So entstand Edwards Geschichte
Die Recherche der Autorin
Ich hätte nie gedacht, dass ich einen Roman über einen Flugzeugabsturz schreiben würde. Ich bin eine nervöse Passagierin und habe mich als Autorin lieber Familiendramen gewidmet als Katastrophenszenarien zu schildern. Aber 2010 erfuhr ich von einer Geschichte über einen neunjährigen Jungen aus den Niederlanden, der als Einziger den Absturz des Afriqiyah-Airways-Fluges 771 überlebt hatte. Ich konnte nicht aufhören, an dieses Kind zu denken, das alles verloren hat – seine Eltern, seinen Bruder, seine ganze Welt – und das in einem einzigen, folgenschweren Moment. Meine eigenen Söhne waren damals ein und drei Jahre alt, und ich stellte mir vor, wie sie, wenn sie jemals einen solchen Verlust ertragen müssten, irgendwie weiterleben könnten. Ich wollte glauben, dass sie zur Schule gehen, neue Freunde finden und sich verlieben würden. Ich hoffte, dass der Mensch dazu fähig ist, nach einer ungeheuer schmerzhaften Tragödie einen Weg zurück ins Leben zu finden. Und so entstand Edwards Geschichte.
»Ich las echte Blackbox-Protokolle«
Erst als ich anfing zu schreiben, wurde mir klar, dass es nicht nur darum ging zu erzählen, was dem Jungen nach dem Absturz passierte, sondern es war ebenso wichtig zu erfahren, was in der Luft geschah. Die Flugreise war für Edward von wesentlicher Bedeutung, und diese Stunden am Himmel würden für ihn fortan so real bleiben wie sein neues Leben. Ich beschloss, die Szenen im Flugzeug abwechselnd neben die Kapitel über Edwards folgende Jahre zu setzen. Das bedeutete aber auch, detailliert über das Unglück selbst zu schreiben. Um die Faktoren zu verstehen, die bei einem Absturz eine Rolle spielen, sprach ich mit einem pensionierten Piloten, studierte die Berichte der Nationalen Verkehrssicherheitsbehörde und las echte Blackbox-Protokolle. Die ineinandergreifenden Mechanismen, die sich auf dem fiktiven Flug in „Der Morgen davor und das Leben danach“ ereigneten, basierten weitgehend auf einem weiteren tragischen Absturz im Jahr 2009, dem des Air-France-Fluges 447. Einige der Cockpit-Dialoge in meinem Roman stammen aus der authentischen Blackbox-Aufnahme dieses Fluges.
Meine Absicht war es, die menschliche Erfahrung eines solchen Ereignisses genau und respektvoll darzustellen, sowohl das, was im Moment geschieht, als auch das, was für die zurückgelassenen Menschen folgt. Dabei wuchs mein Mitgefühl, das ich für die Passagiere, die Besatzung und ihre Angehörigen empfand. Ich hoffe, dass sich dieses Mitgefühl in der Geschichte des fiktiven Fluges 2977 widerspiegelt.
Ich habe acht Jahre gebraucht, um diese Geschichte zu schreiben. In dieser Zeit fand ich heraus, dass das Einfühlungsvermögen der anderen wesentlich ist, um sich einen Weg durch die Trauer zu bahnen. Ich hoffe, dass die Leser*innen meines Romans ähnliche Quellen der Warmherzigkeit in ihrem eigenen Leben entdecken.
© 2019 Ann Napolitano