Leseprobe

Es gab einmal einen Jungen, dem die ganze Welt offenstand. Er hatte alle Freiheiten, zu tun oder zu lassen, was er wollte. Es gab keinerlei Einschränkungen. Alles, was er tun musste, war, sich für eine Sache zu entscheiden und sich voll und ganz darauf zu konzentrieren. Also setzte er sich vor eine leere Leinwand und begann zu malen. Der Junge lernte schnell. Mit jedem Pinselstrich wurde er besser, die Linienführung wurde präziser und sein gestalterischer Ausdruck klarer. Schritt für Schritt erschuf der Junge sein erstes kleines Meisterwerk. Als er schließlich fertig war, trat er einen Schritt zurück, um sein Bild zu begutachten. Er lächelte zufrieden und sein kleines Herz füllte sich mit Freude und Stolz. Es war nicht zu übersehen, dass er eine besondere Gabe hatte. Er war ein Künstler, der gerade seine Berufung gefunden hatte. Der Junge spürte sofort diese magische Verbindung zwischen sich, den Farben und der Leinwand. Er fühlte wie ein Künstler, dachte wie ein Künstler, lebte wie ein Künstler. Vor einer leeren Leinwand blühte er auf, an diesem Ort stand für ihn die Zeit still. Die Malerei war sein Lebenselixier. Doch je länger er darüber nachdachte, was er in dieser Garage eigentlich tat, die sein Vater extra für ihn leergeräumt hatte, damit er dort sein kleines Atelier einrichten konnte, desto unsicherer und ängstlicher wurde er. Natürlich erkannte er seine Fähigkeiten als Maler, aber letztlich, so seine Gedanken, bewegte er nur etwas Farbe auf einer Leinwand umher.

»Soll es das gewesen sein? Soll ich so mein Leben verbringen? Es gibt diese große weite Welt da draußen mit tausenden von Möglichkeiten – und ich tunke nur einen Pinsel in einen Farbkasten?« Diese Gedanken machten den Jungen traurig, weil er plötzlich nicht mehr die Freude und den Seelenfrieden spürte, die er durch die Malerei so oft empfunden hatte, sondern nur noch an all die verlockenden Möglichkeiten dachte, die er währenddessen verpasste. Ein weiterer Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest: »Was, wenn ich mich eines Tages dazu entschließen sollte, doch etwas anderes aus meinem Leben zu machen? Dann wären all die Stunden, die ich mit dem Malen verbracht habe, ja nur verschwendete Zeit gewesen!« Von seinen ängstlichen Gedanken über eine ungewisse Zukunft völlig verunsichert blickte er ein letztes Mal auf seine Leinwand und verließ das Atelier. Zu seinem Vater sagte er nur in einem Nebensatz, dass er die Garage ab sofort wieder für seine Werkzeuge verwenden könne. Der Junge dachte weiter über seine schier unlösbare Situation und all die vielen Optionen im Leben nach, ging zur Schule und dachte noch mehr nach, machte Abitur und kam aus dem Denken gar nicht mehr heraus.

Lars Amend
© Melanie Koravitsch

5 Fragen an den Autor

Kann man sich bewusst für Liebe entscheiden?

Die Antwort ist eindeutig: Ja! Was ich auf meiner Reise gelernt habe, die ich im Buch beschreibe, ist, dass Liebe genau das ist – eine Entscheidung. Liebe ist ein Tuwort. Ich entscheide mich dazu, zu lieben, dich zu lieben, mich zu lieben, uns zu lieben. Ich schaffe einen Raum, in der die Liebe sich wieder ausbreiten kann. Ich gehe nicht weg, sondern bleibe und möchte alles von dir erfahren. All das sind aktive Entscheidungen für die Liebe.

Was sollte man tun, wenn man einfach nicht den/die Richtige/n findet?

Auch wenn es sich auf den ersten Blick merkwürdig anhört, aber man sollte nicht nach dem oder der Richtigen suchen. Das Leben ist kein Supermarkt. „Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich meinen Traumpartner? Dritte Reihe links? Danke.“ So funktioniert das nicht. Ein erster Schritt könnte sein, sein Leben wieder in Balance zu bringen, Dinge zu tun, die einem Freude machen mit Menschen, die man mag. So erschafft man eine angenehme Atmosphäre, in der sich auch andere wohl fühlen. Nicht suchen, aber mit offenen Augen durch sein Leben gehen und die Zeichen erkennen. Wenn man seinen Partner noch nicht gefunden hat, liegt das vielleicht daran, dass man an den falschen Orten gesucht und eben jene Zeichen stets übersehen hat.

Inwiefern hat Selbstliebe mit dem Finden der Liebe etwas zu tun?

Selbstliebe ist ein großes Wort, das oft benutzt wird, um einen Zustand zu beschreiben, der nur sehr schwer zu fassen ist. Was bedeutet denn Selbstliebe überhaupt? Ich finde, es reicht schon, wenn man ein Bewusstsein für sein eigenes Leben entwickelt: Ich bin hier. Das ist mein Leben. Ich darf leben, lieben, lachen. Welch Geschenk. Mal sehen, was dieses Geschenk noch für Überraschungen für mich bereithält.

Warum fällt es vielen Menschen heutzutage so schwer sich zu binden?

Im englischsprachigen Raum gibt es dafür ein Wort: FOMO – Fear Of Missing Out. Also die Angst, etwas zu verpassen. Nach dem Motto: An der nächsten Ecke könnte noch ein besserer Partner auf mich warten, der noch schöner, noch reicher, noch größer ist. Nur nicht zu viele Gefühle investieren, immer schön vage bleiben, damit der Absprung nicht zu schwer fällt. Viele Menschen suchen nach ihrer Wunschvorstellung des „perfekten Partners“ und sobald sie merken, dass dieses Idealbild nicht existiert, ziehen sie weiter. So vergeht Jahr für Jahr und irgendwann stellen sie verdutzt fest, dass alles nur eine Illusion war. Mein Tipp: Nicht auf Perfektion warten, sondern gemeinsam Liebe entstehen lassen.

Weitere Bücher von Lars Amend