Interview

Lieber Herr Loimeier, Sie sind Lehrbeauftragter für afrikanische Kulturen und haben daher den Überblick über die Gegenwartsliteratur Afrikas. Haben Sie mit dieser Auszeichnung für Abdulrazak Gurnah gerechnet?
Nein, ich dachte zwar an Ostafrika und insbesondere an Ngugi wa Thiong'o, aber Abdulrazak Gurnah hatte auch ich nicht auf dem Schirm für den Nobelpreis. Mich freut das aber sehr, weil ich seine Bücher sehr sensibel und einfühlsam geschrieben finde und er immer wieder auch Bezüge zu Deutschland bietet. Und zwar nicht nur mit Blick auf die deutsche Kolonialvergangenheit, sondern beispielsweise auch auf die verschiedenen Afrika-Politiken einerseits der BRD und andererseits der DDR. Das zeigt auf, wo wir noch Einiges wahrzunehmen und uns zu vergegenwärtigen haben.

Welche Themen behandelt Gurnahs Werk, und haben sie sich im Lauf der Jahre geändert?
Es ist im Grunde ein Thema, nämlich das Thema Migration, Exil, Entfremdung, Heimkehr. Wobei Abdulrazak Gurnah sein Augenmerk darauf legt, was das in der Seele der Menschen bewirkt, denn es geht ja nicht nur um eine räumliche Migration, sondern auch eine individuell mentale, psychische Transformation. Wie groß ist beispielsweise der Schock, wenn ein Emigrant, der nach "Zuhause" zurückkehrt, begreift, dass er mit seinen Eltern nur noch wenig gemeinsam hat, die Sprache vor Ort kaum noch versteht und als Fremder betrachtet wird? Oder: Wie prägen kulturell bedingt verschiedene Strukturen das Zusammenleben von Paaren, von Menschen also, die sich lieben, aber plötzlich feststellen müssen, dass sich eine Verständniskluft auftut? Mobilität und Integration ist eben nicht nur ein äußerlicher Vorgang, sondern auch eine innere Veränderung. Unabhängig davon gibt es dann noch zwei historische Romane, "Das verlorene Paradies" und "Afterlives", in denen Gurnah sehr anschaulich die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft aufgreift, beide Bücher sind allein deshalb lesenswert.

Was verbindet sein Schreiben mit, was unterscheidet es von anderen afrikanischen Autorinnen und Autoren?
Abdulrazak Gurnah lebt ja seit 50 Jahren in England, und in der einen oder anderen afrikanischen Zeitung war daher auch zu lesen, dass er eigentlich kein afrikanischer Autor mehr sei. In der Tat war in Rezensionen seiner jüngsten Bücher bis zum Nobelpreis immer mal wieder vom "britischen Autor" Gurnah die Rede ... Aber beispielsweise die Frage des Zusammenlebens von Paaren aus verschiedenen Kulturen greift auch die US-äthiopische Schriftstellerin Maaza Mengiste auf, und das formale Vorgehen, gesellschaftliche Konflikte am Beispiel von Familien durchzuspielen, findet sich in den Romanen von Nuruddin Farah aus Somalia. Besonders kennzeichnend für Gurnah ist aber sein Blick über den Indischen Ozean und die thematische Verknüpfung der ostafrikanischen und der west-indischen Küste. Die Autorin Yvonne Adhiabo Owuor aus Kenia hat das in ihrem neuen Roman "Das Meer der Libellen" nun ebenfalls aufgegriffen.

Warum sollten deutsche Leserinnen und Leser heute unbedingt Abdulrazak Gurnah lesen?
Weil, thematisch gesehen, die Romane Abdulrazak Gurnahs zeigen, welche Anpassungsleistung Migrantinnen und Migranten erbringen. Weil, stilistisch gesehen, Abdulrazak Gurnah in einem sehr luziden, leichten, sphärischen Stil schreibt, der angenehm zu lesen ist. Und weil, inhaltlich gesehen, seine historischen Romane den Menschen in Deutschland darüber die Augen öffnen, wie präsent Deutschland in Afrika ist, während Europas Nachbar Afrika hierzulande sehr, sehr weit entfernt zu sein scheint.

Prof. Dr. Manfred Loimeier ist Lehrbeauftragter für afrikanische Kulturen an den Universitäten Heidelberg und Mannheim und hat zahlreiche Bücher zum Thema Afrika veröffentlicht. Er arbeitet zudem als Redakteur beim Mannheimer Morgen.

Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies

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Sansibar, Ende des 19. Jahrhunderts: Der zwölfjährige Yusuf führt mit seiner Familie ein einfaches Leben im ländlichen Ostafrika. Als der Vater sich mit seinem kleinen Hotel verschuldet, wird der Junge an einen Gläubiger verkauft, an »Onkel Aziz«. Von einem Tag auf den anderen landet er im lebhaften Treiben der Stadt, zwischen afrikanischen Muslimen, christlichen Missionaren und Indern vom Subkontinent. Die Gemeinschaft dieser Menschen ist alles andere als selbstverständlich und von subtilen Hierarchien bestimmt. Schon bald wird Yusuf in eine fremde Familie gegeben, muss seinen Onkel auf eine gefahrenvolle Karawane ins Landesinnere begleiten, auf der sie die Folgen der im Land schwelenden Machtkämpfe zu spüren bekommen – und verliebt sich erstmals und kopfüber. Doch gerade als der inzwischen junge Mann beginnt, in seinem Leben so etwas wie Sicherheit zu empfinden, werden er und alle um ihn herum mit der brutalen neuen Realität der deutschen Kolonialherrschaft konfrontiert.

Inhaltlich schonungslos, aber in überraschend leichtem, humorvollem Ton, erzählt Abdulrazak Gurnah in »Das verlorene Paradies« vom Erwachsenwerden in Zeiten des kolonialen Umbruchs. Im Original 1994 erschienen, stand der Roman u.a. auf der Shortlist des Booker Prize und stellte für Gurnah den Durchbruch als Schriftsteller dar. Jetzt ist er endlich wieder in der Übersetzung von Inge Leipold auf Deutsch zu lesen.

Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade

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Es ist ein später Novembernachmittag, als Saleh Omar auf dem Flughafen Gatwick landet. In einer kleinen Tasche, dem einzigen Gepäck, das der Mann aus Sansibar bei sich trägt, liegt sein wertvollster Besitz: eine Mahagonischachtel mit Weihrauch. Eben noch war Omar Inhaber eines Geschäftes, er besaß ein Haus, war Ehemann und Vater. Jetzt ist er ein Asylbewerber, und Schweigen ist sein einziger Schutz. Während Omar von einem Beamten ins Verhör genommen wird, lebt nicht weit entfernt, zurückgezogen in seiner Londoner Wohnung, Latif Mahmud. Auch er stammt aus Sansibar, hatte jedoch bei der Flucht aus seiner Heimat einst den Weg über den »sozialistischen Bruderstaat« DDR gewählt. Als Mahmud und Omar Jahre später in einem englischen Küstenort aufeinandertreffen, entrollt sich beider Vergangenheit: eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Verführung und Besessenheit, und von Menschen, die inmitten unserer wechselvollen Zeit Sicherheit und Halt suchen. Ein differenzierter Blick auf die Themen Exil und Erinnerung, so bewegend wie meisterhaft erzählt.

Im Original 2002 erschienen, wurde »Ferne Gestade« für den Booker-Preis nominiert. Jetzt liegt der Roman erstmals wieder in der Übersetzung von Thomas Brückner auf Deutsch vor, durchgesehen und mit einem erläuternden Glossar.

»Von den ersten Zeilen an weiß man, dass man sich in den Händen eines echten Schriftstellers befindet, eines Menschen, der etwas über die Welt zu sagen hat.« The Observer