht umarmen würde, trotzdem wich sie zurück. Er lächelte daraufhin und wickelte sich den Strickschal vom Hals, wie um ihr vorzuführen, dass er, der Berühmte, der Leiter des Instituts für Graphologie, durch nichts zu erschüttern war.
Aber er ist älter geworden, dachte Heike. Um zehn Jahre älter, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Nur … was war dann wohl mit ihr?
»Wo ist denn der Aschenbecher?«, rief sie und suchte zum Schein die Regale ab. Wie sie sich bewegte, kam ihr mit einem Mal ungelenk vor, und bestimmt wirkte sie spießig mit dem knielangen Rock, der weißen Bluse und dem streng zurückgebundenen Haar.
Doch sollte der Professor sich bloß hüten, eine Bemerkung zu machen! Und sollte sie sich bitte nicht einschüchtern lassen! Wie hatte sie sich denn zu fühlen, wenn sie ihn so plötzlich wiedertreffen musste, oder nein: wenn sie von ihm regelrecht heimgesucht wurde! Sie hatte mit keinem Wiedersehen mehr gerechnet. Nicht auf diese Weise und auf keinen Fall hier. Sondern beim Einkaufen vielleicht, irgendwann in all den Jahren, oder zufällig am Rhein. In Bonn lief man sich immer über den Weg, ob man wollte oder nicht. Trotzdem war es bei ihnen beiden nie passiert, und Heike hatte sich eingebildet, dass Erik Buttermann sie ganz bewusst mied, weil er nämlich nicht mitansehen wollte, was aus ihr geworden war. Weil er doch alles angerichtet hatte!
Immer noch lächelnd, öffnete der Professor den nassen Parka. Ein geblümtes Hemd kam zum Vorschein, der Kragen stand zu weit offen.
»Respekt«, sagte er und deutete auf die Vitrine mit den Füllfederhaltern. »Im Vergleich zu Ihrem Vater haben Sie das Sortiment anständig erweitert, Fräulein Berger.«
»Frau Holländer, bitte. Das wissen Sie doch.«
»Natürlich! Heike Holländer! Entschuldigung, das sollte mir peinlich sein.«
Bestimmt wollte er sie beleidigen. Und sie sollte sich wehren und ihn wegschicken, aber dann würde er natürlich nicht gehorchen, sondern umso exaltierter aus sich herausgehen und herumpoltern und dabei triumphieren, weil sie immer noch machtlos gegen ihn war. Wie konnte sie ihn loswerden? Erst recht, wenn andere Kunden hereinkommen würden: Was würden sie über Heike denken?
Möglichst kühl, aber leider auch zitternd, reichte sie dem Professor den Aschenbecher, einen Blumentopfuntersetzer aus Ton. »Sind Sie denn immer noch an der Universität?«, fragte sie.
»Wo sonst?« Er drückte den Stummel in den aufgestreuten Sand. »Unser Institut ist … Na, Sie haben sich doch bestimmt einmal nach mir erkundigt?« Er neigte den Kopf zur Seite, ein alter Trick, mit dem er früher schon die Studenten aus dem Konzept hatte bringen wollen. Heike sah weg und zog sich hinter den Kassentresen zurück.
»Was kann ich eigentlich für Sie tun, Herr Professor?«
»Am Institut steigt endlich mal wieder eine Fete. Fünfundzwanzig Jahre Graphologie in Bonn! Ist es zu fassen?«
»Und dafür brauchen Sie …«
»Nein! Ich will nichts kaufen, sondern möchte Sie persönlich einladen.«
Ungläubig lachte sie auf. Sie musste sich wohl verhört haben.
Auch der Professor lachte: »Sie denken doch nicht, ich hätte Sie vergessen? Meine Studenten lernen Ihre Aufsätze von damals immer noch auswendig.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Sie sammelte sich. »Ich werde das Institut nie wieder betreten, Herr Professor Buttermann!«
»Natürlich, mit dieser Antwort habe ich gerechnet.« Er wurde ernster. »Sie geben aber wohl zu, dass ein Jubiläum eine Spitzenveranstaltung ist. Oder? Und dass meine Einladung als Ehre verstanden werden darf. Andere Leute würden sich dafür ein Bein ausreißen, nicht nur in der Graphologenszene.«
»Was Sie verlangen, ist …«
»Herrje! Ich verlange doch nichts.« Mit beiden Händen packte er den Rand des Kassentresens. »Und jetzt mal ehrlich: Sie haben längst Frieden geschlossen? Mit damals? Mit Ihrem Leben?«
Wie dreist von ihm. Nach allem! Heikes Hals spannte sich an. Ihr lag so viel auf der Zunge, aber sie durfte diesen Fehler nicht machen, durfte auf keinen Fall mit ihm über damals diskutieren.
»Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, Herr Professor. Es kommt für mich nicht infrage.«
»Ich wette, Sie werden zumindest darüber nachdenken. Denn das haben Sie doch hoffentlich gelernt: dass eine verbiesterte Haltung ein Bumerang ist?«
Wieso hatte sie nicht aufgepasst, sondern sich zwischen Wand und Kassentresen eingekeilt? Wenn sie sich befreien, wenn sie das Hinterzimmer des Ladens erreichen wollte, müsste sie um Buttermann herumgehen, zu dicht an ihm vorbei – und außerdem: Was wäre dann mit dem Kassenbuch, das immer noch offen herumlag? Mit der blauen Tinte, mit ihrer Handschrift, ja, was wäre, wenn der Professor ihre Schrift in Augenschein nähme? Wie teigig ihre Buchstaben in den vergangenen zehn Jahren geworden waren. Klein im Mittelband und unverbunden. Alles! Er würde alles daraus lesen.
Buttermann beugte sich vor: »Sie haben sich damals viel zu viel Schuld gegeben, Heike.«
»Und Sie? Sie haben mich fallen lassen, als hätten Sie mit nichts etwas zu tun gehabt!«
Er zuckte zusammen, aber wohl nur, weil sie laut geworden war, nicht weil er etwas bereute.
»Na, na«, sagte er. »Sie benehmen sich, als hätten wir beide …«
»Schluss!«
Mit einem Knall schlug sie das Kassenbuch zu und stopfte es unter den Tresen. Die Cognacflasche kippelte. Ein Heft zum Ausmalen fiel aus dem Fach, Krakeleien der Kinder, ihrer beiden kleinen Kinder, die sie gleich wieder küssen würde, sie sehnte sich danach. Sehnte sich auch nach Peter, wie er die Krawatte abnehmen und sich ein Stück Schokolade in den Mund schieben würde wie immer.
Buttermann seufzte und fuhr mit den Fingerspitzen über den Tresen. »Der Schreibvorgang als Bewegung. Vom Ich zum Du. Wissen Sie noch?«
Am besten hielt sie einfach still. Der Professor roch nach Nikotin und Essen aus der Mensa, und noch etwas anderes lag darunter, eine aufdringlich herbe und holzige Note wie von Bleistiftspiralen in einer Anspitzerdose.
»Wie alt sind Sie jetzt, Heike? Mitte dreißig? Sie haben noch eine Menge vor sich.«
»Ich habe alles, was ich brauche.«
Und das stimmte, das wusste sie, sie hatte oft darüber nachgedacht. Die Familie, der Haushalt, der ganze unauffällige Alltag. Und da klackerte es am Schaufenster, wie schön und passend, jetzt kam endlich Kundschaft. Herr und Frau Westerhoff traten ein, Heike würde sich als Geschäftsfrau beweisen.
»Willkommen!«, rief sie und marschierte hoch erhobenen Hauptes an Buttermann vorbei.
Herr Westerhoff war überrascht: »Sind wir schon dran?«
Sie antwortete leichthin: »Gern, wenn Sie mögen.«
»Dann Briefumschläge, zehn Stück bitte, holzfrei. Haben Sie etwas zur Auswahl?«
»Einen Moment.«
Sie beeilte sich, die richtigen Fächer zu finden, während Herr Westerhoff den Regenschirm ausschüttelte und seine Frau den Professor mit unverhohlener Neugier musterte.
»Gummiert oder mit Haftstreifen?«, rief Heike. »Mit Fenster oder ohne?« Sie legte so viele Umschlagmodelle auf dem Tresen aus, dass Buttermann zur Seite rücken musste.
Frau Westerhoff tippte auf die gummierte Variante. »Ein scheußliches Wetter«, sagte sie und beäugte die senfgelben Turnschuhe des Professors. Ihm schien es egal zu sein.
Herr Westerhoff suchte Heikes Aufmerksamkeit: »Wir sind im Bus von der Polizei kontrolliert worden, Frau Holländer. Haben Sie gestern die Tagesschau gesehen? Baader-Meinhof sitzt inzwischen überall. Jede ganz normale Mietwohnung kann eine Terrorzelle sein.«
»Aber doch nicht in Bonn«, antwortete Heike und zählte mit fliegenden Fingern zehn Umschläge ab.
»Nein, Bonn ist noch schlimmer«, sagte Herr Westerhoff. »Wir holen uns jetzt sogar die DDR in die Stadt. Der Herr Bun-deskanzler trägt seine riesigen Scheuklappen, aber wir haben bald die Stasi im Vorgarten stehen.«
Heike wollte beflissen klingen: »Soweit ich weiß, handelt es sich um Diplomaten, die nach Bonn kommen. Keine Sorge, Herr Westerhoff.«
»Die DDR hat Diplomaten?« Er wirkte verärgert. »Das wüsste ich aber!«

Hier können Sie mehr zu den Hintergründen der Bonner Diplomatenallee erfahren.

Eine mutige Frau zwischen den Fronten
Annette Wieners
© Bettina Fürst-Fastré

Annette Wieners ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie wurde in Paderborn geboren. Nach Stationen in Münster, München und Hannover lebt sie seit vielen Jahren in Köln.

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